Der Milliardendeal im Morgenland

Die OMV krallte sich für 4,1 Milliarden Euro die Kontrolle über den Plastikproduzenten Borealis. Wurde zu viel bezahlt? Vertraulicher E-Mail-Verkehr legt das nahe.

Von Ashwien Sankholkar

OMV28.10.2020 

Aufmacherbild: Helmut Fohringer / APA / picturedesk.com

Das gab’s noch nie. Im März 2019 düste Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) gemeinsam mit Immobilieninvestor René Benko, OMV-General Rainer Seele und Borealis-Boss Alfred Stern ins Scheichtum Abu Dhabi. Im Schlepptau: 25 Pferde der Spanischen Hofreitschule (SRS).

Die dreitägige Show in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) war eine Premiere in der 455-jährigen SRS-Geschichte. Noch nie zuvor waren so viele Lipizzaner von Österreich in die Wüste geschickt worden.

Die Übergabe des Hengstes Neapolitano Theodorosta an die Tochter von Kronprinz Mohammed bin Zayed Al Nahyan bildete den feierlichen Höhepunkt des Staatsbesuchs. Eigens für die Show wurden 36 Kisten voll mit Goldzäumen, weißen Hirschledersätteln, Samtschabracken und edlen Birkengerten in die Emirate geschickt.

Laut Reitschule summierten sich die Flugkosten auf 350.000 Euro. Die Republik – besser gesagt: Reitschule und Landwirtschaftsministerium – mussten nur 15.000 Euro für den prächtigen Hengst berappen. Die Rechnung für den teuren Transport beglich Borealis.

Die Scheiche zahlten indirekt zwei Drittel der Lipizzaner-Sause, denn Borealis ist das Joint Venture des VAE-Staatsfonds Mubadala mit der teilstaatlichen OMV AG. 36 Prozent der Borealis-Aktien gehörten damals der OMV, der Rest Mubadala.

Die Pferdeparade bot auch den Rahmen, um lukrative Geschäfte mit den Arabern abzusichern – und einen spektakulären Milliardendeal im Morgenland auszutüfteln: den Takeover der Borealis durch die OMV.

Überraschung vor dem Lockdown

Ein Jahr nach dem Staatsbesuch wurde die Katze aus dem Sack gelassen. Am 6. März 2020, genau eine Woche vor Österreichs erstem Corona-Lockdown, gab die OMV bekannt, die Mehrheit an Borealis übernehmen zu wollen. Für 39 Prozent legte OMV-Boss Seele 4,1 Milliarden Euro auf den Tisch. Doch beim größten Firmenkauf der österreichischen Industriegeschichte könnte nicht alles supersauber gelaufen sein. 

Nicht nur kaufte die OMV mehr Borealis-Aktien als notwendig, DOSSIER-Recherchen legen den Verdacht nahe, dass diese auch noch zu teuer gekauft worden sein könnten – denn der Borealis-Deal wurde zu einem ungünstigen Zeitpunkt abgeschlossen.

„Anderswo hat die Corona-Krise bewirkt, dass Verhandlungen unterbrochen wurden“, sagt Wilhelm Rasinger, der Präsident des Interessenverbands für Anleger. „Bei der OMV tat man so, als ob nichts gewesen wäre.“ Doch damit nicht genug.

Ein im Kontakt mit der Justiz stehender Whistleblower wittert laut Kurier Untreue in der OMV sowie eine Bevorzugung des Staatsfonds Mubadala, der mit 24,9 Prozent zweitgrößter OMV-Aktionär ist. Bemerkenswert: Die Transaktion wurde – was keiner versteht – unter Zeitdruck durch den Aufsichtsrat gepeitscht.

„Die Unterlagen über Borealis sollen als Tischvorlage im Aufsichtsrat verteilt worden sein“, sagt Rasinger. „Bei so einer großen Transaktion ist das eher unüblich.“ So ein Vorgehen erschwert Aufsichtsräten eine sorgfältige Überprüfung des Kaufpreises und der Beteiligungshöhe. Der Justiz liegen Hinweise vor, dass den Aufsehern vorenthalten wurde, dass sich die Borealis-Profite schlechter entwickelten als zu Jahresbeginn angenommen.

„Wir prüfen das Vorliegen eines Anfangsverdachts“, sagt Elisabeth Täubl, Mediensprecherin der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft. Inhaltlich wolle sie die Vorwürfe nicht kommentieren. Täubl gegenüber DOSSIER: „Die Prüfung ist noch nicht abgeschlossen.“

Falsche Erwartungen

„Borealis revidierte die Gewinnprognosen nach unten“, sagt ein OMV-Insider, der anonym bleiben möchte. Das wird durch eine DOSSIER vorliegende E-Mail gestützt, die am Mittwoch, 11. März 2020, um 19.57 Uhr verschickt wurde. In die E-Mail mit dem Betreff „Current View (CuVw) March FY 2020“ eingebettet ist die von Borealis verfasste Ergebnisvorschau für das Jahr 2020.

Die „Owners Controllers“, also die Erbsenzähler von OMV und Mubadala, wurden in der E-Mail über den Ergebnisrückgang im Vergleich zum Businessplan informiert – der Grund: Corona und Ölpreis. Der Businessplan bildete eine wesentliche Grundlage für die Ermittlung des Kaufpreises von 4,1 Milliarden Euro. Rückläufige Gewinne reduzieren in der Regel den zukünftigen Cashflow und damit den Unternehmenswert. Letzterer bestimmt den Kaufpreis für das Aktienpaket.

Die nackten Zahlen: Ende 2019 ging Borealis noch von einem Ölpreis von 65 US-Dollar pro Barrel aus und prognostizierte einen Nettogewinn von 720 Millionen Euro fürs Gesamtjahr 2020. Auf dieser Basis wurde die Borealis-Gruppe mit rund zehn Milliarden Euro bewertet. Seit März hat sich die Lage verschärft, der Ölpreis ist stark gefallen. Brent-Öl notiert aktuell bei rund 40 US-Dollar. Mit dramatischen Konsequenzen. 

Im ersten Halbjahr 2020 verbuchte Borealis 215 Millionen Euro Nettogewinn, ein Jahr zuvor waren es noch 528 Millionen Euro gewesen. Laut Borealis-Halbjahresfinanzbericht brachen die Kundenzahlungen ein: Von 4,19 Milliarden Euro im ersten Halbjahr 2019 auf 3,59 Milliarden Euro in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020. Ein Crash beim Cashflow konnte durch Kürzungen bei Personal und Lieferanten – minus 638 Millionen Euro im Halbjahresvergleich – gerade noch abgefedert werden.

Der Ölpreis von 65 US-Dollar im Businessplan war viel zu optimistisch.

Am 21. September 2020 sah sich die OMV gezwungen, ihre internen Ölpreis-Annahmen anzupassen: „Für 2021 erwartet das Unternehmen eine anhaltende makroökonomische Auswirkung der Covid-19-Pandemie und bestätigt seine Ölpreisprognose von 50 USD/bbl. Die Ölpreiserwartungen für 2022 und 2023 werden von 70 USD/bbl bzw. 75 USD/bbl auf nunmehr 60 USD/bbl reduziert.“ Die Abkürzung bbl steht für ein Barrel bzw. ein Faß Rohöl und entspricht 159 Liter.

Die Anpassungen hatten finanzielle Folgen: „Es wird erwartet, dass die aktualisierten Preisplanungsannahmen zu nicht zahlungswirksamen Nettowertminderungen in Höhe von rund 600 Millionen Euro nach Steuern im Ergebnis des dritten Quartals führen werden, einschließlich geringfügiger Wertaufholungen.“

 

Zum Zeitpunkt der OMV-Aufsichtsratssitzung im März 2020 kalkulierten die Borealis-Controller in ihrem Revised Financial Forecast bereits mit einem Ölpreis von 50 US-Dollar und prognostizierten 610 Millionen Euro Jahresgewinn, also 15,4 Prozent weniger als im Businessplan. War der im Aufsichtsrat genehmigte Kaufpreis von 4,1 Milliarden Euro vielleicht doch zu hoch gegriffen?

„Die OMV hat im Rückblick zu viel für die Borealis-Anteile bezahlt“, sagt Wolfgang Matejka, Geschäftsführer von Matejka & Partner Asset Management. Matejka kennt sich aus. Als Chief Investment Officer der Wiener Privatbank berät der Börsenprofi Pensionskassen, Stiftungen und Versicherungen sowie reiche Privatpersonen. 

Die Tageszeitung Kurier berichtete Ende September, dass die OMV um bis zu eine Milliarde Euro zu viel bezahlt haben könnte. Seitens der OMV wird das als reine Spekulation abgetan. Borealis-Pressesprecherin Virginia Mesicek: „Ich habe keine Antworten auf Ihre Fragen.“ 

Das Rätsel um die verschwundene Klausel

Fakt ist: Seit Jahresbeginn geht der Ölpreis im Sog der Corona-Krise sukzessive nach unten. Das führte zu massiven Verwerfungen an den Börsen und ließ auch die Borealis-Gewinne einbrechen. Die Borealis-Controller ahnten das im März. Bei massiven Wertverlusten greifen bei Firmenübernahmen in der Regel sogenannte MAC-Klauseln. Bei großen Transaktionen stehen sie fix im Kaufvertrag.

Sie sollen den Käufer vor bösen Überraschungen schützen. Ergeben sich beim Unternehmen oder in dessen Marktumfeld nach Vertragsabschluss erhebliche nachteilige Änderungen (Material Adverse Change, MAC), dann darf der Käufer den Preis senken. Im Extremfall kann ein MAC sogar vertragsauflösende Kraft entfalten.

Der Aktienkaufvertrag wurde am 12. März 2020 unterzeichnet. Demnach wäre am 11. März noch Zeit für Nachverhandlungen gewesen. Doch laut Kurier soll die MAC-Klausel aus dem Vertrag gestrichen worden sein. Warum wurde inmitten der Corona-Krise auf den MAC-Käuferschutz verzichtet? Und wurde der revidierte Financial Forecast dem Aufsichtsrat zur Kenntnis gebracht?

„Leider kann ich zu firmeninternen Daten keine Auskunft geben“, schreibt Gertrude Tumpel-Gugerell in einer Mail an DOSSIER. Tumpel-Gugerell ist OMV-Aufsichtsratsmitglied und war früher Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank. Auch Christoph Swarovski, Tyrolit-Chef und OMV-Aufsichtsratsmitglied, gibt sich gegenüber DOSSIER zugeknöpft: „Wie Sie wissen, bin ich nicht befugt, Ihnen zu den gestellten Fragen Auskunft zu geben. Darf ich Sie bitten, sich direkt an die bei der OMV vertretungsbefugten Organe zu wenden.“

Dementsprechend übermittelte DOSSIER der OMV eine Fragenliste und bat um Stellungnahme zu den Inhalten des Revised Financial Forecast vom März 2020 und den Implikationen auf den Borealis-Kaufpreis. OMV-Pressesprecher Andreas Rinofner bestätigte den Erhalt der Fragenliste, verweigerte aber die Beantwortung.

Die Forecast-E-Mail von Borealis wurde am 11. März 2020 um 19.57 Uhr, also nach Ende der ganztägigen OMV-Aufsichtsratssitzung, an die OMV versandt. Ungeklärt bleibt, wieso eine für den Aufsichtsrat wesentliche Information erst nach Dienstschluss verschickt wurde.

Unbeantwortet bleibt auch die Frage, ob für die Kontrolle über Borealis ein 15-Prozent-Paket nicht vollkommen ausreichend gewesen wäre. Bilanzielle Vorteile wie die Vollkonsolidierung sind auch mit einer Beteiligung von 51 Prozent realisierbar. Weil das 15 Prozent-Paket nur 1,6 Milliarden Euro gekostet hätte, liegen auch finanzielle Vorteile auf der Hand. Die OMV hätte sich 2,5 Milliarden Euro gespart.

Der Borealis-Deal wurde unter dem OMV-Aufsichtsratsvorsitz von Wolfgang Berndt durchgeboxt. Warum wurde die teurere Lösung gewählt? Berndt war für eine Stellungnahme gegenüber DOSSIER nicht erreichbar.

Auf Initiative der Staatsholding Öbag – sie verwaltet die republikeigenen 31,5 Prozent an der OMV AG – wurde der 78-jährige Berndt überraschend als OMV-Präsident abgesetzt. Als Nachfolger wählte die Hauptversammlung im September den Australier Mark Garrett. Der genießt nicht nur einen guten Ruf an den Kapitalmärkten, sondern auch das Vertrauen der Scheiche. Zudem war er von 2007 bis 2018 Vorstandschef von Borealis.

Wolfgang Berndt zählte hingegen zum kleinen Kreis der großen Spender von ÖVP-Obmann Sebastian Kurz, was seinen Aufstieg vom einfachen Mitglied zum Vorsitzenden des OMV-Aufsichtsrats erklären könnte. Cathrine Trattner – die Tochter von FPÖ-Urgestein und Ex-ÖBB-Chefaufseher Gilbert Trattner – zog 2019 auf einem politischen Ticket ins OMV-Kontrollgremium ein. Steuerberaterin Trattner war für eine Stellungnahme nicht erreichbar. 

Garretts Bestellung ist jedenfalls ein Signal gegen politischen Postenschacher im OMV-Aufsichtsrat, über den DOSSIER vor kurzem berichtete.

Opposition wettert gegen türkise Hinterzimmerpolitik

Große Firmenübernahmen bedeuten oft Abteilungsschließungen und Personaleinsparungen. Befürchtet wird der Verlust von Jobs an den OMV-Standorten in Schwechat und Gänserndorf. Darum ist der Borealis-Deal politisch umstritten.

„Die OMV ist kein privater Kegelverein“, sagt SPÖ-Abgeordneter Thomas Drozda gegenüber DOSSIER. „Wenn die OMV dem Staatsfonds der Abu Dhabis ein großes Aktienpaket abkauft, muss das offen und transparent diskutiert werden.“ SPÖ und Neos haben daher parlamentarische Anfragen an Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) eingebracht, in denen sie Aufklärung über die Hintergründe des teuren Borealis-Kaufs fordern. Die OMV fällt in seinen Verantwortungsbereich.

„Finanzminister Blümel verweigert die Beantwortung mit fadenscheinigen Argumenten“, sagt Neos-Abgeordnete Stephanie Krisper. Das nähre den Zweifel, dass nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei: „Wir sind gegen die türkise Hinterzimmerpolitik bei Staatsbeteiligungen und werden Wolfgang Berndt im Ibiza-Untersuchungsausschuss diesbezüglich befragen.“

Die Hauruck-Aktion vor dem Lockdown überraschte nicht nur Politinsider, sondern auch die Börse. Im März stürzte die Aktie auf unter 17 Euro ab, der tiefste Stand seit der Finanzkrise 2008. Auch andere Ölaktien kamen wegen Corona unter Druck: weniger Flugverkehr, weniger Gütertransport und weniger Autofahrer. Weltweit wird weniger Treibstoff verkauft. Für einen Ölkonzern ist das ein Albtraum.

Die OMV hat nun einen Börsenwert von weniger als acht Milliarden Euro. 2019 war die Marktkapitalisierung mehr als doppelt so hoch. Und begonnen hat das Drama mit einer Lipizzaner-Show im Morgenland.