Aufmacherfoto: Ashwien Sankholkar
In der OMV muss die Geschichte umgeschrieben werden. Die mehrheitliche Übernahme des Kunststoffherstellers Borealis wurde seit 2020 immer wieder als Erfolg erzählt. Der damalige OMV-Vorstandsvorsitzende Rainer Seele blätterte rund vier Milliarden Euro für 39 Prozent an Borealis hin und feierte das als den größten Deal in Österreichs Wirtschaftsgeschichte.
Für den OMV-Aufsichtsrat und dessen damaligen Vorsitzenden Wolfgang Berndt war die Borealis-Transaktion der Schlüssel für die Transformation der OMV in einen grünen Petrochemieriesen. Und die Staatsholding Öbag, die mit 31,5 Prozent größte OMV-Aktionärin ist, winkte die Übernahme zu Beginn der Pandemie im Eiltempo durch.
Weil der »Milliardendeal im Morgenland« von DOSSIER als mutmaßlich überteuert, übereilt und riskant beschrieben wurde, deckte uns die OMV mit Einschüchterungsklagen ein. Am Erfolgsnarrativ sollte nicht gerüttelt werden. So sagte Rainer Seele in der Kleinen Zeitung: »Für uns eine der sichersten Akquisitionen überhaupt, weil wir Borealis seit langem kannten.«
Heute wirkt Seeles Aussage aus dem Jahr 2021 wie eine kolossale Fehleinschätzung.
Denn der teuerste Takeover der heimischen Wirtschaftsgeschichte entpuppt sich als kostspieliger als angenommen. Das legen DOSSIER exklusiv vorliegende »Executive Board Reports« der börsennotierten OMV AG nahe, die in der Aufsichtsratssitzung am 9. März 2023 präsentiert wurden.
Konkret soll ein belgisches Borealis-Projekt seit 2020 eine Kostenexplosion von mehr als einer halben Milliarde Euro erfahren haben – Tendenz: steigend. In der Wiener Trabrennstraße, wo die Vorstände von OMV und Borealis sitzen, sorgt das mittlerweile für schlaflose Nächte. Was ist geschehen?
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Warnung des Whistleblowers
In der Euphorie rund um die Übernahme 2020 wurden potenzielle Pandemie- und Projektrisiken ausgeblendet. Frühe Alarmsignale wie rückläufige Borealis-Ergebnisprognosen wurden ignoriert, wie DOSSIER berichtete. Whistleblower warnten im Jahr 2020: Covid-19 könnte Borealis-Projekte ins Minus drehen, daher seien genaue Checks dringend angebracht. Andernfalls drohe ein Schaden von »bis zu einer Milliarde Euro«. Die OMV spielte das als »reine Spekulation« herunter.
Nun scheint das Worst-Case-Szenario eingetreten zu sein.
Auslöser ist ein Vorfall in Kallo, einem Dorf in der Nähe von Antwerpen. Zur Erinnerung: Bei einem seit 2019 laufenden Borealis-Projekt in Ostflandern sollen Arbeiter, die über Subfirmen engagiert worden waren, Opfer von Menschenhändlern geworden sein.
Die aus Bangladesch, den Philippinen und aus der Türkei stammenden Arbeiter mussten sechs Tage die Woche zu einem Lohn von höchstens 650 Euro im Monat schuften, berichtete die belgische Nachrichtenagentur Belga im Sommer 2022 – und das oft ohne Arbeitserlaubnis.
Im vertraulichen Vorstandspapier mit dem Titel »Cost Overrun Project Borealis Kallo PDH2« wird die Kostenexplosion dargestellt. Im ursprünglichen Borealis-Vorstandsantrag aus dem Jahr 2018 lag das maximale Investitionsvolumen bei 990 Millionen Euro. Doch bereits Anfang 2021, also kurz nachdem OMV die Kontrolle über Borealis übernommen hatte, musste das Budget um 145 Millionen Euro aufgestockt werden – der Grund: Planverzögerung wegen Corona (»Schedule delay due to Covid-19«).
Die Rache des Zeitdrucks
Nun rächt sich, dass der Borealis-Deal in Eile durchgezogen wurde. Ohne Zeitdruck hätte das Projekt »Opera« – so der interne Codename für den Borealis-Deal 2020 – und damit einhergehend auch Investitionsprojekte wie Kallo einem Covid-19-Stresstest unterzogen werden können.
Anstatt das in Angriff zu nehmen, verstrickte sich Seele 2021 in zahlreiche Konflikten, wie mit Aufsichtsräten, Betriebsräten, Mitarbeiter·innen sowie mit externen Stakeholdern, etwa Fridays for Future, Greenpeace oder gar mit Vizekanzler Werner Kogler (Grüne).
Gefährdete die Kallo-Krise Seeles Börsenstory über den sensationellen Borealis-Deal, die er OMV-Investoren auf Roadshows gerne erzählte?
Die Troubles bei Borealis sollten nicht publik werden. Message-Control war wichtig. Darum soll Seele seinen Vertrauten Thomas Gangl diskret zur Borealis geschleust haben.
Eine umstrittene Personalrochade
Ohne öffentliche Ausschreibung wurde Gangl von Seele im Februar 2021 zum Borealis-CEO bestellt. Seele durfte das, weil er Aufsichtsratsvorsitzender von Borealis war. Dass Gangl ohne Einbindung des OMV-Aufsichtsrats befördert wurde, kam jedoch nicht gut an.
Denn Mark Garrett – er ist Wolfgang Berndt im September 2020 als OMV-Aufsichtsratschef nachgefolgt und gab nun seinen Rücktritt bekannt – hatte kein Vertrauen in Gangl und wollte ihn als OMV-Vorstand loswerden. Garrett hatte im Zuge einer internen Untersuchung herausgefunden, dass Gangl dem Aufsichtsrat im März 2020 wichtige Infos über das Projekt »Opera« verheimlicht hatte.
Während Rainer Seele im April 2021 – DOSSIER berichtete – wegen öffentlicher Kritik den Vorstandsvorsitz zurücklegen musste, wurde das Kallo-Budget diskret auf 1,14 Milliarden Euro ausgeweitet. Im Vorstandspapier wird der Kostensprung damit begründet, dass die Subunternehmer während der Pandemie mehr Verhandlungsmacht ausgeübt hätten („Sub-contracting costs increase (market competitiveness and quantities“).
Mit anderen Worten: Borealis wurde wegen behaupteter Liefer- und Rohstoffengpässe mehr Geld abgeknöpft.
Verdacht des Menschenhandels
Bis zum Sommer 2022 hatte Thomas Gangl die Sache im Griff. Während das Hauen und Stechen in der OMV immer wieder mediales Thema war, blieben die Troubles bei Borealis ein wohlgehütetes Geheimnis. Doch das änderte sich im Juli 2022 schlagartig.
Die belgischen Medien berichteten darüber, dass die Borealis-Anlage in Kallo der Schauplatz von einem der größten Menschenhandelsskandale in Europa war. Im August 2022 wurde ein kompletter Baustopp verhängt. Die Verträge mit dem dubiosen Projektbetreiber IREM Group wurden gekündigt. Danach mussten die meisten Aufträge neu ausgeschrieben werden.
»Angesichts des Umfangs der Verträge, die Borealis kündigen musste, waren mehr als 1.000 Beschäftigte betroffen und konnten ihre Arbeit auf der Baustelle in Kallo nicht fortsetzen«, heißt es in einem Borealis-Statement vom 23. Jänner 2023 zum Fall Kallo.
Ein Loch in der Bilanz
Das Chaos in Kallo reißt jetzt ein Loch in die OMV-Bilanz: Borealis musste im vierten Quartal 2022 einen Verlust von 23 Millionen Euro vermelden. Im Vergleichsquartal 2021 lieferte Borealis noch 337 Millionen Euro Gewinn. In den Aufsichtsräten von OMV und Borealis läuten seither die Alarmglocken.
Der »Executive Board Report« vom 9. März 2023 belegt, dass sich die Lage seither massiv verschlechtert hat. »Wenn alles gutgeht, dann wird die Anlage im März 2025 eröffnet werden«, sagt ein OMV-Insider, also mit drei Jahren Verspätung. Für Schadenersatzklagen müssen neuerdings 55 Millionen Euro und für neue Vertragsausschreibungen sogar 131 Millionen Euro zusätzlich auf die Seite gelegt werden, steht im OMV-Vorstandspapier.
Die »Investitionen im Zusammenhang mit Leasingverträgen« liegen laut OMV–Group-Report Q4-2022 bei rund 500 Millionen Euro. Insgesamt sind die »Capital Expenditures«, also die Investitionsausgaben, auf 1,53 Milliarden Euro explodiert. Zur Erinnerung: 990 Millionen Euro standen in der ersten Kostenschätzung im Jahr 2018.
Abu Dhabi will mehr
Für das Krisenmanagement und die stetigen Budgetüberschreitungen wird nun Borealis-CEO Gangl von OMV-CEO Alfred Stern und OMV-Präsident Mark Garrett gescholten: Hat Gangl zu spät reagiert und etwa Projektmanager in der Pandemie nicht eng genug geführt?
Gangl saß bisher fest im Sattel. Einerseits, weil er gute Kontakte zur Abu Dhabi National Oil Company (Adnoc) pflegt, die seit dem Vorjahr 24,9 Prozent an der börsennotierten OMV AG und 25 Prozent an der Borealis AG besitzt. Andererseits, weil sein langjähriger Förderer Rainer Seele laut Kurier mittlerweile als Adnoc-Berater seine Brötchen verdient.
Doch Gangl ist nicht mehr unantastbar. In der Borealis-Hauptversammlung im März 2023 wurde ihm und zwei Vorstandsdirektoren die Entlastung verweigert. »Dem Vernehmen nach soll die Nichtentlastung mit Problemen bei zwei Borealis-Projekten begründet worden sein«, berichtet das Nachrichtenmagazin Profil. Betroffen war ein »Bauprojekt in Belgien, bei dem Vorwürfe aufkamen, Arbeiter könnten Opfer von Menschenhandel geworden sein«.
Das war ein Schuss vor den Bug.
OMV-Sprecher Andreas Rinofner sagt gegenüber DOSSIER: »Der Vorstand der Borealis hat in der Aufsichtsratssitzung am 12. April 2023 alle angeforderten Informationen vorgelegt. Diese wurden vom Borealis-Aufsichtsrat ausführlich geprüft. Auf dieser Basis wurde eine nachträgliche Entlastung sämtlicher Vorstandsmitglieder im Rahmen einer nachfolgenden außerordentlichen Hauptversammlung erteilt.«
Borealis-Sprecherin Virginia Wieser ergänzt: »Unsere letzten News zum Thema Kallo vom 23.1.2023 sind aktuell gültig. Sobald es Neuigkeiten zu kommunizieren gibt, werden wir dies proaktiv über unsere etablierten Kanäle tun. Aktuell befinden wir uns in der Quiet Period der OMV-Gruppe.«
Quiet Period bedeutet, dass OMV- und Borealis-Verantwortliche nur eingeschränkt mit dem Kapitalmarkt kommunizieren dürfen. Demnach dürfen Aussagen über die finanzielle Misere rund um die Borealis-Gruppe nicht öffentlich kommentiert werden. Darum gibt es von Borealis-CEO Thomas Gangl und OMV-Vorstandsvorsitzender Alfred Stern – er ist auch Borealis-Aufsichtsratschef – keine Stellungnahme zu den DOSSIER-Recherchen zu den Kostenexplosionen in Kallo.
Lachender Dritter könnte Abu Dhabi sein. »Durchaus möglich, dass Adnoc die Mehrheit an Borealis wieder zurückkauft«, schreibt der Kurier. »Der Deal soll noch heuer durchgezogen werden.« Der medial kolportierte Plan wird von OMV-Insidern als »Schnapsidee« bezeichnet. Aus zwei Gründen könnte das Investorenklagen provozieren. Einerseits, weil ohne Borealis die »Strategie 2030« der OMV zerbröselt. Andererseits, wenn Abu Dhabi weniger zahlt als die OMV vor drei Jahren. Borealis ist heute wohl weniger wert.