Prolog

Augen auf und durch

Nie wurden mehr Pornos produziert, nie mehr Pornos ­geschaut als heute. Das beeinflusst unsere Vorstellung davon, wie Sex auszusehen, zu klingen und abzulaufen hat. Trotzdem bleibt Pornografie ein Tabu. Warum eigentlich?

Text: Georg Eckelsberger, Sahel Zarinfard; Illustration: Julius Klemm

Porno17.6.2022 

Es ist in Ordnung, wenn Sie beim Lesen dieser Ausgabe vielleicht mal rot werden – uns ist es bei der Recherche ähnlich ergangen. Etwa als eine Wissenschaftlerin im Interview von »Löchern« statt von Körperöffnungen spricht und die männliche Ejakulation als »Schwanzspritzen« bezeichnet. Oder als ein sympathischer Pornodarsteller im Kaffeehaus unvermittelt aufsteht und mit beiden Händen ein imaginäres Hinterteil in Hüfthöhe vor sich positioniert, um den Ablauf eines Drehs zu illustrieren. Aber besonders dann, wenn die Gegenfrage kam: Schaust du selbst Pornos? Was gefällt dir? Spätestens dann merkt man, dass Pornografie kein Thema wie jedes andere ist. Wer über Pornos spricht, spricht über ­Sexualität – und was ist intimer als das? Das eigene Sexleben ist privat, es geht niemanden etwas an. Gesetze schützen diesen »höchstpersönlichen Lebensbereich« in Österreich und in Deutschland besonders streng. Gleichzeitig ist Sexualität aber auch hochpolitisch. Das Verhältnis unserer Gesellschaft zu Sex ist zwiespältig: Die meisten von uns würden sich wohl als aufgeklärt beschreiben. In der Werbung, im TV oder der Popmusik sind wir unablässig mit nackten Tatsachen und erotischen Anspielungen konfrontiert. Wenn es aber darum geht, selbst offen über sexuelle Vorlieben, Praktiken oder eben Pornos zu sprechen – und wenn es Ihnen da ähnlich geht wie uns –, dann sind wir am Ende doch noch reichlich verklemmt. 

Mit der Lektüre dieses Heftes laden wir Sie ein, eine neue Perspektive auf das Thema einzunehmen: Werfen Sie mit uns einen kühlen, analytischen Blick auf die Welt der Pornografie. Sie werden nah dran sein und Menschen kennenlernen, für die es normal ist, vor der Kamera mit praktisch Fremden zu schlafen und die Videos dann millionenfach im Netz zu verbreiten. Sie werden erfahren, welche Tricks dabei zur Anwendung kommen, um Dinge größer, länger oder spektakulärer darzustellen – und wie uns allen damit letztlich unrealistische Ideale vermittelt werden, die wir, ob bewusst oder unbewusst, im eigenen Schlafzimmer versuchen zu imitieren.

Wer sich Pornos anschaut, vergisst mitunter darauf, dass er oder sie professionellen Darsteller·innen bei der Arbeit zusieht, die zwar »wirklich« Sex miteinander haben; die Szenen aber wie in anderen Filmen auch inszeniert sind: das Setting, das Licht, der Ton – alles folgt einem Skript. Für die Darsteller·innen ist Sex vor der Kamera kein Hobby, sondern teils prekärer Arbeitsalltag. Sie werden mit dieser Ausgabe hinter die Kulissen der großen Pornoproduktionen blicken, uns undercover dorthin begleiten, wo sich die Größen der Industrie treffen, um ihre Deals abzuschließen. Und Sie werden mit uns die kniffligen politischen Fragen verhandeln, an denen sich die feministische Theorie seit Jahrzehnten abarbeitet – die Kontroverse um die Stellung der Frau in der Pornografie.

Umkämpfte Frauenbilder

In den 1970er-Jahren zielte die Frauenrechts­bewegung mit dem Slogan »Das Private ist politisch« schon darauf ab, Themen, die hinter der Schlafzimmertür verborgen waren, in den öffentlichen Diskurs zu heben: beispielsweise Geschlechterrollen innerhalb von Beziehungen oder die vermeintlich stetig zu sexuellen Diensten verfügbare Frau. Viel hat sich seither verändert, viel verbessert. Nach wie vor gibt es einiges an Luft nach oben, nicht nur bei der Gleichstellung von Mann und Frau. Wenn es um Pornografie geht, scheiden sich unter Feminist·innen damals wie heute die Geister: Sind Pornos eine Form der Gewalt gegen Frauen oder doch Ausdruck weiblicher Selbst­bestimmung und sexueller Unabhängigkeit?  Diese Debatte brach in den 1980er-Jahren in den USA los und ging unter dem Begriff »Feminist Sex Wars« in die Geschichte ein. Zwei Lager von Aktivist·innen stehen sich seither gegenüber: eine konservativere Gruppe, für die Pornografie grundsätzlich frauenverachtend ist, und eine zensurkritische, die für eine Neubewertung des Genres plädiert. Daran wird deutlich, wie facettenreich die Diskurse sind, die Pornografie entfacht. Die feministische Theorie arbeitet sich daran ab: Welche Stellung kommt der Frau in der Pornografie zu? Welches Frauenbild wird dem Publikum über Pornos vermittelt? Darf das sein, soll das sein?

Vom Separee aufs Smartphone

Befasst man sich mit Pornos, kommt man rasch vom Kleinen ins Große. Dann geht es nicht nur um Geschlechterrollen. Man kommt auch an anderen grundsätzlichen juristischen Fragen nicht vorbei. Berühmt wurde der Verleger Larry Flynt auch deswegen, weil er das Erscheinen seines Pornomagazins Hustler vor US-amerikanischen Gerichten vehement mit dem Recht auf Meinungsfreiheit verteidigte. Immer wieder gab und gibt es selbst in aufgeklärten, demokratischen Staaten Vorstöße, Pornos gänzlich zu verbieten – und dann kam auch noch das Internet! Alles wurde komplizierter, und auch wieder nicht.

Das Internet stößt das Tor zur Pornowelt weiter auf als je zuvor. Plötzlich musste man sich nicht mehr durch blickdichte Vorhänge in Separees von Videotheken schleichen, um sich VHS-Videokassetten mit explizitem Inhalt auszusuchen. Wer heute ein Smartphone besitzt, wer eine Internetverbindung hat, hat in den meisten Ländern der Erde Zugang zu einer schier grenzenlosen Welt der Pornografie. Kein Wunder, dass in den Debatten etliche neue Facetten hinzukamen: Fragen zur Privatsphäre, zum Datenschutz, zur Freiheit des Internets an sich – und natürlich zum Jugendschutz.

Der Schutz Minderjähriger vor expliziten Bildern wird gerne von religiös motivierten Gruppen und strikten Pornografiegegner·innen vorgebracht. Aber nicht, um tatsächlich effektive Maßnahmen zu diskutieren, sondern um das eigentliche Ziel einer massiven Einschränkung von pornografischen Inhalten durchzusetzen. Es ist Tatsache, dass es für Kinder und Jugendliche heute einfacher ist, Pornos zu schauen, als für die Generationen davor. Doch die wesentlichen Fragen werden bei dieser Auseinandersetzung außen vor gelassen: Sprechen Eltern und Pädagog·innen ausreichend mit ihnen über die teils inszenierten Bilder von Sex, oder werden Minderjährige damit eher alleingelassen? Und wie kann man sie in ihrer Entwicklung bestmöglich fördern, statt die sexuelle Aufklärung dem Internet zu überlassen?

Mangelwaren: Forschung, Daten, Transparenz

»Es ist eine Debatte, die häufig moralische Werturteile als Tatsachen verpackt. Die Äußerungen trifft, die eigentlich Annahmen sind, aber wie Fakten wirken. Es ist auch eine sehr emotionalisierte Debatte, die oft mit Kindern argumentiert wird, die wir schützen, oder mit Frauen, die wir retten müssen«, sagt die deutsche Kulturwissenschaftlerin Madita Oeming, die seit Jahren zu Pornos forscht. Pornografie sei ein vernachlässigtes Randthema. »Das steht in absoluter Diskrepanz dazu, wie massiv der Konsum gestiegen ist und wie sehr es Teil der Alltagskultur geworden ist – vor allem die Tube-Sites. Daran sieht man die große Lücke in den politischen Diskussionen, aber auch in öffentlichen Diskursen zwischen der Masse an Konsum und dem Fehlen an Debatten«, sagt Oeming.

Obwohl das Internet voll mit Pornografie ist, ist das Thema in der Wissenschaft unterbelichtet. Das Fach Porn-Studies existiert nur an wenigen Universitäten. Meist ist die Pornografieforschung in themenverwandte Fachrichtungen wie Gender-Studies oder Theater-, Film- und Medienwissenschaften eingegliedert und hat keine eigenen finanziellen Mittel. Folglich gibt es wenige verlässliche Daten – im Gegensatz zu jeder Menge Zahlen, die durch das Netz geistern: So sollen etwa jede Sekunde 3.000 US-Dollar für Internetpornografie ausgegeben werden. 4,2 Millionen Websites, zwölf Prozent aller Seiten im Netz, sollen pornografische sein. 42,7 ­Prozent aller Internet-User·innen sollen Pornos schauen. Sieht man genauer hin, stellt man fest: Die Daten sind nicht nachvollziehbar oder stammen von der Industrie selbst und lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Immer wieder Österreich

Die Dimension des Themas wurde uns erstmals bewusst, als vor ungefähr einem Jahr eine Textnachricht mit einem schrillen Ping in der ­DOSSIER-Chefredaktion eintraf. »Pornhub« stand darin, mehr nicht. Ein Scherz? Es klingelte das Telefon: »Es sieht so aus, als wäre der Haupteigentümer von Pornhub ein Österreicher«, sagte unser Redakteur Nikolai Atefie. Wie bitte? Ein Österreicher soll hinter einer der größten Online-Pornoseiten stecken? Nach Waffen (Glock), Glücksspiel (Novomatic) und Energydrinks (Red Bull) soll ein Landsmann die Welt auch noch mit Pornos beliefern? Irgendwie schwer vorstellbar, aber genau in diese Richtung deutete der Hinweis, den Nikolai per E-Mail aus England ­bekommen hatte: »Hi, ich arbeite bei Tortoise, einem Newsroom in London. Wir recherchieren derzeit an einer wirklich spannenden Geschichte, in der wir auf der Suche nach einem dubiosen Geschäftsmann sind.«

Schnell war klar, dass diese Recherche von globaler Relevanz sein könnte. Denn wer hinter Pornhub, einer Website, die nach eigenen Angaben 42 Milliarden Besuche im Jahr 2019 verzeichnete, steckte, war zu diesem Zeitpunkt tatsächlich unbekannt. Wie konnte das sein? Es geht um eine der populärsten Websites der Welt, und niemand weiß, wer dahintersteckt, wer von dem Geschäft profitiert? Unvorstellbar, man wüsste nicht, wem Facebook oder Amazon gehört, hätte von Mark Zuckerberg oder Jeff Bezos noch nie etwas gehört. Möglich macht das ein weitverzweigtes Firmennetzwerk, das über Kontinente und bis in karibische Steuerparadiese reicht. Damit ist Pornhub nicht allein. Denn sieht man genauer hin, entdeckt man auch hinter den anderen großen Porno-Tube-Sites wie X-Videos oder X-Hamster dasselbe Muster. Die Hinterleute setzen alles daran, um unerkannt zu bleiben.

Aber warum weiß man so wenig über die Menschen, die im Hintergrund am meisten mit der Industrie verdienen? Immerhin ist Pornografie fast so alt wie die Menschheit selbst; jedenfalls hat noch jedes neue Massenmedium zu massenhaft pornografischen Abbildungen oder Darstellungen geführt. Liegt es daran, dass es ihnen unangenehm ist, womit sie ihr Geld machen? Wollen sie sich mit ihrer Anonymität schützen, um sich nicht Angriffen von religiösen Fundamentalist·innen auszusetzen, für die Porno der Teufel auf Erden schlechthin ist? Existieren die weitläufigen Netzwerke, die häufig bei Adressen von Briefkastenfirmen enden, um Steuern zu sparen? Oder liegt es daran, dass sie sich der Verantwortung entziehen wollen, wenn Menschen entgegen ihrem Willen in die Mühlen der Plattformen dieser global agierenden Konzerne geraten? Problematisches bis hin zu illegalem Material gibt es auf den Pornoseiten im Internet zuhauf: Rachepornos, also Filme, die zwar mit Einverständnis gedreht wurden, aber nur für den privaten Gebrauch gedacht waren; oder Spannervideos, zum Beispiel von versteckten Kameras auf Toiletten, die veröffentlicht werden. Es gibt sogar Vorwürfe, dass Videos von Kindesmissbrach und Vergewaltigungen auf großen Seiten verbreitet wurden.

Ungewöhnliche Recherchen

Um Zugang zur Szene der Spanner auf der Pornoseite X-Hamster zu bekommen, musste sich unsere Autorin Patrizia Schlosser selbst eine Identität als Spanner zulegen. Das bedeutete vor allem, eigenes »Material« anbieten zu können – aber woher sollte sie dieses nehmen? Sie sah nur eine Möglichkeit, die sie letztlich viel Überwindung kostete: Sie machte ein Video von sich selbst und gab es als heimlich gedrehtes ­Video einer Freundin aus. Sie gab vor, männlich zu sein, nannte sich »hidden voyeur« und lud das Video der angeblichen Freundin hoch. Zu sehen war kaum etwas, aber es öffnete ihr Tür und Tor zu einem Netzwerk aus Spannern. Über eineinhalb Jahre hinweg chattete sie mit mutmaßlichen Tätern mit dem Ziel, diese identifizieren und Betroffene aufklären zu können. Die Szene lebt davon, sich darüber auszutauschen, wie man Frauen erniedrigt. Patrizias Recherche führte schließlich zu strafrechtlichen Ermittlungen. Für DOSSIER hat sie zwei Fälle beschrieben und dokumentiert, wie schwer bis unmöglich es für Betroffene ist, die Täter ausfindig zu machen.

Auch DOSSIER-Redakteur Nikolai Atefie musste sich eine neue Identität zulegen, um in seiner ­Recherche voranzukommen: Undercover besuchte Nikolai einen internen Branchenevent der Pornoindustrie in Spanien und warf einen exklusiven Blick hinter die Kulissen. Dort ging es weniger um erotische Bilder oder Videos als vielmehr darum, so viel Traffic wie möglich auf den Websites zu erzeugen: Je mehr Menschen dort landen, desto mehr Geld wird durch Werbung eingenommen. Denn Big Porn sind in Wahrheit global agierende Tech-Konzerne, für die Sex nur Mittel zum Zweck ist.

Dass die Branchengrößen des 21. Jahrhunderts dermaßen im Verborgenen agieren können, ist unser aller Umgang mit dem Thema geschuldet: Dass sich unsere Gesellschaft mit der offenen Diskussion über Sexualität und Pornografie so schwer tut, spielt der Industrie in die Hände. Das erklärt auch, warum der weltgrößte Pornokonzern Mindgeek seine merkwürdigen Machenschaften viele Jahre lang völlig unbehelligt betreiben konnte. Und dass erstaunlicherweise mitten in Wien über Jahre eine der populärsten Pornoseiten des Planeten überhaupt betrieben wurde – und bis heute niemand etwas davon mitbekam.

Aber das kann sich ja ändern! Mit dieser Ausgabe versuchen wir ein Blitzlicht auf diese außergewöhnliche Branche zu werfen, in der vor der Kamera zwar ständig alles entblößt und bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet ist – bei der aber hinter der Kamera so vieles im Dunkeln bleibt. Schauen Sie mit uns gemeinsam hin. Wir versprechen Ihnen: Dafür lohnt es sich auch, hin und wieder ein wenig rot zu werden. Also: Augen auf und durch!