Interview

»Oft fehlt die Menschlichkeit und der Hausverstand«

Anita Palkovich, Chefverhandlerin des Handelskollektivvertrags auf Arbeitnehmerseite, erklärt im DOSSIER-Interview, warum die Arbeitsbedingungen von Supermarktangestellten schlecht sind.

Von Sahel Zarinfard

Supermärkte19.10.2020 

Anita Palkovich ist seit 2007 Wirtschaftsbereichssekretärin in der Gewerkschaft der Privatangestellten, Druck, Journalismus, Papier und verantwortlich für die Branchen- und Kollektivvertragspolitik unter anderem für den Handel. Sie verhandelt Kollektivverträge und Arbeitsrechtsthemen auf Sozialpartnerebene. Palkovich ist seit über 20 Jahren in der gewerkschaftlichen Interessenvertretung tätig und hat nach der Tätigkeit als Bundes­jugendsekretärin die Sozialakademie absolviert.

DOSSIER: Was sind derzeit die meisten Beschwerden, die bei Ihnen einlangen?

Im Moment dreht sich alles um Corona. Die meisten Beschwerden betreffen das Kundenverhalten. Unhöflich, gewalttätig, Beschimpfungen der Beschäftigten, weil die Regale nicht voll geschlichtet sind, weil etwas schmutzig ist – wir haben alles in diesem Bereich. Der Respekt fehlt. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass wir insgesamt diese Tätigkeit wirklich falsch und zu gering bewerten.

In den ersten Tagen der Corona-Krise herrschte Ausnahmezustand, auch am Arbeitsmarkt. Mehr als 50.000 Arbeitslose wurden gemeldet, gleichzeitig gab es in den Supermärkten Personalmangel. Warum?

Ich glaube, das liegt daran, dass die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung im Lebensmitteleinzelhandel zu schlecht sind. Es werden fast nur Teilzeitjobs angeboten, von denen man eine Familie nicht eigenständig ernähren kann. Die Bezahlung ist einfach zu schlecht. Die meisten, die jetzt arbeitslos geworden sind, wollen einen Job haben, von dem man leben kann. Wir haben im Lebensmittelhandel eine Teilzeitquote von über 70 Prozent. Es ist bisher nicht gelungen zu erreichen, die Arbeitszeit auf maximal fünf Tage aufzuteilen. Im Lebensmittelhandel haben wir den größten Anteil an Sechs-Tages-Wochen. Der Kollektivvertrag lässt das zu. All das sind Dinge, die abschrecken.

Warum sind die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung so schlecht?

Natürlich gibt es auch im Handel gute Arbeitgeber. Trotzdem muss man sagen, dass die Arbeitszeiten zeitig in der Früh und am späten Nachmittag beziehungsweise am Abend unattraktiv sind. Für die Freizeitgestaltung, für das Familienleben. Gerade wenn man sich bei jungen Menschen umhört, spielt Arbeitszeit eine zentrale Rolle. Hinzu kommt, dass sich im Handel der Dienstplan ständig ändert. Das sind so Dinge, die vor allem die Jüngeren nicht wollen.

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Rewe suchte nach Ausbruch der Krise händeringend nach neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Tausende Stellen waren ausgeschrieben. Woran lag das?

Die Personaldecke war immer schon extrem knapp bemessen. Extrem, wirklich ganz knapp. Es gibt Computerprogramme, die das kalkulieren. Bei diesen Programmen gibt man die Kundenfrequenz ein, die Einkäufe, die Lieferzeiten, und dieses Programm kalkuliert dann für die Betriebe ganz genau, zu welcher Zeit brauchst du wie viel Personal. Dann sagt dir das Programm zum Beispiel: Wirtschaftlich fährst du am besten mit fünf Teilzeitkräften zu je 20 Stunden, einer Teilzeitkraft mit 30 Stunden und einer Vollzeitkraft. Die Filialen orientieren sich daran. Was das Programm nicht kann: die menschlichen Bedürfnisse und das Leben der Angestellten zu berücksichtigen; dass mal ein Kind oder ein Arbeitnehmer krank wird. Das ist alles so knapp bemessen, dann passiert irgendetwas, das diese Kalkulation über den Haufen wirft, und sorgt dafür, dass kurzfristig jemand einspringen oder länger bleiben muss. Und plötzlich kam Corona: Was man davor schon knapp bemessen hatte, schlug mit der Pandemie mit voller Kraft aus. Es war extrem. Das konnte man nur mehr schaffen, indem man zusätzliches Personal eingestellt hat.

Berechnet dieses Programm die Arbeitsbelastung mit?

Es kalkuliert, dass die Leute keine Pausen machen. Die gesetzlich vorgeschriebene Pause ist erst nach sechs Stunden Arbeitszeit verpflichtend. Das heißt, dass die Leute bis zu sechs Stunden durchgehend arbeiten können. Wir werden in Verbindung mit der Maskenpflicht fordern, dass es nach zwei Stunden bezahlte Pausen für die Angestellten gibt. Die brauchen das. Oft fehlt die Menschlichkeit und der sogenannte Hausverstand. Die müssen vielleicht drei Tonnen Obst und Gemüse in der Früh verräumen, das ist eine körperlich anstrengende Arbeit. Da darf man nicht das Bild haben: Die sitzt eh nur den ganzen Tag an der Kassa.

Gerade während der Krise haben die Supermärkte ein anderes Bild gezeichnet: Die Angestellten wurden zu Heldinnen und Helden des Alltags stilisiert. Als Dankeschön buchte man ihnen Prämien zwischen 50 und 200 Euro, gestaffelt nach Beschäftigungsverhältnis, auf ihre Mitarbeiterkarte.

Das ist in den Medien gar nicht so angekommen. Da hat es nur geheißen, dass sie eine Prämie bekommen haben. Ich habe das für eine gute Geste gehalten von den Unternehmen, weil diese Prämie sehr rasch gekommen ist. Das war ja schon zwei bis drei Wochen nach dem Shutdown. Es war sicher auch mit ein Punkt, das Personal und die Beschäftigten zu motivieren. Aber das kann nicht alles gewesen sein. Wir fordern eine Prämie für die Handelsangestellten.

Was müsste sich ändern, damit die Angestellten besser bezahlt werden?

Im Endeffekt geht es viel um Fairness und bessere Arbeitszeitbestimmungen, wo es vielleicht mehr um Selbstbestimmung geht. Ein banales Beispiel: zu Silvester, am Nachmittag. Ich verstehe das nicht, warum man nicht um 15 Uhr zusperren kann. Es hatte bis 2018 ein Commitment gegeben, diesen Passus nicht anzuwenden. Aber einer hat damit angefangen, und die anderen sind nachgezogen. Hofer hat damit angefangen und gesagt, wir sperren länger auf. Das war 2018, 2019 sind Rewe und Spar nachgezogen. Nur Lidl hat gesagt, nein, wir sperren weiterhin um 15 Uhr zu. Es hat geheißen, die Kundenfrequenz sei so toll gewesen und die Nachfrage der Kunden sei eben gegeben. Okay, meinetwegen, aber dann zahlt euren Angestellten einen Zuschlag für längere Öffnungszeiten, damit sie auch etwas von dem tollen Geschäft haben. Das sind so Dinge, wo wir sagen, wenn es schon sein muss, dann lasst uns das steuern, und vereinbaren wir einen Zuschlag für den Nachmittag, damit der Handel nicht einfach leichtfertig aufsperrt.

Es macht den Eindruck, als ob das Arbeiten im Supermarkt so einfach wäre, dass diesen Job jeder machen könnte. Täuscht das, oder gehört dieser Beruf den „einfachen Berufen“ an?

Man muss vorsichtig sein mit dem Wort „einfach“, aber es gibt im Supermarkt sicherlich Tätigkeiten, für die man keine spezifische Ausbildung braucht. Die Arbeitsprozesse sind massiv zerlegt worden, das Konzept der Teilzeitstellen kommt daher. Je größer ein Unternehmen, desto einfacher ist die Zerlegung. Es gibt durchaus Tätigkeiten, die mit einer einfachen Einschulung gemacht werden können. Man muss Deutsch können, leider scheitern auch viele daran. Das erzählen mir Betriebsräte immer wieder, dass viele kommen und sich bewerben wollen, aber leider nicht Deutsch können. Somit verstehen sie Arbeitsanweisungen nicht, geschweige denn der Kundenkontakt. Man lernt das Arbeiten im Supermarkt nicht in einer Stunde oder an einem Tag, aber die Technologie hat viel an qualifizierten Tätigkeiten abgenommen. Die Verantwortung ist aber geblieben. Die Abwertung sozialer Kompetenzen ist ein Problem. Die Menschen im Handel brauchen eine gewisse Empathie, eine Freundlichkeit, ein gewisses Einfühlungsvermögen, eine gewisse Rhetorik, Produktkunde, und die betrieblichen Abläufe sind oft komplex. Man sieht nur, dass sie etwas in ein Regal hineinräumen, oder die zieht halt Produkte über eine Kasse. Darin liegt viel in der Abwertung, dass viele Kompetenzen nicht sichtbar sind.

Rewe-Österreich-Chef Marcel Haraszti kämpft seit Jahren für eine Ausdehnung der Öffnungszeiten von derzeit maximal 72 Stunden auf 76 Stunden in der Woche. Vier Stunden mehr hört sich jetzt nicht nach so viel an.

Hier geht es nur um einen Verdrängungswettbewerb, damit man schon um sieben Uhr aufsperren kann und nicht erst um 7.20 Uhr. Es geht um diese zwanzig Minuten in der Früh. Wenn man 20 Minuten früher aufsperren möchte, müssen die Beschäftigten entsprechend früher in die Filialen kommen, um alles vorzubereiten. Einerseits hat man hier wieder das Problem mit der Kinderbetreuung, zum anderen geht es darum, den Wettbewerb gegenüber dem Bäcker, also Kleinunternehmen, zu befeuern, und das ist nur eine Verdrängung. Es ist ein Verdrängungswettbewerb, damit man schon um sieben Uhr aufsperren kann und nicht erst um halb acht. Die Leute sollen nicht beim Bäcker, sondern bei Billa ihr Frühstück kaufen. Gehe ich jetzt zum Bäcker und kaufe mir dort mein Frühstück, oder gehe ich zum Billa? Es gibt keinen Mehrwert für den Konsum insgesamt, es geht nur um eine Verschiebung. Betriebswirtschaftlich gesehen mag dieser Wettbewerb okay sein, aber es gehen hier nur Arbeitsplätze verloren. Das Argument, längere Öffnungszeiten führen zu einer höheren Beschäftigungsquote im Handel, aber woanders gehen sie eben verloren, zum Beispiel beim Bäcker.

Gibt es etwas, das Konsumenten tun können, damit sich die Arbeitsbedingungen von Supermarktangestellten bessern?

Man kann vor allem darauf schauen, wann ich einkaufen gehe. Zu welchen Zeiten und wie oft. Auch wie das Online-Shopping-Verhalten ausschaut. Man kann als Konsument schon den Handel beeinflussen. Respekt haben, grüßen, Bitte und Danke sagen. Wenn man berufstätig ist, kann man nur zu bestimmten Uhrzeiten einkaufen gehen, aber wir müssen uns schon fragen, ob es notwendig ist, nach 20 Uhr einkaufen zu gehen. Ob es nicht doch möglich ist, den Einkauf so zu planen, dass vor 19 Uhr alles erledigt ist. Alles andere ist Bequemlichkeit, wo wir uns als Gesellschaft die Frage stellen müssen, ob es ein Grundkonsens sein soll, dass manche am Sonntag arbeiten müssen, damit andere es bequemer haben.