Die Schläfer

Vor dem Anschlag in Wien sind den Behörden gravierende Fehler passiert – mit tödlichen Konsequenzen. Entlang der Befehlskette hat niemand die Gefahr erkannt. Eine Anklage.

Text: Sahel Zarinfard; Illustration: Thom Van Dyke

Terror15.10.2021 

Am Tag nach dem Anschlag vom 2. November 2020 tritt Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) vor die Presse. »Durch den entschlossenen Einsatz ist es gelungen, Schlimmeres zu verhindern«, sagt er. Innerhalb von nur neun Minuten sei der Attentäter durch Beamte der Wiener Einsatzgruppe Alarmabteilung (Wega) getötet worden. Neun Minuten. Das klingt erst einmal schnell. Das ist schnell. Aber hätte es noch schneller gehen können – oder gar müssen? Und hätte es erst gar nicht so weit kommen dürfen?

Dass Gefahrenabwehr auch anders ablaufen kann, zeigte jüngst ein Beispiel aus Neuseeland. Anfang September 2021 griff ein Mann in einem Supermarkt zu einem Messer und stach wahllos auf Menschen ein. Sieben wurden verletzt, drei davon schwer. In knapp einer Minute waren Polizeibeamte zur Stelle und erschossen den Angreifer. Sie waren so schnell, weil der Mann unter Beobachtung stand.

Erst im Juli war der IS-Sympathisant aus der Haft entlassen worden. Weil er weiterhin als Bedrohung für die nationale Sicherheit galt, folgten ihm Beamte rund um die Uhr auf Schritt und Tritt. Zur Tatzeit waren sie so nah dran, dass sie die plötzliche Aufregung im Supermarkt bemerkten und einschritten.

Neuseelands Sicherheitsapparat funktionierte: Über die Bedrohung durch den Mann waren alle entlang der Befehlskette informiert, bis hinauf zu Premierministerin Jacinda Ardern, die in den Monaten zuvor zweimal zu dem Mann gebrieft worden war. Und in Österreich?

Niemand von den Verantwortlichen ahnte vor dem Anschlag etwas von der drohenden Gefahr. Der damalige Bundeskanzler nicht, der Innenminister nicht. Nicht einmal Franz Ruf, der oberste Polizist des Landes, hatte nach eigenen Angaben in den Monaten vor dem Anschlag Informationen über die wachsende Gefahr auf dem Tisch liegen.

Es gebe »bedauerlicherweise keine ihm zugänglichen operativen Lage­bilder zum islamistischen Extremismus und Terrorismus für die Monate Juli, August, September und Oktober 2020«, teilte Ruf – seit 1. Juli 2020 Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit – der nach dem Anschlag eingesetzten Untersuchungskommission mit. Das ist verblüffend.

Für Österreichs Behörden kam der Anschlag offenbar wie aus heiterem Himmel. »Das ist für mich schwer nachvollziehbar«, sagt Ingeborg Zerbes zu DOSSIER. Die Strafrechtsexpertin und stellvertretende Leiterin des Instituts für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien leitete die Kommission, die etwaigen Versäumnissen der Behörden auf den Grund gehen sollte.

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