
Eine Frau sitzt mit schüchternem Blick vor dem Schreibtisch eines Casting-Regisseurs und will für eine Filmrolle vorsprechen. Als er sie in einem Badeanzug sehen will, geht sie ins Nebenzimmer, um sich umzuziehen. Heimlich schaut er ihr dabei durch das Schlüsselloch zu, öffnet wenig später die Tür und will ihr das Unterkleid hochziehen.
»Stopp! Hören Sie auf, ich bin für die Rolle hier«, sagt die Bewerberin und schlägt seine Hand weg. »Also gut, wir werden sehen, wie weit du kommst, wenn du dich so verhältst«, antwortet der Regisseur verärgert und lässt sie allein im Zimmer zurück. Nach kurzer Bedenkzeit ruft sie ihm hinterher: »Oh, Herr Casting-Regisseur. Ich habe meine Meinung geändert. Ich tue alles, was Sie wollen.«
Es kommt zum Unweigerlichen – in Nahaufnahme und unterschiedlichen Stellungen, mit der Befriedigung des Mannes als Höhepunkt. Am Ende des knapp 15-minütigen Pornos bekommt die Frau das, wofür sie gekommen war: einen Filmvertrag.
Wie nah diese oft verfilmte Fantasie an der Realität ist, zeigen Missbrauchs- und Vergewaltigungsvorwürfe gegen den Hollywood-Filmproduzenten Harvey Weinstein. Knapp 90 Frauen meldeten sich bestärkt durch die MeToo-Bewegung öffentlich zu Wort und beschuldigten ihn der sexuellen Belästigung, Nötigung und Vergewaltigung.
Seit den späten 1980er-Jahren bis zur Enthüllung im Jahr 2017 habe Weinstein zunächst seine Position und danach Schauspielerinnen missbraucht. Seine Castingcouch wurde zum Sinnbild für Machtstrukturen einzementierenden, unter Zwang und durch Vortäuschung falscher Tatsachen erschlichenen Sex. Im Frühjahr 2020 ist er nicht rechtskräftig zu 23 Jahren Haft verurteilt worden.
Davon unbenommen ist die Castingcouch in der Pornografie weiterhin ein beliebtes Motiv: Auf der Website Pornhub rangieren Filme dieser Art unter den Top 100 der meistgesehenen Videos. Etwa der Kanal »Backroom Casting Couch« mit über 800 Millionen Aufrufen, der Frauen dabei zeigt, wie sie Sex haben, um einen Modeljob zu bekommen – den es zum Schluss aber gar nicht gibt, sondern nur die Erniedrigung der Frau als hinterlistige Inszenierung.
Dieses Motiv ist keine Modeerscheinung, wie der eingangs nacherzählte Plot beweist – er stammt nicht von Pornhub, sondern ist ein Stummsexfilm mit dem Titel The Casting Couch aus dem Jahr 1924.
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