
Würde man Wolfgang Sobotkas Leben verfilmen, könnte man ihn in seinem letzten Lebensabschnitt in einem Kiosk zeigen. Dort sitzt er, der Lebenserfahrene, der alles weiß, der sie alle kennt. Zu dem man geht, wenn man ein Anliegen hat. Schnitt.
In Wirklichkeit wird Wolfgang Sobotka nach 42 Jahren in Diensten der Republik ins Springer-Schlössl im zwölften Wiener Gemeindebezirk ziehen. Dort hat die Politische Akademie ihren Sitz. Die Denkschule der ÖVP bekommt einen scheidenden Präsidenten als neuen Präsidenten.
Wolfgang Sobotka übernimmt das Ruder von Bettina Rausch, einer langjährigen Weggefährtin aus dem Niederösterreichischen Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerbund.
Sobotkas neue Aufgabe: die ÖVP der Zukunft mitgestalten. Keine leichte Aufgabe, nicht einmal für den Vollblutpolitiker. Denn die Partei steckt in einer tiefen Krise. Die Wähler·innen laufen ihr davon: In Niederösterreich fuhr man im Jänner 2023 mit 39,9 Prozent das schlechteste Ergebnis in der Geschichte ein.
Auch bei der EU-Wahl im Juni 2024 setzte es eine herbe Niederlage: ein Minus von zehn Prozentpunkten. Die Umfragen zur Nationalratswahl 2024 verheißen ebenfalls nichts Gutes.
Das liegt auch daran, dass die Bundespartei und einige einst hochrangige Funktionär·innen im Fokus der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft stehen. Sie werden als Beschuldigte in der sogenannten Inseratenaffäre geführt. Kein Wunder, dass Kritik in den eigenen Reihen laut wird, wenn es Hausdurchsuchungen im Kanzleramt und in der ÖVP-Bundesparteizentrale gibt.
Etwa vom langjährigen ÖVP-Unterstützer Claus Raidl, einst wirtschaftspolitischer Berater von Wolfgang Schüssel und Ex-Präsident der Nationalbank.
Im Mai 2022 veröffentlichte Raidl im Kurier einen Gastkommentar mit dem Titel »Es reicht« und beanstandete darin, dass die Partei ihren Anstand verloren habe. Auch Ex-EU-Kommissar Franz Fischler forderte von der ÖVP dringend neue Konzepte gegen Korruption ein: »Wir müssen den Ruf loswerden, dass wir sozusagen schlitzohrig sind«, sagte er im Oktober 2022.
Ein Jahr später kehrte Othmar Karas, zuletzt Vizepräsident im EU-Parlament, der Partei den Rücken. Der Grund: Die ÖVP sei »nicht mehr die Kraft der Mitte« und ihr Stil für ihn nicht mehr akzeptabel: »Das ist menschlich enttäuschend und für eine staatstragende Partei, was der Anspruch der ÖVP sein sollte, unwürdig.«
Absturz einer Volkspartei
Und jetzt?
Wie bei jeder Krise braucht es Einsicht – und dann den Blick nach vorn. Was hat man aus Fehlern gelernt, wie sollen sie künftig verhindert werden? Antworten darauf will man im Springer-Schlössl, dem »Raum für Entwicklung«, finden: »für die Entwicklung von Demokratie und Politik in Österreich, für die Entwicklung der Volkspartei in thematischer und organisatorischer Hinsicht und für die persönliche Entwicklung aller, die sich für Politik interessieren und engagieren«.
Klingt nicht schlecht – aber ist Wolfgang Sobotka als Präsident der Akademie wirklich der beste Mann für den Job?
Unbestritten hat Sobotka Stärken: Er weiß, wie der Hase läuft, kennt das politische System wie seinen Garten. Er weiß, wie Macht funktioniert – das muss man ihm aber auch als Schwäche auslegen. Zu oft hat der Politiker Sobotka die ihm anvertraute Macht mit unredlichen Methoden ausgeübt: etwa mit Inseraten und Interventionen bei Medien zum eigenen Vorteil.
Ohne Konsequenz blieben auch seine riskanten Spekulationen mit öffentlichem Geld trotz Milliardenverlusts sowie unlautere Postenvergaben. Die stetige Vermischung des öffentlichen Amts mit parteipolitischen Interessen zieht sich wie ein roter Faden durch seine Karriere. Daran nehmen sich Parteikolleg·innen offenbar ein Beispiel, etwa Bundeskanzler Karl Nehammer.
Im Juni 2024, sechs Tage vor der EU-Wahl, lud Nehammer zu einem runden Tisch ins Kanzleramt, um über Technologieoffenheit und Deregulierung zu sprechen. Circa eine Stunde später trat der Kanzler vor die Medien und forderte »das Aus vom Verbrenner-Aus«. Ein Punkt, der auch im EU-Wahlprogramm der ÖVP stand.
Einige Medien durchschauten den Trick und berichteten über einen »ÖVP-Autogipfel« als »Teil des Wahlkampfs«. Ausgeblieben ist jedoch die öffentliche Empörung: darüber, dass Nehammer öffentliche Infrastruktur – das Kanzleramt samt Personal – für die Bewerbung parteipolitischer Forderungen zweckentfremdete.
Über all das sollte Wolfgang Sobotka als neuer Präsident der Politischen Akademie reflektieren. Damit ihm das leichter fällt, haben wir ein paar Vorschläge zusammengetragen.
Wir stützen uns dabei auf zwei überparteiliche Volksbegehren: »Demokratie Jetzt!«, initiiert 2013 von Johannes Voggenhuber (Grüne, später Jetzt), Erhard Busek (ÖVP, verstorben 2022), Christa Kranzl und Wolfgang Radlegger (beide SPÖ) sowie Friedhelm Frischenschlager (FPÖ, LiF, heute Neos). »Parteien stellen ihre Machtinteressen über das Allgemeinwohl«, schrieben die Initiator·innen schon vor mehr als zehn Jahren. Die Folgen: »politischer Stillstand, Korruption, die Aushöhlung von Rechtsstaat, Verfassung und Parlamentarismus sowie soziale Ungerechtigkeit.«
In eine ähnliche Kerbe schlägt auch Antikorruptionsexperte Martin Kreutner, der 2022 mit anderen das »Rechtsstaat & Antikorruptionsvolksbegehren« ins Leben gerufen hat. Österreich habe ein strukturelles Problem mit Korruption, die Ursachen seien vielfältig: »Postenschacher, Freunderlwirtschaft und Ämterpatronage, Druck auf Kontrollorgane wie Justiz und Medien, Gesetzeskauf, intransparente Parteienfinanzierung, Misswirtschaft, Beschaffungs-, Privatisierungs- und Bankenskandale«, heißt es in dem Volksbegehren, das 307.629 Menschen unterschrieben haben.
Aus diesen Initiativen und aus Gesprächen mit Experten – etwa mit Ex-Rechnungshof-Präsident Franz Fiedler und Mathias Huter vom Forum Informationsfreiheit – geben wir Wolfgang Sobotka einen Sieben-Punkte-Plan für eine leb- und standhafte Demokratie mit auf die Reise.
❶ Mehr Integrität, bitte!
Oft gefordert, nicht internalisiert: Die Integrität von Politiker·innen darf sich nicht am Strafrecht orientieren. Politiker·innen haben eine Vorbildfunktion für Bürger·innen. Neben dem Dienst nach Vorschrift gilt es auch, moralisch einwandfreie Arbeit zu leisten. Eine Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, können sogenannte Integritätserklärungen sein: Politiker·innen sollten sich »klar und unmissverständlich zu ethischem und dem Gemeinwohl geschuldeten Handeln verpflichten«, wird etwa im Antikorruptionsvolksbegehren gefordert.
Bei Verstößen sollten Sanktionen drohen, in gravierenden Fällen sogar der Verlust des Mandats. Zusätzlich könnte ein Verhaltenskodex helfen, Interessenkonflikte gar nicht erst entstehen zu lassen.

❷ Die besten Köpfe
Nicht die besten Freund·innen, die besten Köpfe sollten das Land regieren. Um der unsäglichen Postenvergabe aus persönlichen und parteipolitischen statt fachlichen Gründen zu begegnen, haben die Initiator·innen von »Demokratie Jetzt!« einen klugen Vorschlag geliefert, wie sich künftige Regierungen zusammensetzen könnten: »Designierte Mitglieder der Regierung stellen sich einem Hearing des Parlaments. Ihre Ernennung kann mit Mehrheit abgelehnt werden.«
Das ist eine erprobte Methode in der Europäischen Kommission: Dort müssen Anwärter·innen ihre fachliche und charakterliche Eignung in Hearings beweisen – und nicht alle bestehen die Prüfung.
❸ Gläserne Parteien
Seit 2012 dürfen Parteien bei bundesweiten Wahlen im Wahlkampf bis zu sieben Millionen Euro ausgeben. In der Vergangenheit haben ÖVP, FPÖ und SPÖ diese Grenze überschritten. Im Fall der ÖVP war es bei der Nationalratswahl 2017 mit rund 13 Millionen Euro beinahe das Doppelte. Die Strafe? Läppische 800.000 Euro.
Seither wurden die Sanktionen zwar erheblich verschärft, aber: Für das Jahr 2022 ist auf der Website des Rechnungshofs, dem dazu Rechenschaftsberichte vorgelegt werden müssen, nur jener des »Bürgerforum Tirol – Liste Fritz« zu finden – die restlichen Berichte werden derzeit noch geprüft. Damit das schneller geht, benötigt der Rechnungshof ausreichend Ressourcen. Denn Bürger·innen brauchen zeitnah einen Einblick in die Parteifinanzen.
❹ Wider die Korruption!
Intransparenz fördert Korruption. Obwohl sich in den vergangenen Jahren einiges getan hat, besteht weiterhin dringender Handlungsbedarf. Die Vorgänge in Amtsstuben müssen transparenter werden. Die Unvereinbarkeit von öffentlichen Ämtern mit privaten Funktionen ist klarer zu regeln. Im Parlament müssen – bis auf wenige Ausnahmen, etwa zu Themen der nationalen Sicherheit – sämtliche Ausschüsse öffentlich zugänglich und per Livestream übertragen werden, insbesondere Untersuchungsausschüsse.
Und überhaupt: Es muss endlich nachvollziehbar werden, wie Abgeordnete bei Gesetzesbeschlüssen abstimmen. Auch das Lobbyinggesetz muss dringend überarbeitet werden, damit für die Öffentlichkeit ersichtlich ist, wer wann gegenüber wem bei welcher Gelegenheit und womöglich für wie viel Geld lobbyiert hat.

❺ Ein neuer Föderalismus
Viele politische Pattsituationen in Österreich haben eine Ursache: den Föderalismus. Niemand hat etwas dagegen, dass Menschen in einem Bundesland mitbestimmen und sich ein Stück weit selbst verwalten. Doch ein gesetzliches Wirrwarr braucht es nicht. Der Föderalismus in seiner heutigen Form zementiert Stillstand ein, auch aus parteipolitischem Kalkül.
Österreichs Demokratie muss effizienter und zukunftsfit werden. »Die Gesetzgebung der Landtage im Bereich Gesundheit, Bildung, Umwelt und Energie wird in die Bundeskompetenz übertragen«, wurde etwa im »Demokratie Jetzt!«-Volksbegehren vorgeschlagen.
❻ Weisungsfreie Staatsanwaltschaft
»Österreich gehört zu den letzten Staaten in Europa, in denen die Justizministerin die Vorgesetzte der Staatsanwaltschaften ist (also das Weisungsrecht hat)«, heißt es auf der Website des Justizministeriums. Man ist sich des Problems also bewusst. Doch seit eine Arbeitsgruppe im September 2022 ihren Bericht über eine weisungsfreie Generalstaatsanwaltschaft abgeliefert hat, ist nicht viel passiert.
Nach wie vor ist der Anschein einer unabhängigen Justiz nicht nur in der Theorie angekratzt: Das bestätigte der Untersuchungskommissionsbericht zum Fall Christian Pilnacek unter der Leitung des Antikorruptionsexperten Martin Kreutner, der politische Einflussnahmen auf den Justizapparat festgestellt hat.
❼ Unabhängige Medien
Als vierte Säule im Staat sollen Medien die Mächtigen kontrollieren. Nur wie soll das gelingen, wenn mitunter ganze Medienhäuser von der Politik abhängig sind? Sei es finanziell durch Inserate von öffentlichen Stellen, die nicht selten als Druckmittel eingesetzt werden, durch selektive Informationspolitik oder gar durch Interventionen bei der Berichterstattung – Einschüchterungen und Klagsdrohungen inklusive.
Findet man dann noch willfährige »Journalist·innen«, ist der Giftcocktail fertig gemixt. Handlungsbedarf besteht auch beim ORF, der als öffentlich-rechtliches Medium gesetzlich zur Unabhängigkeit verpflichtet ist. Doch ausgerechnet sein oberstes Kontrollgremium, der Stiftungsrat, ist über die Maßen parteipolitisch besetzt. Das öffnet Tür und Tor für Interventionen aller Art, die erneut – fast als hätte man es in Sobotkas Schule gelernt – mehr dem eigenen als dem öffentlichen Interesse dienen.