Harakiri in Zeitlupe

Die psychische Gesundheit junger Menschen wurde zwei Jahrzehnte lang politisch ignoriert. Die Pandemie hat die Notlage in der Kinder- und Jugendpsychiatrie verschärft. Wie konnte es ­ so weit kommen? Eine Spurensuche.

Text: Ashwien Sankholkar; Artwork: Andrea Z. Scharf

Gesundheit25.3.2022 

Mit Pomp und Trara eröffnete die Klinik Floridsdorf im Juni 2019 ihre Pforten. Unter dem früheren Namen Krankenhaus Nord hatte sie für Skandale gesorgt. Kostenexplosionen und Politdiskussionen zogen den Bau des Prestigeprojekts in die Länge. Auf die nagelneue Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) war man besonders stolz.

Die neue KJP-Station wurde mit 24 Betten und sechs tagesklinischen Plätzen konzipiert, die Ambulanz für 3.500 Patient·innen pro Jahr ausgelegt. Es wurde »ein weiterer Meilenstein im Ausbau des kinder- und jugendpsychiatrischen Angebots gelegt«, ließ Evelyn Kölldorfer-Leitgeb, die Chefin des Wiener Gesundheitsverbunds (Wigev), feierlich verkünden.

Die Bezeichnung Mahnmal wäre wohl treffender, denn heute wirkt die KJP-Abteilung im Norden Wiens wie eine Geisterstation. Die Betten sind leer. Im modern eingerichteten Aufenthaltsraum herrscht oft gähnende Leere. Im hellen Turnsaal sporteln wenige, und Kinderstimmen hört man im Spitalspark auch nur selten.

»Dass der stationäre Betrieb nicht im Vollbetrieb laufen kann, ist kein Versäumnis des Gesundheitsverbunds«, verteidigte sich Kölldorfer-Leitgeb Mitte 2021. »Kinder- und Jugendpsychiater·innen sind Mangelware.« Die Wiener·innen suchen europaweit nach Fachärzt·innen – bislang erfolglos. Die KJP-Unterversorgung im Wigev – dem größten Krankenhausbetreiber Österreichs – zeigt einen Systemfehler der Gesundheitspolitik made in Austria.

Seit zwei Jahrzehnten warnen Expert·innen vor dem Versorgungs-GAU. Ebenso lange bleiben kranke Kinder zu oft auf der Strecke. Es ist Harakiri in Zeitlupe, weil viele mitreden und wenig entschieden wird: Länder sind für die Spitäler zuständig, der Bund für die Ärzt·innenausbildung, die Sozialversicherung für Kassenstellen, und die Ärztekammer gibt überall ihren Senf dazu. Am Ende geht’s um Geld.

Im Vergleich zu Chirurg·innen oder Internist·innen verdienen Kinder- und Jugendpsychiater·innen im Krankenhaus deutlich weniger. Auch darum entwickelte sich die KJP zum Mangelfach. Vorläufiger Höhepunkt: Im Februar 2022 brachten Ärzt·innen der Klinik Hietzing eine Gefährdungsanzeige beim Wigev ein. »Wir wollen uns nicht länger in Situationen bringen lassen, die letztendlich für alle Beteiligten fahrlässig sind«, heißt es in der Anzeige.

Sie warnen vor den Konsequenzen des Personalmangels und des massiv erhöhten Patient·innenaufkommens bei Kindern und Jugendlichen: Psychische Störungen blieben unentdeckt, dringende Behandlungen würden verschleppt. Der implizite Vorwurf: Steigende Suizidrisiken nimmt man in Kauf. Man habe schon im Vorjahr auf die Engpässe hingewiesen, doch die Verantwortlichen hätten nicht reagiert.

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