Prolog

Power-Nap

Was können wir von Wolfgang Sobotka über unsere Demokratie lernen? Eine Recherche über Leben und Laufbahn des unbeliebtesten Politikers Österreichs. Willkommen in Sobotkas Schule der Macht.

Text: Georg Eckelsberger; Illustration: Gerhard Haderer

Wolfgang Sobotkas Schule der Macht12.9.2024 

Wolfgang Sobotka fallen die Augen zu. Es ist der 4. Juli 2024, der Nationalrat ist zu seiner 272. Sitzung zusammengekommen – der letzten vor der Sommerpause. Am frühen Nachmittag, nachdem die meisten Abgeordneten vom Mittagsessen zurückgekehrt sind, wettert FPÖ-­Sozialsprecherin Dagmar Belakowitsch über Klima­ministerin Leonore Gewessler (Grüne).

Es geht um deren Zustimmung zum EU-Renaturierungsgesetz, gegen den Willen des Koalitionspartners ÖVP. ­»Straftäterin«, schreit Belakowitsch. Sobotka kann sich einstweilen kaum noch wachhalten.

Hier im Hohen Haus ist er der Chef. Als Nationalratspräsident sitzt Sobotka auf einem Podest hinter dem Rednerpult, zwischen einer Österreich- und einer EU-Flagge. Wie so oft sind die Farben seiner Brille und seines Stecktuchs aufeinander abgestimmt, heute trägt Sobotka Rot. Das Wegnicken während der Reden ist auch so ein Markenzeichen des Nationalratspräsidenten.

Ebenso sein strenger Blick, wenn es ihm doch einmal zu bunt wird im Plenarsaal. Dann zieht er die Augen­brauen spitz zusammen, die Mundwinkel tief nach unten und blickt langsam über die tratschenden Sitzreihen hinweg – und plötzlich sieht man wieder den ­Lehrer, der Sobotka immer war. 

Wer, wenn nicht er

Einen Monat zuvor, am 4. Juni 2024, hat Wolfgang Sobotka angekündigt, bei der Nationalratswahl im Herbst nicht mehr anzutreten und damit nach der Wahl auch das Amt des Nationalratspräsidenten abzugeben. Damit geht die Karriere eines der bekanntesten und umstrittensten Politiker·innen Österreichs zwar nicht zu Ende – Sobotka wird künftig die ÖVP-Parteiakademie leiten –, aber sie macht einen deutlichen Knick: Vor mehr als 40 Jahren begann Sobotka seine politische Laufbahn, mit der Zeit erarbeitete er sich immer mehr Ämter, immer mehr Macht und ein immer einflussreicheres Netzwerk.

Vom ­Gemeinderat in die Landesregierung, in die Bundesregierung und an die Spitze des Parlaments: Sobotka war bei Weichenstellungen und Umbrüchen dabei, war in entscheidenden Momenten Schlüssel- oder Gegenspieler der prägenden Politiker·innen der vergangenen Jahrzehnte.

Dabei ist Sobotka eigentlich Lehrer – und Musiker – und Gärtner! In diesen Rollen war und ist er beliebt und geschätzt, wie wir in der Recherche erfahren haben. Als Pflanzenfreund mit grünem Daumen und lexikalischem Wissen. Als kunstfertiger Dirigent und »wilder Tänzer«. Aber vor allem als umtriebiger Musik- und Geschichtelehrer, der mit seiner Leidenschaft das Klassenzimmer mitreißen konnte.

Etwas Lehrerhaftes hat sich Sobotka als Politiker bis heute behalten, aber die Beliebtheit nicht: Der Niederösterreicher liegt seit Jahren im OGM-Vertrauensindex auf dem letzten Platz und gilt damit als unbeliebtester Politiker Österreichs.

Insofern ist Sobotka ein Ausnahmepolitiker – gleichzeitig ist er ein ganz typischer Volksvertreter. Er hat sich im demokratischen System hochgearbeitet, vom kleinen Gemeinderat bis zum Nationalratspräsidenten, dem zweithöchsten Amt der Republik. Er hat das geschafft, weil er die Spielregeln der Politik verstanden und sich die Techniken der Macht angeeignet hat.

Er ist Produkt und Teil des herrschenden politischen Systems. Wer wäre ein besserer Lehrer – oder besseres Lehrmaterial –, um das Land, seine Politik und die Mechanismen der Macht zu verstehen?

Warum wir Wolfgang Sobotka ein Heft widmen

Mit Hilfe von Sobotka wollen wir in diesem Heft Österreichs Demokratie unter die Lupe nehmen. Leider stand er selbst für kein Gespräch zur Verfügung und sagte ein bereits versprochenes Interview wieder ab. Warum? »Das ist der zweithöchste Mann im Staat, der muss Ihnen keinen Grund nennen«, sagt sein Sprecher Rouven Ertlschweiger am Telefon. 

Zum Glück waren andere offener: allen voran ­politische Wegbegleiter·innen, Mitstreiter·innen und Beamt·innen, die uns geholfen haben, Sobotkas spannende politische Biografie in diesem Heft lebhaft nachzuzeichnen.

Von Waidhofen an der Ybbs, wo sich der junge Bürgermeister Sobotka nicht zu schade war, sich von Faschingsnarren auf die Barre schnallen zu lassen, um die Gunst der Gemeinde zu gewinnen. Über Sankt Pölten, wo Landeshauptmann Erwin Pröll (ÖVP) seinen »Kronprinzen« Sobotka in die Riten der mächtigsten Landespartei Österreichs einführte.

Über das Innenministerium, wo Sobotka als Saboteur der bisher letzten großen Koalition agierte – und sich damit selbst auf ein vergoldetes Abstellgleis ­manövrierte: das zweithöchste Amt im Staat, das er zwar nicht haben wollte, aber nach allen Regeln seiner »Schule der Macht« als politische Bühne zu ­nutzen wusste.

Neben unseren Gesprächspartner·innen gilt unser Dank auch den Journalist·innen, die Sobotka in den vergangenen Jahrzehnten kritisch begleitet haben und deren Artikel wir in der Recherche zitieren konnten – insbesondere den Redaktionen von Profil, Falter und Zack-Zack. Kritische Berichterstattung über ­mächtige Politiker·innen ist in Österreich nicht selbstverständlich, und in Niederösterreich schon gar nicht – auch das ist ein Ergebnis unserer ­Recherchen zu diesem Magazin. 

Manipulierte Nachrichten

Sobotkas Biografie ist der rote Faden, dem wir in der Recherche gefolgt sind – doch wir hatten keine Scheuklappen auf: Wir haben dabei nach links und rechts geblickt und erzählenswerte ­Geschichten entdeckt. Etwa, wie die ­niederöster­reichische ÖVP-Landesregierung über Jahre mit unfairen Mitteln den Boden zur Machtübernahme in der roten Hochburg ­Wiener Neustadt ­bereitet hat – und damit Erfolg hatte.

Besonders fasziniert hat uns der Umgang Sobotkas und seiner Kolleg·innen mit Medien: Verhaberung, Ausgrenzung, Einschüchterung, Druck und Inserate sind die Mittel der Wahl, wenn es darum geht, Journalist·innen auf Linie zu bekommen. Diese »mediale Kontrolle«, wie es ein Medien­manager nennt, ist in Niederösterreich normal.

Landeseigene und landesnahe Unternehmen reden bei der Auswahl des Journalismus-Nachwuchses mit. Die Sitten, die DOSSIER bei zwei Leitmedien des Landes aufzeigt – den Niederösterreichischen Nachrichten und dem ORF-Landesstudio Niederösterreich –, haben mit unabhängigem Journalismus nicht mehr viel zu tun. Besonderen Sprengstoff bergen unsere Recherchen zum ORF – und den engen Verbindungen zur ÖVP Niederösterreich.

DOSSIER konnte exklusiv den streng geheimen Bericht der »Ziegler-Kommission« einsehen. Der Hintergrund: Der ehemalige ORF-Landesdirektor Robert Ziegler musste Anfang 2023 zurücktreten, nachdem bekannt geworden war, dass er redaktionelle Beiträge im Sinne der ÖVP Niederösterreich und landeseigener Firmen beeinflusst oder verhindert hatte.

ORF-General­direktor Roland Weißmann setzte eine Kommission ein, um den Fall zu untersuchen. Doch als der Bericht fertig war, hielt er ihn unter ­Verschluss – Weißmann zeigte ihn nicht einmal dem ORF-Stiftungsrat. Warum? 

Wie DOSSIER nun öffentlich macht, zeigt der »Ziegler-Bericht«, dass das Fehlverhalten Zieglers über das bekannte Maß hinausging – und auch die Einflussnahme der ÖVP. Zudem stolperte die Kommission über eine problematische Doppelfunktion Zieglers – laut Experten könnte sie sogar im Sinne des Korruptionsstrafrechts relevant sein.

Dass Weißmann dieses belastende Material geheim halten wollte, ist eine Geschichte für sich: Schließlich kommt der heutige Generaldirektor selbst aus dem Landesstudio Niederösterreich und hat beste Kontakte zur ÖVP.

Der vielseitige Sobotka

Sobotka kommt im »Ziegler-Bericht« auch vor: Von einem »persönlichen Naheverhältnis« und einem »Mangel an professioneller Distanz« zwischen ihm und dem ehemaligen ORF-Landes­direktor ist darin die Rede. Gute Kontakte zu ­Medien hatte Sobotka also – aber was braucht man noch, um als Politiker·in bestehen zu können? Um es an die Spitze zu schaffen und sich dort auch zu halten?

Erkundigt man sich bei Wegbegleiter·innen, dann lernt man sehr unterschiedliche Seiten Sobotkas kennen. Da ist der intellektuelle und kunstsinnige Sobotka. »Er ist einer der intelligentesten und belesensten Menschen der Politik. Musisch ganz toll unterwegs durch sein Dirigieren und sein musisches Wirken«, sagt Klaus Schneeberger, langjähriger ÖVP-Klubobmann in Niederösterreich und Bürgermeister von Wiener Neustadt.

»Er ist der einzige Politiker, den ich je am Wochenende in einem Museum getroffen habe, privat mit seiner Frau. Er ist jedenfalls hochintelligent, und was mich immer beeindruckt hat, auch gebildet«, sagt Helmut Brandstätter, einst Kurier-Chefredakteur und -Herausgeber, heute Neos-­Abgeordneter im EU-Parlament.

Dazu passt der fleißige Sobotka, der in seiner ­Arbeit aufgeht, bis spät in der Nacht tüftelt und ­telefoniert, morgens wieder einer der Ersten im Büro ist – und nächtens noch mit der Stirnlampe den heimischen Garten in Schuss hält. »Wenn ich um 2 oder 3 Uhr in der Früh einen Anruf bekommen habe, da habe ich gar nicht nachdenken müssen, da habe ich gewusst, wer das ist: der Wolfgang Sobotka«, sagt Schneeberger.

»Was mich an ihm fasziniert, ist die Arbeitskraft, dieses Durchhaltevermögen und dieser Elan«, sagt auch der stellvertretende Magistratsdirektor Franz Hörlesberger, der bereits unter Bürgermeister Sobotka im Waidhofner Rathaus arbeitete.

Sobotkas Durchsetzungskraft wird ebenso gelobt: »Diese Konsequenz ist etwas, was Sobotka mitgebracht hat. Nach dem Motto: Das ziehen wir durch, und da lassen wir uns auch nicht aufhalten«, sagt der heutige Kurier-Chefredakteur Martin ­Gebhart. »Wenn er überzeugt ist, dann ist er ein Marschierer«, sagt Klaus Schneeberger.

Das räumen auch politische Gegner·innen ein: »Ich würde ihn schon als politischen Macher bezeichnen«, sagt ­Helga Krismer, Chefin der niederösterreichischen ­Grünen: »So etwas hat immer eine helle Seite und natürlich auch eine dunkle Seite der Macht, die man dann auch kennenlernen durfte.«

Dass Sobotka laut werden kann, wenn ihm etwas nicht passt, erzählen Parteikolleg·innen, ­politische Gegner·innen und Journalist·innen gleichermaßen. »Der Streit ist sehr derb geworden. Heute können wir einander wieder begegnen. Aber das war ein Krieg«, erinnert sich August ­Breininger (ÖVP), ehemaliger Bürgermeister von Baden, der einst mit Finanzlandesrat Sobotka wegen der Übernahme des örtlichen Krankenhauses in Konflikt geriet.

Manche beschreiben Sobotka in solchen Situationen als herrisch: »Er ist kein Moderator, sondern letztlich hat er einen höchst ­autoritären Charakterzug. Er will entscheiden«, sagt eine Mitarbeiterin Sobotkas. 

Dass Sobotka belesen ist und zum Beispiel über großes historisches Wissen verfügt, sagen auch Kritiker·innen – allerdings kippe er dabei mitunter ins Selbstgefällige: Sobotka bereite sich kaum auf Interviews vor, improvisiere bei Pressekonferenzen. »Im Verdacht einer Medienbegabung steht Sobotka nicht. Er ist sehr talentiert im Verheimlichen seiner intellektuellen Kapazitäten«, sagt seine Mitarbeiterin.

Auch sein Arbeitseifer könne manchmal zu viel des Guten werden, »weil er sich in dieser Rastlosigkeit selber überholt. Er hält keine Viertelstunde ohne Termin aus. Er muss immer irgendwas machen«. Dass Sobotka für seine Themen brennt, stellt niemand in Abrede. Die Gartenpflege als Weg zum Naturschutz zum Beispiel. 

Aus der Initiative »Natur im Garten« heraus schafft Sobotka eine beliebte Marke, ein Magazin, die Landesgartenschau Tulln – aber auch ein undurchsichtiges Vereinskonstrukt und Parteiwerbevehikel. Das Prinzip findet sich immer wieder in seiner Laufbahn: ein hehres Ziel, für das sich Sobotka einsetzt – und der Missbrauch anvertrauter Macht für Eigen- und Parteiinteressen.

Sei es beim Alois-Mock-Institut, das Sobotka im Namen des ehemaligen ÖVP-Chefs initiierte, dessen Idee eines »größeren Europa« er bewundert – und das er letztlich auflösen muss, weil dubioses Sponsoring von landesnahen Firmen auffliegt und der Verdacht der illegalen Parteienfinanzierung im Raum steht.

Bei der vermeintlich gewinnbringenden Veranlagung der Wohnbaugelder in Niederösterreich, die zum Milliardengrab wird – was Sobotka trotz klarer Faktenlage bis heute nicht eingestehen will. Oder bei der »Öffnung des Parlaments«, die Sobotka als Nationalratspräsident vorantreibt. Nur um die Institution mit eigenwilligen Entscheidungen wie der Anmietung eines teuren, vergoldeten Klaviers wieder in Verruf zu bringen.

Stahlhelme unter sich

Es ist vielleicht die wichtigste Lektion aus ­Sobotkas politischem Lehrbuch: Kritik abprallen lassen, Skandale aussitzen, keine Fehler eingestehen – immer auf Kurs bleiben. Stahlhelm-Mentalität nennt man das in Niederösterreich.

Dieses Prinzip verinnerlicht eine ganze Schar an Politiker·innen, die im Umfeld Sobotkas politisch aufsteigt und heute an den Hebeln der Macht sitzt: Johanna Mikl-Leitner, die Ende der 1990er-Jahre gemeinsam mit Sobotka die Karriereleiter erklimmt, als Landesgeschäftsführerin, dann Landesrätin, dann Landeshauptfrau.

Gerhard Karner, Innenminister, einst Pressereferent und ebenfalls Landesgeschäftsführer der ÖVP Niederösterreich. Klaudia ­Tanner, Verteidigungsministerin, ehemalige ­Direktorin des Niederösterreichischen Bauernbunds. Der schon erwähnte Klaus Schneeberger, langjähriger Klubobmann der ÖVP Niederösterreich und Bürgermeister in Wiener Neustadt. Und sein ­Vizebürgermeister Christian Stocker, der auch Generalsekretär der ­Bundespartei ist.

Oder Nationalratsabgeordneter Andreas Hanger, Mann fürs Grobe in U-­Ausschüssen und Bezirksparteiobmann in Amstetten – jenem Bezirk, aus dem Wolfgang Sobotka kommt und wo er sich einst ­seine Hausmacht aufgebaut hat. Und auch ­Bundeskanzler Karl Nehammer gehört dazu: Obwohl er Wiener ist, war ­Nehammer Geschäftsführer der politischen Akademie der ÖVP Niederösterreich und arbeitete zwischen 2013 und 2015 für die Landespartei – in der Abteilung »Kommunal«. Zuständiger Landesrat: Wolfgang Sobotka.

Wer so ein dichtes Netz hat, kann nur schwer abstürzen. Und so kommt es, dass Wolfgang Sobotka bis heute entspannt in seinem hohen Amt sitzt – und mitten im Parlament seinen Power-Nap halten kann.