Gefährliches Gutachten

Auf Basis eines Gutachtens genehmigte der Aufsichtsrat der OMV AG die fragwürdige Abfertigung des Leiters des Bereichs Internal Audit & Compliance. Doch nun ziehen die Gutachter ihre Expertise überraschend zurück. Wichtige Informationen sollen ihnen vorenthalten worden sein.

Text: Ashwien Sankholkar

OMV2.6.2022 

In der OMV nimmt der Schrecken kein Ende. Die DOSSIER-Story über das Vermächtnis des Ölprinzen löste eine Kettenreaktion im teilstaatlichen Öl-, Gas- und Chemieriesen aus. Zur Erinnerung: Im August 2020 hatte der damalige OMV-CEO Rainer Seele dem Bereichsleiter für Internal Audit & Compliance, Robert Eichler, einen teuren Sideletter zugeschanzt. Konkret wurde Eichler von der OMV ein Kündigungsverzicht bis September 2023 garantiert bzw. danach bei Kündigung durch die OMV eine hohe Überbrückungszahlung gewährt. Der Grund für das vertragliche Zuckerl ist ein Rätsel.

Dass Rainer Seele die Zusatzvereinbarung zu Eichlers Dienstvertrag heimlich und auf eigene Faust abgeschlossen haben soll, ist an sich schon bemerkenswert. Dass der Vorstandsboss sich über die Geschäftsordnung stellt, ist ein glatter Regelbruch: Denn Seele soll sogar ohne (!) Vorstandsbeschluss und ohne (!) Aufsichtsratsgenehmigung agiert haben, wie die OMV feststellte. Im April 2021 wurde Seele wegen anderer Skandale zum Rücktritt gezwungen, im Dezember 2021 musste Eichler wegen des Sideletters gehen. 

»Einige Seele-Aktionen waren in der roten Zone. Erst jetzt erkennt man ihre Tragweite«, sagt Florian Beckermann via Presseaussendung. »Hier muss für Transparenz gesorgt werden – wenn nötig, mit einer Sonderprüfung oder einer Strafanzeige. Es gilt die Unschuldsvermutung.« Als Vorstand des Interessenverbands für Anleger fordert Beckermann vollständige Aufklärung über die »Ungereimtheiten der Seele-Ära«. Die Staatsholding Öbag – sie ist mit 31,5 Prozent größter OMV-Aktionär – soll bei der Hauptversammlung gegen Seeles Entlastung stimmen, empfiehlt Aktionärsvertreter Beckermann.

»Ich habe Vertrauen in die bisherige Arbeit des Aufsichtsrates, der eine Prüfung eingeleitet hat. Diese läuft noch«, sagt Edith Hlawati gegenüber DOSSIER. Wirtschaftsanwältin Hlawati ist Vorstandsdirektorin der Öbag und wird nach der Hauptversammlung im Aufsichtsrat der OMV sitzen. »Ich bin überzeugt, dass diese Prüfung umfassend durchgeführt wird und die angesprochenen Themen entsprechend aufgearbeitet werden.« Wird es eine Strafanzeige geben? »Auf Basis des Ergebnisses wird man Entscheidungen treffen.« Im Moment will sie nicht mehr dazu sagen.

Ein guter Vorwand?

Warum aber wurde Eichler abgefunden, wenn der Sideletter nicht korrekt aufgesetzt worden war? Im Aufsichtsrat der OMV wurde das mit einem Gutachten der Universitätsprofessoren Susanne Kalss (Unternehmensrecht) und Franz Marhold (Arbeitsrecht) begründet. Der ehemalige OMV-Aufsichtsratsvorsitzende Wolfgang Berndt erklärt das gegenüber DOSSIER so: »Professorin Kalss und Professor Marhold kommen beide zum Schluss, dass alles sauber abgelaufen ist. Was wollen Sie mehr?! Dass eine kundige Stelle wie diese Professoren diese Meinung vertreten hat, reicht mir aus.«

Doch lief wirklich alles sauber ab? 

Das DOSSIER vorliegende Rechtsgutachten vom 8. Juli 2021 könnte schon bald die nächste Kettenreaktion auslösen. Offenbar dürfte das »Gutachten über die Rechtmäßigkeit des Vorgehens des Aufsichtsrats und Prüfungsausschusses mit der Vereinbarung der OMV AG mit Herrn Dr. Robert Eichler« dafür verwendet worden sein, um den fragwürdigen Vertrag im Nachhinein reinzuwaschen. »Das Gutachten würde ich sofort zurückziehen, wenn die OMV AG mich fragen würde«, sagt Professorin Kalss gegenüber DOSSIER. Franz Marhold ergänzt: »Bei den gesellschaftsrechtlichen Folgerungen und der weiteren Vorgangsweise schließe ich mich Frau Professor Kalss an.«

Ein CEO, der vor seinem Ausscheiden eilig ein Gutachten in Auftrag gibt. Eine finanzielle Abschlagszahlung, die ohne Gutachten wohl nie geflossen wäre. Ein Gutachten, das von den Autoren zurückgezogen wird. Zudem ein Antrag auf Sonderprüfung in der Hauptversammlung und eine mögliche Strafanzeige nach der HV. Das ist starker Tobak.

»Fühle mich instrumentalisiert«

Seit Jahresbeginn kursiert das Gutachten außerhalb der OMV. Eichler soll das vertrauliche Papier laut DOSSIER-Recherchen in der Adventzeit nach außen getragen haben. »Ich habe Herrn Eichler im Dezember geradeheraus gefragt, ob der Sideletter im August 2020 ordentlich zustande gekommen sei«, sagt Wolfgang Berndt. »Eichler hat mir daraufhin erklärt, dass es ein Gutachten von Professor Kalss und Professor Marhold gibt, das bestätigt, dass der Sideletter ordnungsgemäß abgeschlossen wurde. Eichler hat mir das Gutachten im Dezember geschickt.« Berndt war damals nicht mehr OMV-Aufsichtsrat. Dass das Gutachten nach außen gespielt wird, war seitens der OMV nie vorgesehen. 

So kamen die Gutachter unter Druck, weil sie von Personen außerhalb der OMV auf ihre Sideletter-Prüfung angesprochen werden. »Im Nachhinein fühle ich mich instrumentalisiert und missbraucht«, sagt WU-Professorin Kalss zu DOSSIER. Beauftragt wurde sie im Juni 2021 von Rainer Seele, also wenige Wochen nach Bekanntgabe des Seele-Rückzugs. Sie habe darauf vertraut, dass ihr sämtliche für die Beurteilung der Rechtsfrage maßgeblichen Informationen übermittelt werden. Doch das ist offenbar nicht geschehen.

»Ich fühle mich getäuscht«, sagt Kalss. »In Kenntnis des von DOSSIER beschriebenen Sachverhalts hätte ich den Auftrag für das Gutachten nicht angenommen.« Denn sie wäre zu einem anderen Ergebnis gekommen, so Kalss: »Mit dem heutigen Wissen und Kenntnisstand würde ich sagen, dass der damalige Vorstandsvorsitzende seine Sorgfaltspflichten verletzt hat. Da sind die Grenzen des Aktienrechts überschritten worden. Die rechtliche Würdigung aus dem Jahr 2021 ist heute nicht mehr vollinhaltlich zulässig.«

Zenit auf dem Prüfstand

Die Sideletter-Affäre entwickelt sich zum Wirtschaftskrimi mit der zentralen Frage: Wer hat sich die Sache ausgedacht: Seele oder Eichler? Beide wollen gegenüber DOSSIER keine Stellungnahme abgeben. Und wer trägt die Verantwortung? Ex-OMV-Aufsichtsratschef  Berndt hat eine Antwort parat. »Dass für den Sideletter ein Gesamtbeschluss des Vorstands nötig gewesen wäre, höre ich zum ersten Mal«, sagt Berndt. »Die Einholung der notwendigen Vorstandsbeschlüsse beziehungsweise die Einbindung des Aufsichtsrats ist nicht Eichlers Aufgabe. Dafür wäre im konkreten Fall Rainer Seele als sein Vorgesetzter verantwortlich gewesen.«  

Warum hat sich Seele im Nachhinein per Gutachten absichern lassen, »sorgfaltsgemäß gehandelt zu haben«? Wie war das mit anderen Deals der Ära Seele? Liegt ein Vorstandsbeschluss vor, wonach die 25 Millionen Euro Sponsoring für die Kampfmannschaft des Fußballklubs Zenit St. Petersburg für die Nachwuchsmannschaft umgewidmet wurden? Welcher Gutachter kommt zum Schluss, dass der Werbewert eines in der europäischen Champions League spielenden Profifußballteams mit dem einer ausschließlich in Russland kickenden Kindermannschaft gleichzusetzen ist? Eine externe Anwaltskanzlei wurde inzwischen vom OMV-Aufsichtsrat beauftragt – neben dem Sideletter –, auch das Zustandekommen der Partnerschaft mit Wladimir Putins Lieblingsfußballklub zu prüfen.

Das Zenit-Sponsoring wurde wenige Wochen vor Sideletter-Abschluss von Robert Eichler untersucht – und von diesem für okay befunden. Nun steht Eichlers Arbeit auf dem Prüfstand. OMV-Vorstandschef Alfred Stern und OMV-Präsident Mark Garrett warten auf das Endergebnis von Sideletter- und Sponsoring-Prüfung. OMV-Pressesprecher Andreas Rinofner sagt gegenüber DOSSIER: »Wir bitten Sie einmal mehr um Verständnis dafür, dass wir diese Angelegenheit im Moment nicht öffentlich kommentieren, da entsprechende Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind.«

Ohne Vorstandsbeschluss kein Gutachten

Der fehlende Beschluss beim Sideletter hat jedenfalls schwerwiegende Folgen. »Zum Zeitpunkt der Beauftragung bin ich selbstverständlich davon ausgegangen, dass sämtliche notwendigen Vorstandsbeschlüsse vorliegen«, sagt Gutachterin Kalss. Dass das nicht der Fall sei, erfuhr sie aus den Medien. »Selbstverständlich stellt ein fehlender Vorstandsbeschluss eine für die rechtliche Würdigung wesentliche Information dar. Liegen keine ordnungsgemäßen Beschlüsse des Vorstands vor, erübrigt sich auch die Frage, ob der Aufsichtsrat beziehungsweise der Prüfungsausschuss ordnungsgemäß eingebunden wurden.«