Wundersame Vermehrung

Viele Jahre durften Erntehelfer·innen, Campingplatz-Gäste und Parteifunktionär·innen in Niederösterreichs Gemeinden wählen, wenn sie dort einen Zweitwohnsitz hatten. Legitime demokratische Mitbestimmung oder ein Trick für den Machterhalt?

Text: Julia Herrnböck; Illustration: Gerhard Haderer

Wolfgang Sobotkas Schule der Macht16.9.2024 

Es gibt Phänomene, die lassen sich nicht erklären. Und dann gibt es Ereignisse, die schwer zu glauben, aber doch erklärbar sind – wie jene, die sich viele Jahre lang in Niederösterreich zugetragen haben: Pünktlich zu Landtags- und Gemeinderatswahlen vermehrte sich auf wundersame Weise die Zahl der Wahlberechtigten.

In idyllischen Dörfern und kleinen Städten tauchten plötzlich Wähler·innen auf, die man dort kaum als wahlberechtigt vermutet hätte: ausländische Erntehelfer·innen, Sommergäste und registrierte »Zweitwohnsitzer·innen«, die ihren temporären Wohnsitz mitunter an den ungewöhnlichsten Orten angemeldet hatten, etwa im Rathaus. 

Lange Zeit hatte es Niederösterreichs Landesrecht erlaubt, dass auch Menschen auf Gemeindeebene wählen durften, die dort nur einen Nebenwohnsitz hatten – vorausgesetzt, sie konnten ihr politisches Interesse glaubhaft begründen. Mit 1. Juni 2022 wurde das abgeschafft. Aus gutem Grund, denn die Auslegung des Gesetzes trieb mitunter seltsame Blüten.

Und mittendrin: der langjährige Landesrat Wolfgang Sobotka sowie die niederösterreichische Volkspartei. Einer breiten Öffentlichkeit wurde das niederöster­reichische Phänomen der ­Wähler·innenvermehrung im Jahr 2010 ersmals bekannt.

Damals berichtete das Nachrichtenmagazin Profil über Auffälligkeiten bei der Gemeinderatswahl in etlichen niederösterreichischen Gemeinden. Im 1.850 Einwohner·innen zählenden Ort Aspang-Markt stieg die Anzahl der Wahlberechtigten zum Ende der Eintragungsfrist auf 1.966. Woher kamen also Neo-Bürger·innen, die sich kurz vor der Gemeinderatswahl eifrig ins Wählerregister eintragen ließen?

Die Opposition vermutete, der Großteil der wahlberechtigten Zweitwohnsitzer·innen stamme aus dem Umfeld der ÖVP, um mit diesem Trick ihre lokale Wähler·innenschaft zu vergrößern. Allein an der Wohnadresse des damaligen Bürgermeisters von Aspang-Markt, Johann Auerböck (ÖVP), waren elf Personen gemeldet.

Acht von ihnen stimmten überdies per Briefwahl ab, was damals erstmals möglich war – und dem Missbrauch eine zusätzliche Tür öffnete. Denn die wahlfreudigen Zweitwohnsitzer·innen mussten fortan nicht einmal mehr persönlich im Wahllokal erscheinen. 

Die Grundidee, in einer immer mobileren Gesellschaft, in der immer mehr Menschen Zweitwohnsitze haben, diese vor Ort mitbestimmen zu lassen, hält der Politikwissenschaftler Peter Filzmaier eigentlich für eine »gut argumentierbare demokratische Regelung«. Das Pro­blem, so Filzmaier: »Es gab keine ausreichende Kontrolle.«

Und der Verdacht, dass es in Wahljahren kurzfristig mehr Anmeldungen von Zweitwohnsitzen gegeben habe, sei eben nie ausgeräumt worden. Die kleine Gemeinde Aspang-Markt war da keine Ausnahme.

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