Die Orpea-Affäre

Die Orpea-Gruppe, einer der größten privaten Pflegeheimbetreiber in Europa, ist hierzulande mit Senecura vertreten. Seit Anfang 2022 verdichten sich die Vorwürfe gegen Orpea und einstige Spitzenmanager. Systematische Misshandlung von Patient·innen, missbräuchliche Verwendung öffentlicher Gelder, Korruption und sogar Geldwäsche werden dem Unternehmen angelastet. Anatomie eines Skandals.

Text: Maxence Peigné, »Investigate Europe«, Übersetzung: Daniela Schmid

Pflegeheime9.4.2024 

Als die Anschuldigungen 2022 in Frankreich ans Licht kamen, erfüllten sie alle Voraussetzungen für einen ausgewachsenen Skandal. Da wäre zunächst der Beschuldigte: Orpea, einer der größten privaten Pflegeheimbetreiber in Europa. Im Jahr 2021 erwirtschaftete der börsennotierte Konzern einen gewaltigen Umsatz von fast 4,3 Milliarden Euro.

Orpea betrieb damals fast 1.000 Pflege- und Gesundheitseinrichtungen. Und dann die Vorwürfe: systematische Misshandlung von Patient·innen, Essensrationierungen, Vernachlässigung im Hinblick auf Hygiene, missbräuchliche Verwendung öffentlicher Gelder, Geldwäsche und Korruption – und all das, während die Geschäftsführer des Konzerns in Steuerparadiesen beträchtliche Vermögen anhäuften und Nahebeziehungen zu Politiker·innen pflegten.

Was dann aber einhellige Empörung auslöste, war das Leid der Opfer: ­Orpea betreut etwa 270.000 Patient·innen, zum Großteil ältere Menschen, viele von ihnen gebrechlich, krank oder einsam. Für die Unterbringung und ihre Pflege zahlen sie je nach Heim- und Betreuungsstufe bis zu 12.000 Euro im Monat.

Ein Buch löste die Affäre aus: Im Jänner 2022 veröffentlichte der Journalist Victor Castanet Les fossoyeurs (»Die Totengräber«), einen vernichtenden Enthüllungsbericht über »ein System, in dem ältere Mitbürger·innen misshandelt werden« – und das der Kern von Orpeas Geschäft sein soll.

Die konkreten Vorwürfe kamen wie aus dem Nichts, doch Warnzeichen gab es schon zuvor: ­Zwischen 2015 und 2017 beschwerten sich einzelne Pflegekräfte und Angehörige von Patient·innen wiederholt öffentlich wegen Personalmangels. 2018 widmete das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Frankreich dem Thema eine Sendung. Und 2021 veröffentlichte Investigate Europe, ein Rechercheverbund europäischer Journalist·innen, den Schwerpunkt »Graues Gold«. Die Recherche zeigte auf, wie ein gewinn­orientiertes Pflegesystem den Schwächsten in der Gesellschaft schadet.

Zum Schwerpunkt
»Graues Gold« von »Investigate Europe«​​​​​​​

Vor Castanet hatte sich niemand so eingehend mit dem System hinter Orpea beschäftigt. Über einen Zeitraum von drei Jahren hat er 250 Betroffene und Zeug·innen befragt. Sein darauf aufbauendes, rund 400 ­Seiten umfassendes Buch ist eine ernüchternde ­Lektüre.

Castanet beschreibt etwa eine Patientin mit blauen Flecken am ganzen Körper, einen Patienten, der in seinem Zimmer eingeschlossen wurde, sowie Fälle von Unterernährung. Eine Pflegekraft erzählte ihm von dem »Gestank nach Pisse« aufgrund der Einsparungen: »drei Windeln am Tag und keine mehr. Es spielte keine Rolle, ob ein·e Bewohner·in krank war.« Und Personaleng­pässe sorgten dafür, dass in vielen Nächten nur drei Mitarbeiter·innen für 125 Patient·innen verantwortlich waren.

»Wir hielten uns für allmächtig«, sagte eine ehemalige Führungskraft von Orpea zu ­Castanet. »Wir hatten den damaligen Gesundheitsminister (Xavier Bertrand, ­2005–2007 und 2010–2012, Anm.) in der Tasche.« Bertrand bestritt jegliches Fehlverhalten.

Laut Castanet waren seine Rechercheergebnisse so brisant, dass Orpea sogar versucht habe, ihm 15 Millionen Euro zu zahlen, damit er sein Buch nicht veröffentlicht – ein Vorwurf, den Orpea von sich weist.

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