Der Zeitpunkt ist entscheidend. Werbende schalten dann, wenn ihre Einschaltungen die größte Wirkung entfalten. Autobauer vor Automessen, Verlage vor Buchmessen und politische Parteien vor Wahlen. So weit, so nachvollziehbar. Doch ein paar Werbekunden verhalten sich ungewöhnlich: Österreichs Regierungen.
Die Dimension der aktuellen Inseratenaffäre wird durch das Muster der Werbeeinschaltungen der Regierungen erkennbar. Es geht um nichts Geringeres als um die heilige Kuh der Demokratie: Wahlen, auf Bundes- wie Landesebene.
In Österreich wird im Herbst gewählt, meist gegen Ende September oder Anfang Oktober. Am 29. September 2019 war zuletzt der Nationalrat dran. Davor standen auf Bundesebene Wahlen am 15. Oktober 2017, am 29. September 2013, am 28. September 2008 und am 1. Oktober 2006 an.
Auch über Wiens Gemeinderat stimmte das Volk in der jüngeren Vergangenheit zu ähnlichen Terminen ab. Fast auf den Tag genau: am 11. Oktober 2020, am 11. Oktober 2015, am 10. Oktober 2010 und am 23. Oktober 2005. Der Zeitpunkt ist entscheidend.
Denn von diesem hängen nicht nur die Werbeaktivitäten politischer Parteien ab, sondern auch jene der Bundes- und der Wiener Landesverwaltung. In den drei Monaten vor der Wahl schießen die Inseratenausgaben der Ministerien oder der Stadt Wien stets in die Höhe.
Wenn man nun – und wenige würden das bestreiten – in Österreich mit Inseraten Berichterstattung kaufen kann, müssen die Alarmglocken schrillen.
Saure-Inseraten-Zeit
In Österreich bedienen sich Regierende im Wahlkampf an den Steuergeldtöpfen der öffentlichen Verwaltung. Sie schalten dann mehr Werbung, wenn gewählt wird. Das zeigen die seit 2012 existierenden Medientransparenzdaten und unsere Erhebungen, die bis ins Wahljahr 2006 zurückreichen.
Das bestätigt auch Klaus Fessel, der Focus Media Research mitaufgebaut hat; ein Unternehmen, das mit dem Zählen und Auswerten von Inseraten sein Geschäft macht. „Wenn die Wahlen im September und Oktober sind, schaltet die Regierung im dritten Quartal mehr“, sagt Fessel zu DOSSIER. Interessant.
Denn im dritten Quartal, im Juli, August und September, ist am Werbemarkt eigentlich Flaute. In Redaktionen spricht man von der sogenannten Saure-Gurken-Zeit. Die Menschen sind auf Urlaub, in Unternehmen und bei Medien. Es gibt weniger zu berichten. Firmen fahren ihre Werbeausgaben zurück. Üblicherweise auch die Ministerien und die Stadt Wien. Nur eben dann nicht, wenn gewählt wird.
Dann läuft die Saure-Inseraten-Zeit an. Dann schalten Ministerien mitunter sogar mehr Inserate als politische Parteien, für die es im Wahlkampf eigentlich um alles gehen sollte; schließlich stehen Parteien zur Wahl und nicht die Ministerien.
DOSSIER beobachtete den Werbewahn öffentlicher Verwaltungen live im Wahlkampf um Wien 2015 und in jenem um das Land 2017. Damals zählten wir zusätzlich zu den ohnehin, aber mit Verzögerung veröffentlichen verfügbaren Medientransparenzdaten Inserate in ausgewählten Zeitungen. Übrigens nicht unser erstes Mal.
Wenn Ministerien zu Parteien werden
Bereits zur Gründung von DOSSIER im Jahr 2012 hatten wir sämtliche Inserate von politischen Parteien, Ministerien, Gebietskörperschaften und öffentlichen Unternehmen in vier Tageszeitungen erhoben. Das Ergebnis verblüffte uns damals schon. Nicht die Inseratenkurven der politischen Parteien, die waren ebenso gewöhnlich wie nachvollziehbar.
Die größten Ausschläge gab es vor Wahlen. Klar.
Politischen Parteien
Das Verblüffende waren die Ausschläge in den Inseratenkurven der Bundesregierungen. Auch die Ministerien inserierten! Fast wie bei den politischen Parteien stiegen die Ausgaben im dritten Quartal vor den Nationalratswahl 2006 und 2008 an.
Bundesregierung
Und wenn Sie jetzt fragen, was der Anstieg ab 2009 zu bedeuten hat, beginnen Sie die Dimension des Problems zu verstehen. Die Kurve der Bundesregierung steigt und steigt. Es wird immer mehr ausgegeben. Ein Trend, der heute wieder in den Medientransparenzdaten zu erkennen ist.
Regierungswerbung nach Quartal
Erneut waren das dritte Quartal 2013 und das dritte Quartal 2017 Wahlquartale – erneut sind sie zu ihrer jeweiligen Zeit Spitzenreiter, wenn man so will, die Besten ihrer Ära. Unter Türkis-Blau wächst das Anzeigenvolumen an, mit Corona ist der Damm gebrochen.
Die Ausnahme: das dritte Quartal 2019. Ein Zufall?
Mitnichten, es ist das Bierlein-Quartal. Der Hintergrund: Die einzige Regierung, die sich dem undemokratischen Spiel des Inserierens vor Wahlen in den vergangenen 15 Jahre entzog, war jene unter Kanzlerin Brigitte Bierlein, die nach der Ibiza-Affäre die Verantwortung für das Land übernommen hatte.
Alle Ministerien, die von Expertinnen und Experten geführt wurden und nicht zur Wiederwahl standen, folgten trotz bevorstehender Nationalratswahl nicht dem bis dahin bekannten Muster. Besonders deutlich: das Bundeskanzleramt. Das gab im dritten Quartal 2019 nicht einen Cent für Werbung aus.
In Deutschland hui, in Österreich pfui
In Deutschland läuft es seit 1977 bei jeder Wahl so, nicht nur wenn Expertinnen und Experten regieren. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts schob dem Wildwuchs von Regierungsinseraten im Wahlkampf schon damals einen Riegel vor. Die CDU hatte die regierenden SPD und FDP deswegen geklagt. Das Urteil wirkt bis heute.
Vierzig Jahre später, 2017 – ein Wahljahr in der Bundesrepublik und in Österreich –, schrieb das Bundespresseamt an DOSSIER, dass man mit „zunehmender Nähe zur Wahlentscheidung“ auf mehr „Zurückhaltung und Neutralität in der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung“ achte. Deswegen wird in Deutschland in dieser für eine Demokratie heiklen und entscheidenden Zeit weniger inseriert.
Nicht so in Österreich, nicht so in Wien. Dasselbe demokratiepolitisch bedenkliche Muster ist in der Hauptstadt zu beobachten. Auch hier sind die Werbeausgaben in dritten Quartalen besonders hoch, wenn gewählt wird.
Vom dritten Quartal 2014 auf 2015 – am 11. Oktober 2015 wurde der Gemeinderat gewählt – stiegen sie von knapp fünf Millionen Euro auf mehr als 9,3 Millionen Euro an. Vom Jahr 2019 auf das Jahr 2020 – es wurde wieder am 11. Oktober gewählt – schossen die Inseratenausgaben der Stadt von 5,1 Millionen Euro auf fast 8,5 Millionen Euro hinauf. Mit Horoskop oder Aberglauben hat das in Wien und im Bund nichts zu tun. Es ist Kalkül.