Update: 2016 berichteten wir als erstes Medium über einen möglichen Vergabeskandal bei der Errichtung der Wiener-Wohnen-Zentrale. Weil der Bau „ohne Durchführung eines wettbewerblichen Vergabeverfahrens“ beauftragt worden sein könnte, reichte die EU-Kommission im Juli 2019 Klage gegen die Republik Österreich ein.
Am 22. Oktober 2020 brachte der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) seinen Schlussantrag in dem Verfahren ein und empfahl, „der Klage der Kommission stattzugeben“.
Am 22. April 2021 entschied der EuGH: Die Klage wurde abgewiesen. Die Kommission konnte „nicht rechtlich hinreichend" nachweisen, dass die Errichtung des Bürogebäudes „ohne Durchführung eines wettbewerblichen Vergabeverfahrens“ direkt vergeben wurde.
In der ersten Version des Artikels warfen wir im Vorspann die Frage auf, ob die Stadt Wien mit ihrer Vorgangsweise das Vergabegesetz umgegangen hätte. Da das Vorgehen der Stadt nach Ansicht des EuGH vergaberechtlich korrekt war, wurde der Vorspann geändert.
Alles glänzt. Die Fenster sind geputzt, die Böden poliert. Es ist der 1. Dezember 2014, für Wiener Wohnen ein Tag zum Feiern: Die größte Hausverwaltung Europas eröffnet ihre neue Zentrale. Wiens Wohnbaustadtrat Michael Ludwig (SPÖ) ist gekommen. Gemeinsam mit Josef Neumayer, dem Direktor von Wiener Wohnen, durchschneidet er ein rotes Band, das vor die Schiebetüre des Eingangs gespannt wurde. Die Zentrale ist eröffnet.
Gleich neben den Gasometer-Türmen und der gleichnamigen U-Bahn-Station liegt sie, an der Grenze der Wiener Bezirke Landstraße und Simmering. Die beiden Gebäude, eines sechs, das andere neun Stockwerke hoch, sind perfekt auf die Bedürfnisse von Wiener Wohnen zugeschnitten: Rund 1.200 Angestellte finden fortan hier ihren Arbeitsplatz, in Zwei- bis Vierpersonenbüros. Im Erdgeschoß steht ein Servicecenter für die Kunden offen. Alles ist nach nachhaltigen Energiestandards zertifiziert.
Bei der Eröffnung sagt Stadtrat Ludwig, dass viele „Vorschläge der Mieterinnen und Mieter jetzt in diesem Bau realisiert worden sind“. Es ist eine Zentrale nach Maß. Doch wie ist das möglich? Wiener Wohnen hatte nicht selbst gebaut, sondern sich lediglich eingemietet – und das, bevor der Spatenstich überhaupt gesetzt worden war.
Kaufen oder mieten?
Sucht ein öffentliches Unternehmen ein Gebäude, gibt es drei Möglichkeiten: einen Neubau, zugeschnitten auf die eigenen Vorstellungen, den Kauf oder die Miete einer Immobilie. Für die Errichtung eines Neubaus braucht man einen Bauauftrag.
Laut Vergabegesetz muss dieser im sogenannten Oberschwellenbereich ab einem Betrag von rund 5,9 Millionen Euro öffentlich ausgeschrieben werden. Bestehende Gebäude können hingegen ohne Ausschreibung angemietet werden, selbst wenn die Miete wie im Fall von Wiener Wohnen mehr als fünf Millionen Euro im Jahr ausmacht.
Der Nachteil der Miete: Räume können nur eingeschränkt auf die eigenen Bedürfnisse angepasst werden. Mit der neuen Zentrale hat sich Wiener Wohnen in einen juristischen Graubereich begeben: Offiziell mietet die Hausverwaltung die rund 34.000 Quadratmeter in der Guglgasse 2–4. Somit waren weder eine Ausschreibung noch ein Vergabeverfahren nötig.
Wiener Wohnen ist aber kein gewöhnlicher Mieter: Die Hausverwaltung war früh und intensiv in die Planung eingebunden.
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Zwar sind Mietverträge vom Vergabegesetz ausgenommen, „auch wenn dafür bezahlt wird, dass man eine bestimmte Einrichtung erhält. Wenn aber nach genau vorgegebenen Raumplänen gebaut wird, dann schaut es ganz anders aus“, sagt Rechtsanwalt Hanno Liebmann, der auf Vergaberecht und Bauvorhaben spezialisiert ist.
Für Liebmann und zwei weitere Juristen, die aus Angst davor, Aufträge von der Stadt Wien zu verlieren, anonym bleiben wollen, ist in diesem Fall nicht auszuschließen, dass bereits vor der Errichtung des Gebäudes klar war, dass Wiener Wohnen es mieten würde – der Bauträger sei im Gegenzug umfassend auf die Wünsche des künftigen Mieters eingegangen.
„Dann handelt es sich laut Judikatur ganz klar um einen Bauauftrag von Wiener Wohnen, und dieser hätte ausgeschrieben werden müssen“, sagt Liebmann.
Der gewünschte Standort
Die Suche nach einer neuen Zentrale für Wiener Wohnen lässt sich bis ins Frühjahr 2012 zurückverfolgen. Damals lädt die städtische Hausverwaltung fünf Baufirmen zu einem Standortwettbewerb ein: Sie sollen geeignete Grundstücke und Gebäudeentwürfe präsentieren.
Bereits zwei Wochen später erhält die BAI Bauträger Austria Immobilien GmbH, eine private Immobilienfirma der Bank Austria, mit einem Entwurf des Wiener Architekturbüros Hoffmann-Janz den Zuschlag. Das Grundstück in der Guglgasse, auf dem heute die Zentrale steht, gehört damals einer Tochterfirma der BAI, der Vectigal Immobilien GmbH.
2001 hatte die Vectigal rund die Hälfte des Grundes von einem privaten Besitzer und 2002 weitere Teilgrundstücke von der Stadt Wien erworben. Im selben Jahr wurden Pläne für ein Bürogebäude mit dem Namen „Gate 2“ an dem Standort vorgelegt.
Dann passierte zehn Jahre lang nichts, bis Wiener Wohnen 2012 eine neue Zentrale suchte und plötzlich alles schnell ging: Nur ein halbes Jahr nach dem Standortwettbewerb wird im Herbst 2012 mit dem Bau begonnen.
„Vollständig abgestimmt“
Wie DOSSIER-Recherchen zeigen, endete das Engagement der Hausverwaltung nicht beim Standortwettbewerb. Im Gegenteil: Es ging weit über die Auswahl des geeigneten Grundstücks hinaus. Wiener Wohnen war unmittelbar in die Planung und die Bauausführung eingebunden. Architekt Hoffmann zufolge habe man die Wünsche während der Planungsphase „direkt berücksichtigt“.
Beispielsweise ein Zertifikat für nachhaltige Gebäude der Österreichischen Gesellschaft für Nachhaltige Immobilienwirtschaft (ÖGNI). Während die Bauarbeiten laufen, werden die Vorgaben zu Baumaterialien immer wieder angepasst, um die Kriterien zu erfüllen. Die Mühe lohnt sich.
2014 nehmen Wohnbaustadtrat Ludwig und Wiener-Wohnen-Direktor Neumayer gemeinsam mit der BAI den Preis für das nachhaltigste Gebäude des Jahres entgegen.
Auch bei der Inneneinrichtung hatte Wiener Wohnen mehr als nur ein Wort mitzureden: Üblicherweise werden derartige Immobilien leer übergeben. Als die Vectigal das Gebäude im September 2014 für rund 105 Millionen Euro an die deutsche Immobilienfirma West Invest verkauft, ist es laut Kaufvertrag allerdings schon fertig möbliert. Wiener Wohnen hatte sich in einem eigens eingerichteten Musterzimmer Wandfarben, Teppiche und Möbel ausgesucht.
Laut Vergabejurist Liebmann ist es bei einem großen Mieter wie Wiener Wohnen üblich, dass der Vermieter auf bestimmte Wünsche eingeht – doch wo liegt die Grenze zwischen legitimen Wünschen des Mieters und der Mitsprache beim Bau?
Die Verantwortlichen überlassen kaum etwas dem Zufall: Um zu kontrollieren, ob die eigenen Vorgaben bei der Errichtung eingehalten werden, beauftragt Wiener Wohnen 2012 ein externes Unternehmen, die SET Bauprojektierungs GmbH. Sie ist für die „mieterseitige Begleitung“ zuständig, wie auf deren Website zu lesen ist.
2013 wird noch eine weitere Firma zur begleitenden Kontrolle des Baus hinzugezogen, die IC Group: „Die Planung und Errichtung (...) ist auf die Anforderungen des einzigen Mieters Wiener Wohnen vollständig abgestimmt“, steht auf deren Projekt-Website.
Das Schweigen des Stadtrats
All das passiert unter Ausschluss der Öffentlichkeit: die Entscheidung, eine neue Zentrale zu beziehen, der Standortwettbewerb und die Aufträge an externe Firmen zur Bauüberwachung. In den Jahresabschlüssen von Wiener Wohnen findet man dazu keine Hinweise. Kurz vor dem Spatenstich im Herbst 2012 gibt es erstmals Medienberichte zur neuen Zentrale.
Im Gemeinderat erwähnt Wohnbaustadtrat Ludwig diese erstmals am 25. November 2014: Er lädt zur Eröffnungsfeier, die sechs Tage später stattfindet. Selbst damalige Mitglieder des Wohnbauausschusses können sich auf Anfrage nicht an Gespräche über die neue Zentrale erinnern.
„Es wäre natürlich spannend gewesen, vorher zu wissen, was geplant ist und wie viel das kostet. Aber wir hatten in Wirklichkeit schon länger keine richtige Diskussion zu Wiener Wohnen“, sagt etwa Norbert Walter, der die ÖVP bis November 2015 im Gemeinderat vertrat. Nicht einmal der Koalitionspartner, die Wiener Grünen, können zu dem Projekt Auskunft geben.
Die Verantwortlichen halten sich auch auf DOSSIER-Anfrage bedeckt. Wichtige Verträge zwischen Wiener Wohnen und den Immobilien- beziehungsweise Baufirmen bleiben geheim. Weder Wohnbaustadtrat Ludwig noch Wiener-Wohnen-Direktor Neumayer sind zu einem Interview bereit. Auch von Seiten der BAI bleiben mehrere Anfragen unbeantwortet.
Lediglich Wiener-Wohnen-Sprecherin Renate Billeth nimmt schriftlich Stellung: „Wir sind davon überzeugt, dass die Anmietung des Gate 2 (bei diesem handelt es sich ja um eine Standardimmobilie) als Wiener-Wohnen-Standortzentrale sowohl im Einklang mit der nationalen als auch der europäischen Gesetzgebung erfolgte.“
Doch wenn es sich, wie behauptet, um eine „Standardimmobilie” handelt – warum wurde eine Firma eigens beauftragt, um die detaillierten Vorstellungen von Wiener Wohnen umzusetzen? Für Vergabejurist Liebmann ist das der entscheidende Punkt: „Eine begleitende Kontrolle einzusetzen, spricht für einen bestellten Bau.“
Eine diesbezügliche Nachfrage bleibt bis heute unbeantwortet.