Anschlag in Wien: Zwei Jahre danach

Während den sechs mutmaßlichen Mittätern vor dem Wiener Landesgericht der Prozess gemacht wird, ist die Republik bei der Aufarbeitung der eigenen Fehler säumig.

Von Sahel Zarinfard

Aktuelles2.11.2022 

Hörempfehlung! Vor einem Jahr haben DOSSIER und Ö1 die Ereignisse rund um den Anschlag in Wien in einer dreiteiligen Podcastserie dokumentiert. Am 5.11.2022 um 9.05 Uhr wird die Sendung auf Ö1 erneut ausgestrahlt.

Steht der Anschlag in Wien in Zusammenhang mit einer Serie von Anschlägen, die im Herbst 2020 vier europäische Städte in Schrecken versetzte? Ja, wenn es nach der Staatsanwältin geht, die diese politische Dimension in ihrem Eingangsplädoyer am Wiener Landesgericht für Strafsachen den 16 Geschworenen erläuterte. Zum Prozessauftakt gegen sechs mutmaßliche Mittäter und deren mögliche Beteiligung am Anschlag legte die Staatsanwältin Indizien vor, die eine Verbindung zwischen den Anschlägen in Paris, Nizza, einem Pariser Vorort und Wien darlegen sollten.   

Auslöser, so die Staatsanwältin, sollen die im September 2020 in der französischen Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« erneut veröffentlichten Mohammed-Karikaturen gewesen sein. Ein möglicher Hinweis: Der Attentäter von Wien hatte ursprünglich ein französisches Nobelrestaurant im ersten Wiener Gemeindebezirk als Ziel ausgesucht. Wenige Stunden vor dem Anschlag hatte er online nach dessen Adresse gesucht und im Lokal angerufen. Doch wie jeden Montag hatte das Restaurant auch an diesem 2. November 2020 Ruhetag. So ist der Attentäter von seinem Plan abgewichen und schoss in der beliebten Ausgehmeile am Wiener Schwedenplatz wahllos um sich.   

Über das Motiv des Täters kann heute nur spekuliert werden: Er ist in derselben Nacht von einem Wega-Beamten erschossen worden. Nun stehen sechs Männer im Alter zwischen 22 und 32 Jahren vor Gericht, die dem Attentäter die Tatwaffe und Munition verschafft und geholfen haben sollen, den Anschlag zu planen. Drei der sechs Männer bekannten sich am ersten Prozesstag für teils schuldig und räumten ein, dem Attentäter Kontakt zu einem Waffenverkäufer verschafft und geholfen zu haben, an ein Sturmgewehr, eine Pistole und Munition zu gelangen. Jedoch stritten sie ab, von dem Anschlag gewusst zu haben oder in dessen Planung involviert gewesen zu sein. Im Falle einer Verurteilung drohen ihnen bis zu 20 Jahre Haft, in manchen Fällen auch lebenslange Haftstrafen. Für die juristische Aufarbeitung des Anschlags sind 13 Verhandlungstage anberaumt, ein Urteil wird frühestens im Februar 2023 erwartet.

Unabhängig vom Ergebnis des Verfahrens steht für Eugen Kaba, Onkel des ersten Mordopfers Nedzip Vrenezi, bereits fest: Die Behörden tragen ebenfalls Verantwortung. Dass sie diese auch wahrnehmen, sieht Kaba in dem im September 2021 eingerichteten Terroropfer-Fonds verwirklicht. Daraus sind bis Mitte Oktober 2022 rund 1,9 Millionen Euro ausbezahlt worden – auch an die Familienangehörigen der vier Todesopfer, die insgesamt etwas mehr als 450.000 Euro zugesprochen bekamen. »Der Anschlag hätte verhindert werden müssen, das Geld ist für uns das Schuldeingeständnis der Regierung. Damit können wir, hoffe ich, endlich abschließen und weiterleben«, sagt Kaba zu DOSSIER. 

Abschließen – das können auch jene zwei Beamten des Verfassungsschutzes, die das Innenministerium bei der internen Aufarbeitung der behördlichen Fehler im Zuge der Terrorabwehr wegen Amtsmissbrauchs angezeigt hatte. Die zuständige Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft hat im September 2022 das Ermittlungsverfahren eingestellt, »weil nach den Ergebnissen die Begehung einer Straftat nicht nachweisbar war«, wie ein Sprecher auf DOSSIER-Anfrage schreibt.

Geheimdienst mit blinden Flecken

Nach dem Anschlag hat die Bundesregierung viele Reformen umgesetzt, doch eine der zentralen Neuerungen ist bis heute ausständig. DSN – diese drei Buchstaben läuteten am 1. Dezember 2021 die längst überfällige Reform des österreichischen Verfassungsschutzes ein. Damals ist aus dem skandalgebeutelten Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) die neue »Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst« hervorgegangen. Damit die Reform aber kein bloßer Etikettenschwindel wird, sollte die Arbeit der DSN künftig stärker kontrolliert werden. 

Etwa durch eine Kontrollkommission, die von unabhängigen und weisungsfreien Expert·innen geleitet werden soll, um interne Misskommunikation und strukturelles Behördenversagen zu verhindern. Als Leiterin der Kommission wird Ingeborg Zerbes gehandelt, jene Strafrechtsexpertin, die nach dem Anschlag das systematische Versagen des Staatsschutzes aufgearbeitet und in ihrem Abschlussbericht dokumentiert hat. Doch wie die »Presse« berichtet, haben parteipolitische Personalwünsche von ÖVP und SPÖ bislang verhindert, dass die Kommission unter ihrer Leitung zustande kommt. Der blinde Fleck bei der internen Kontrolle besteht also auch zwei Jahre nach dem Anschlag in Wien.