Die ganz normale Ausbeutung

Die Arbeitsbedingungen im ­Supermarkt sind alles andere als super: geringe Wertschätzung und miese Bezahlung bei hoher Arbeitsbelastung. ­DOSSIER hat mit den vielzitierten Heldinnen und Helden des Alltags­ gesprochen und erfahren, wie sich ihre Arbeitgeber durch falsch geführte Arbeitszeitaufzeichnungen Millionen Euro sparen können.

Supermärkte26.9.2020 

Text: Sahel Zarinfard
Mitarbeit: Armin Nadjafkhani, Elena Zeh
Fotografie: Elisabeth Mandl

»20. März 2020, Tag zwei bei Billa: Radio Max nervt extrem. Im Radio ständig so ›Danke an alle im Einzelhandel‹, aber vielleicht kommt jemand auf die Idee, statt Worten mehr Geld springen zu lassen. Ich habe Rückenweh.« Matthias Stiedl führt Tagebuch im Staccato. Wochenlang berichtet er fast täglich auf Facebook von seinem Arbeitsalltag als Filialmitarbeiter bei Billa. Der 31-Jährige betreibt einen Indoorspielplatz im vierten Wiener Gemeindebezirk, doch die Corona-Pandemie machte dem Selbstständigen einen Strich durch die Rechnung. Er brauchte Geld, und zwar rasch. Als Regalschlichter im Supermarkt anzufangen erschien ihm als krisenfeste Alternative.

Nur drei Tage nach Verkündung des Lockdowns suchte die Rewe-Gruppe händeringend nach zusätzlichem Personal und stellte mehr als 1.000 neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein – darunter Matthias Stiedl. Als Neuling in der Lebensmittelbranche merkt er bald, wie wenig Anerkennung der Job mit sich bringt: »Es kommen Dankesworte vom Bürgermeister, wie toll doch die Angestellten sind. Das ist ein Hohn, denn es gibt sonst keine Wertschätzung«, sagt Stiedl zu DOSSIER.

Die Pandemie machte deutlich, wie wichtig die Arbeit von Supermarktangestellten ist; ohne sie wäre die Lebensmittelversorgung unmöglich gewesen. Wie medizinisches Personal sind auch sie »systemrelevant«. Anfangs noch ohne Schutzmasken, erlebten sie die Wucht der Hamsterkäufe hautnah mit: leergefegte Regale, ausverkaufte Produkte, größere Lieferungen als üblich, verärgerte Kundschaft. Die Kassen liefen heiß, die Angestellten waren im Dauerstress.

Für ihre Arbeitgeber hingegen war es das Geschäft ihres Lebens: Rewe verzeichnete an jenem 13. März, an dem Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) Ausgangsbeschränkungen ankündigte, den größten Tagesumsatz in seiner Firmen­geschichte. Hofer verbuchte im März und April ein Umsatzplus von rund zehn Prozent. Spar überholte gar im April durch gestiegene Umsätze von rund 23 Prozent die Konkurrenz und sicherte sich den ersten Platz als Marktführer.

Von den üppigen Einnahmen kam bei den Angestellten jedoch wenig an: Für ihren Einsatz an der Corona-Front bekamen sie im April zwischen 50 und 200 Euro – in Form von Lebensmittelgutscheinen. 

Die Krise zeigte auch, unter welch prekären Bedingungen hier gearbeitet wird, etwa wenn es um heillos unterbesetzte Filialen geht: »Alle Angestellten haben ihr Möglichstes geleistet. Aber es war schon ärgerlich zu sehen, dass in den ersten Tagen der Krise über 50.000 neue Arbeitslose gemeldet wurden, während der Mangel an Angestellten im Supermarkt sehr groß war. Hier will man offensichtlich nicht arbeiten«, sagt Anita Palkovich, seit 2007 in der Gewerkschaft der Privatangestellten und Chefverhandlerin des Handelskollektivvertrags.

Die Gründe dafür liegen in der Branche selbst, wie sie sagt: »Es werden fast nur Teilzeitjobs angeboten, von denen man eine Familie nicht eigenständig ernähren kann. Die Bezahlung ist einfach zu schlecht.« Nicht umsonst steht die Billa-Kassiererin stellvertretend für einen miserablen Job: viel zu tun, schlechte Bezahlung, kaum Aussicht auf Besserung.

Auch wenn die Lebensmittelriesen seit den 1970er-Jahren Betriebsräte in ihren Unternehmen etabliert haben, bleiben die Interessen ihrer Angestellten vielfach auf der Strecke – oder werden vor der Öffentlichkeit versteckt. Denn ohne Zustimmung der Pressestelle dürfen Betriebsräte nicht sprechen, und diese Erlaubnis wird, wenn überhaupt, nur unter strengen Auflagen erteilt. Bei Rewe beispielsweise wurden vereinbarte Interviews mit Betriebsräten und Filialbesuche in deren Begleitung mehrmals verschoben und schließlich ganz abgesagt; bereits geführte Interviews teilweise zurückgezogen und Fototermine untersagt. Bei Hofer sind Fragen nur schriftlich erlaubt, der E-Mail-Verkehr mit dem Betriebsrat musste unter Aufsicht einer PR-Agentur erfolgen.

Dabei könnten gerade Betriebsräte viel über die Anliegen und Beschwerden der Angestellten erzählen. Etwa dass der Arbeitsdruck zunimmt, das Angebot in den Regalen wächst oder die Dienstzeiten zunehmend schwieriger mit dem Familienleben zu vereinbaren sind – das alles bei einem Mindestlohn von rund 1.700 Euro brutto für einen Vollzeitjob.

Rewe, Spar und Hofer zählen mit insgesamt rund 102.700 Angestellten zu den größten privaten Arbeitgebern des Landes: »Das sind politische Größen. Selbst Gewerkschaft und Arbeiterkammer sind heute froh, wenn sie bei den jährlichen Verhandlungen über den Kollektivvertrag zu fairen Erfolgen kommen«, sagt ein Experte aus dem Produktionsbereich. Dass er wie auch viele andere Gesprächspartner nicht namentlich genannt werden will, zeigt einmal mehr die Macht, die von den Lebensmittelriesen ausgeht.

Denn auch sie sind systemrelevant, allen voran als Arbeitgeber ­– ­ein möglicher Grund dafür, warum Missstände auf Kosten der Angestellten oft jahrelang geduldet werden und bis heute anhalten. Das zeigen ­DOSSIER-Recherchen über falsch geführte Arbeitszeitaufzeichnungen: Gerichtsakten und Gespräche mit Angestellten machen systematisches Fehlverhalten deutlich.

Wie viel sich die Handelsriesen ersparen, wenn nicht jede geleistete Arbeitsminute auch entlohnt wird, dazu gibt es keine genauen Zahlen. Man kann sich dem aber annähern: Das Bruttojahresgehalt einer Vollzeitkraft im ersten Jahr liegt bei 23.996 Euro. Bei 250 Arbeitstagen im heurigen Jahr kostet eine Arbeitsminute 21 Cent. Würden nur zehn Prozent der 102.700 Supermarktangestellten täglich fünf Minuten unbezahlt arbeiten, ersparten sich ihre Arbeitgeber damit rund 2,7 Millionen Euro pro Jahr – exklusive anderer Kosten wie etwaiger Dienstgeberabgaben.

Gratis arbeiten, sagt der Hausverstand 

Ein Teil der Arbeit im Supermarkt wird verrichtet, bevor sich die Schiebetüren öffnen. Als Supermarktangestellter musste Matthias Stiedl seinen Dienst oft schon um sechs Uhr in der Früh beginnen. So zeitig stehen unvermeidliche Vorarbeiten an, bevor die Filiale um 7.15 Uhr aufsperrt: Obst und Gemüse werden aus dem Kühllager auf die Verkaufsfläche gebracht und einsortiert; bei verderblicher Ware wie Milch und Joghurt wird das Ablaufdatum kontrolliert und gegebenenfalls rabattiert; Zeitungen müssen eingeschlichtet und die Kassen gestartet werden. Parallel dazu befüllt das für die Feinkosttheke zuständige Personal die Backwarenbox und richtet Jausenbrote her.

Eine Stunde und fünfzehn Minuten haben die Angestellten Zeit, bis die erste Kundschaft die Filiale betritt. Wer bis dahin nicht fertig wird, muss sich rechtfertigen: zunächst vor der Filialleitung, später vor dem übergeordneten Regionalmanager. Wie das aussehen kann, schildert die Mitarbeiterin einer Wiener Billa-Filiale.

Anstatt wie der Rest der Belegschaft um sechs Uhr den Frühdienst zu beginnen, fängt die Mittfünzigerin meist gegen fünf Uhr zu arbeiten an. Ihren Namen möchte die Feinkostmitarbeiterin nicht veröffentlicht wissen, um ihren Arbeitsplatz nicht zu riskieren. Über die unbezahlten Arbeitsstunden spricht sie dennoch: Die tiefgefrorenen Teiglinge für die Backbox müssen erst auftauen, bis sie im Ofen aufgebacken werden können. Zeitgleich schmiert sie dutzende Jausenbrote, belegt sie mit Wurst, Käse und Gemüse, packt sie in Plastik ein und klebt das Preisschild darauf. Dabei steht ihr keine Kollegin zur Seite, bis zu Ladenöffnung muss sie allein mit den Vorbereitungen fertig werden.

»Es ist viel zu viel zu tun und die Filialen fast immer unterbesetzt. Wenn ich nicht rechtzeitig fertig werde, gibt es Streit mit meinem Regionalmanager. Ich sei selber schuld, solle einfach schneller arbeiten, dann ginge es sich schon aus. Andere schaffen es ja auch, sagt er dann«, erzählt sie.

Gewerkschafterin Anita Palkovich bezeichnet die Unterbesetzung der Filialen als Normalzustand. Aus Kostengründen wird am Personal gespart, mit System: »Die Personaldecke war immer schon extrem knapp bemessen. Das machen eigene Computerprogramme, bei denen man die Kunden­frequenz, die Anzahl der Einkäufe und die Lieferzeiten eingibt, und das Programm berechnet dann, zu welcher Zeit wie viel Personal gebraucht wird«, sagt Palkovich.

Aber was passiert, wenn die ­Arbeitsbelastung unzumutbar wird, Kolleginnen krankheitsbedingt ausfallen oder gar eine globale Pandemie ausbricht? Die Ketten konnten der Unterbesetzung in ihren Filialen während Corona nur mit zusätzlichem Personal etwas entgegensetzen – oder beim Staat um Hilfe ansuchen.

Insgesamt waren etwas mehr als 300 Soldatinnen und Soldaten des Bundesheeres in den Lebensmittellagern von Rewe, Spar und Hofer im Einsatz. Trotz Personalmangels schickte Rewe 400 Personen in Kurzarbeit, bei Spar inklusive Sporthändler Hervis und der Interspar-Restaurants waren es gar rund 2.000 Angestellte.

Ein Bil­la-Manager, der nicht namentlich genannt werden möchte, kennt die Feinkostmitarbeiterin nicht, die aus Angst, den Job zu verlieren, früher zu arbeiten beginnt – ihre Filiale liegt nicht in seinem Gebiet. Doch ganz fremd ist ihm das Problem der unbezahlten Arbeitszeit nicht: »Das ist ganz einfach eine schlampige Vorbereitung vom zuständigen Regional­manager. Da gibt es genaue Abläufe, die eingehalten werden müssen. Wenn das nicht passiert, wollen sie dann, dass man früher anfängt. Aber diese Fehler müssen angesprochen werden«, sagt er.

Von diesen Fehlern will die Rewe-Gruppe jedoch nichts wissen: »Wir haben in unseren Handelsfirmen ein elektronisches Zeiterfassungssystem. Die Aufzeichnungen werden regelmäßig auf richtige Erfassung der Arbeitszeiten überprüft. Dies erfolgt von den zuständigen Führungskräften sowie der internen Revision. Auch sind laufend unsere Betriebsräte vor Ort. Solche Missstände sind in keiner Weise geduldet«, schreibt die Pressestelle. 

Darf’s ein bisschen weniger sein?

Dass es sich bei der zitierten Feinkostmitarbeiterin um keinen Einzelfall handelt, zeigen Gerichtsprozesse über falsch geführte Arbeitszeiten aus den vergangenen Jahren. Der bekannteste Fall betrifft die Spar-AG. In ihrem Zeiterfassungssystem waren die Dienstpläne mit vorgegebenen Arbeits- und Ruhezeiten bereits eingespeist. Die tatsächlich geleistete Arbeitszeit sei zwar erfasst, aber nicht ausbezahlt worden, so der Vorwurf des Arbeits­inspektorats, der im Jänner 2015 zu einer Strafanzeige führte. Betroffen waren insgesamt 213 Angestellte in 14 Filialen. In einer Wiener Interspar-Filiale etwa waren die Pausen von 9 Uhr bis 9.15 Uhr im Zeiterfassungssystem festgeschrieben. Wenn die Angestellte die Pause aber erst um 9.10 Uhr antreten konnte, wurden ihr nicht fünf, sondern die ganzen 15 Minuten als Pause verbucht. Machte sie allerdings länger Pause – beispielsweise von 8.55 Uhr bis 9.20 Uhr –, wurden ihr sehr wohl 25 Minuten als Pause verrechnet.

Das Salzburger Landesverwaltungsgericht verhängte 2016 eine Geldstrafe gegen die Handelskette, die wenig später ihr System umstellte: »Aufgrund der vielen Probleme mit dem Arbeitsinspektorat bezüglich Grauzeiten ist es notwendig, dass alle gestempelten Zeiten ab 2017 als Arbeitszeit gerechnet werden. Somit gibt es keinen automatischen Pausenabzug beziehungsweise eine Entstehung von Grauzeiten«, heißt es in einem Schreiben der Spar-Zentrale an alle Filialen.

Trotz der Umstellung wehrte sich das Unternehmen juristisch gegen das Urteil, zog vor den Verwaltungsgerichtshof und bekam 2018 auch recht. Die Geldstrafe musste nicht gezahlt werden, denn Spar sei den gesetzlichen Anforderungen zur mängelfreien Aufzeichnung von Arbeitsstunden sehr wohl nachgekommen. Die korrekte Verrechnung der tatsächlich geleisteten Arbeitszeiten war aber nicht Gegenstand im Erstverfahren. Ist es nun aufgrund der Grauzeiten zu nicht bezahlter Arbeit gekommen? »Das ist eine Falschinterpretation Ihrerseits. Es gab eine – gerichtlich bestätigte – korrekte Arbeitszeitaufzeichnung, und das bedeutet, es gab auch eine korrekte Abrechnung«, sagt Spar-Konzernsprecherin Nicole Berkmann.

Auch sonst kommen die Handelsriesen bei Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz mit einem blauen Auge davon: Rewe musste rund 14.000 Euro Strafe bezahlen, weil Merkur-Angestellte im Jahr 2015 mehr als die damals zulässigen zehn Stunden pro Tag gearbeitet hatten. Im Dezember, im umsatzstärksten Monat des Jahres, hatte »die tägliche Arbeitszeit bei 18 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr als zehn Stunden betragen. Die wöchentliche Arbeitszeit mehr als 50 Stunden, wobei keine ausreichende Ruhezeit gewährt worden war«, so die Entscheidung des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich im Juli 2017.

Und auch beim Diskonter Penny, der ebenfalls zur Rewe-Gruppe gehört, waren sechs Angestellte bei einer Kontrolle des Arbeitsinspektorats »massiven psychischen Belastungen durch Ganztagsdienste zu je zehn Stunden und erhöhtem Arbeitstempo ausgesetzt«, heißt es aus dem Urteil des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich von März 2017. Mit einer Geldstrafe von 1.800 Euro kam Rewe glimpflich davon: Die Summe entspricht in etwa einem Bruttomonatsgehalt einer Kassiererin.

Montag bis Samstag, von früh bis spät

Das Einstiegsgehalt einer Supermarktangestellten liegt laut Kollektivvertrag bei exakt 1.714 Euro brutto für eine Vollzeitstelle. Eine Teilzeitangestellte mit 20 Wochenstunden  bekommt 890 Euro – ein Wert unterhalb des Existenzminimums. In der Lebensmittelbranche arbeiten im Durchschnitt rund 70 Prozent der Angestellten in Teilzeit, und davon sind rund 80 Prozent Frauen: »Sehr viele suchen nach der Babypause eine Teilzeitbeschäftigung. Die meisten bleiben aber auf diesen Stunden picken, auch wenn sie gerne Stunden aufstocken würden. Das ist nur schwer möglich, weil die Arbeitgeber das nicht wollen«, sagt Barbara Teiber, Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Privatangestellten.

Denn Teilzeitbeschäftigte haben für die Ketten den Vorteil, dass sie flexibler eingesetzt werden können: Im Dienstplan decken sie die Arbeitsspitzen in der Früh und am Abend ab. Die Teilzeitarbeit birgt aber auch Nachteile, und zwar für die Angestellten selbst: Die ständig wechselnden Arbeitszeiten und der Niedriglohn erschweren das Familienleben, zwei Faktoren, die neben dem Arbeitsdruck ausschlaggebend für die schlechten Arbeitsbedingungen im Handel sind.

Einzig die Diskonter Hofer mit 2.008 Euro und Lidl mit 1.921 Euro zahlen freiwillig mehr als den Mindestlohn. Warum? »Wir wissen, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Großartiges leisten, weshalb diese Leistung überdurchschnittlich entlohnt wird. Das Gehalt ist ein wesentlicher Faktor für die erfolgreiche Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit. Wir möchten damit die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen«, heißt es von Hofer.

Die bessere Bezahlung hat allerdings auch ihren Hofer-Preis: Nach einer Erhebung der Zeitschrift Konsument von November 2016, dem Magazin des Vereins für Konsumenteninformation (VKI), arbeiten in Diskontläden die wenigsten Angestellten pro 100 Quadratmeter – ein Wert, an dem sich die Arbeitsbelastung misst. Dadurch steigt der Arbeitsdruck, nicht zuletzt, weil dort in der Regel schneller gearbeitet werden muss. Wie viele Angestellte üblicherweise auf der Verkaufsfläche stehen, wollen weder Hofer noch Lidl auf DOSSIER-Anfrage sagen: Sie würden diesen Faktor schlichtweg nicht erheben. 

»Ich hatte schon an meinem zweiten Arbeitstag Rückenschmerzen«, sagt Matthias Stiedl, der Kurzzeit-Supermarktangestellte bei Billa. »Man muss sehr viel tragen, heben, schleppen, wenn man die Regale befüllt. Wann immer die Lieferung am Vormittag kommt, wird einsortiert, der Rest wird auf den Regalen oben verstaut. Da muss man immer die Reihen ordentlich halten und runter oder rauf, von hinten nach vorne sortieren«, sagt er. Montag bis Samstag von sechs Uhr in der Früh bis teils neun Uhr am Abend.

Aus Sicht der Konzernbosse dürfte es gerne noch ein bisschen mehr sein. Seit Jahren kämpft Rewe-Österreich-Chef Marcel Haraszti für eine Ausdehnung der regulären Öffnungszeiten von derzeit maximal 72 auf 76 Stunden in der Woche. Dabei haben die Handelsketten schon jetzt einen Weg gefunden, wie sie die Öffnungszeiten umgehen und indirekt auch am Sonntag Geschäft machen können – über ausgelagerte Shops in Tankstellen.

Längere Öffnungszeiten sollen in erster Linie Bäckereibetriebe in Bedrängnis bringen, wie Gewerkschafterin Anita Palkovich sagt: »Es ist ein Verdrängungswettbewerb, damit man schon um sieben Uhr aufsperren kann und nicht erst um halb acht. Die Leute sollen nicht beim Bäcker, sondern bei Billa ihr Frühstück kaufen.«

Welche Auswirkungen längere Öffnungszeiten auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf haben, schildert ein Billa-Manager: »Die Kundschaft erwartet sich um halb acht in der Früh frisches Gebäck. Also müssen die Angestellten mindestens um sechs Uhr beginnen. Finde einmal jemanden, der da anfangen kann. Das hängt mit Kindergartenöffnungs­zeiten zusammen. Das Gleiche betrifft Abenddienste. Welcher Kindergarten hat bis 19 oder 20 Uhr offen? Konflikte innerhalb der Belegschaft sind da vorprogrammiert«, sagt er.

Jede Minute der gesetzlich zulässigen Öffnungszeiten wird ausgereizt, auch an Tagen, die bislang als tabu galten. Den Startschuss lieferte Hofer zu Silvester 2018. Statt wie gewohnt bis 15 Uhr konnten Kundinnen und Kunden erstmals bis 17 Uhr einkaufen. Möglich machen das Feiertagsregelungen im Öffnungszeitengesetz: Sofern Feiertage auf einen Wochentag fallen, können die dadurch entgangenen Stunden nachgeholt werden.

»Es hatte bis 2018 ein Commitment gegeben, diesen Passus nicht anzuwenden. Aber einer hat damit angefangen, und die anderen sind nachgezogen«, sagt Palkovich. Und tatsächlich: Um keinen Wettbewerbsnachteil zu erleiden, sperrten auch Billa und Merkur bis 17 Uhr auf, Spar zog ein Jahr später nach. Für die zwei zusätzlichen Stunden gab es bei allen drei Unternehmen keinen Zuschlag für die Angestellten – und das, obwohl die Arbeitsbelastung zu dieser Jahreszeit besonders hoch ist.

Der Konkurrenzkampf der Lebensmittelgiganten findet eben auch auf dem Rücken der Angestellten statt: »Man kann Geld abheben, Erlagscheine einzahlen, bei manchen Produkten müssen die Kassiererinnen händisch Rabatte abziehen, Gutscheine einlösen, nach Kundenkarten fragen, dann noch die ganzen Aktionen«, sagt Werner Hackl, seit 2018 Vorsitzender des Billa-Betriebsrats. »Was immer mehr wird, ist die Belastung, was gleich bleibt, ist die Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter«, sagt er.

Auch die Zukunft bietet kaum Aussichten auf Besserung, denn die Digitalisierung macht auch vor dem Supermarkt nicht halt. Selbstbedienungskassen etwa machen die Kundschaft zu Mitarbeitenden und erlauben es den Lebensmittelketten, noch mehr am Personalstand zu sparen. Übrig bleiben unter­besetzte Filialen und überlastete Angestellte.

Matthias Stiedl hat nach nur zwei Monaten als Regalschlichter im Mai 2020 gekündigt. Er sagt, das Gehalt entspreche einfach nicht der Leistung, die er ins Unternehmen eingebracht hat. In der schlechten Bezahlung liegt auch für einen Billa-Manager das gravierendste Problem dieser Branche: »Bei diesen Gagen wird es nicht funktionieren, Menschen zu bekommen, die engagiert, flexibel und motiviert sind, im Supermarkt zu arbeiten. Der Handel hat ein schlechtes Image. Man glaubt, hier arbeiten nur Leute zweiter Klasse.«