Peanuts, die in die Millionen gehen

In einem Gemeindebau summieren sich die Abrechnungsfehler. Eine Recherche mit NZZ.at

Wohnen17.8.2015 

Ernst Schreiber und Gerhard Kuchta sind der Albtraum jedes Vermieters. Der eine pensionierter Bilanzbuchhalter, der andere dienstfrei gestellter Innenrevisor. Zwei Herren mit einer Vorliebe für Zahlen und jeder Menge Zeit. Seit fast zehn Jahren drehen sie gemeinsam die Rechnungen ihrer Hausverwaltung um; sie kontrollieren Beträge, durchforsten Rechnungsberge – und entdecken Fehler. Jedes Mal.

Ein Grundstück etwa, das mitverrechnet wurde, obwohl es gar nicht zu „ihrer“ Wohnhausanlage, dem Hugo-Breitner-Hof in Wien-Penzing, gehört. Oder Aufzugkosten, die Mietern in der Anlage in Rechnung gestellt worden sind, obwohl es in deren Haus gar keinen Lift gibt. Rund 20.000 Quadratmeter Grünfläche, die zu viel bemessen und abgerechnet worden waren. Mehr als 1.000 Quadratmeter Wohnfläche, die jahrzehntelang zum Nachteil der Mieter verrechnet wurden.

Die Liste der Fehler, auf die Ernst Schreiber und Gerhard Kuchta in den vergangenen Jahren gestoßen sind, ist lang: „Es stimmt hinten und vorne nichts“, sagt Kuchta, der einst in großen österreichischen Banken in der Innenrevision gearbeitet hat. Seit der Jahresabrechnung 2004 reklamieren die beiden Mieter falsch verrechnete Betriebskosten bei Wiener Wohnen. Manchmal sind es kleine Beträge, etwa 43,96 Euro für die Reparatur eines defekten Kellerlichts, in anderen Einzelfällen geht es um beträchtliche Summen wie 11.109,42 Euro aus einer nicht korrekten Rechnung für die Gartenbetreuung.

Insgesamt beläuft sich der Streitwert in offenen Verfahren gegen ihre Hausverwaltung auf mehrere Millionen Euro. Knapp 300.000 Euro haben sie für sich und die anderen Mieter ihres Hofes bisher schon erfolgreich zurückerstritten.

Die zweite Miete

Es ist jedes Jahr das gleiche Spiel: Bis Ende Juni müssen Hausverwaltungen die Abrechnung der Betriebskosten des vorangegangenen Jahres zustellen. Bei vielen Mietern herrscht dann erst mal Ratlosigkeit – wie kommen die einzelnen Beträge zustande? Welche Rechnung gehört zu welchem Posten? Was darf verrechnet werden, was nicht? Alleine im Hugo-Breitner-Hof fallen rund 10.000 Rechnungen pro Jahr an. Die meisten Bewohner sind damit überfordert. Im Grunde geht es doch nur um ein paar Euro, denken sich vermutlich viele, und vertrauen auf eine korrekte Abrechnung. Nicht so die Herren Schreiber und Kuchta.

Meist wehrt sich Wiener Wohnen gegen ihre Einsprüche. Und so beschreiten Kuchta und Schreiber auf eigenes Risiko den juristischen Weg – von der Schlichtungsstelle über das Bezirksgericht bis hinauf zum Obersten Gerichtshof (OGH). Dabei legen sie sich nicht mit irgendeiner, sondern mit der größten Hausverwaltung Europas an. Rund 220.000 Wohnungen betreut Wiener Wohnen für die Stadt Wien, die Eigentümerin. Mehr als eine halbe Million Menschen wohnen in einer solchen Wohnhausanlage, fast ein Drittel der Einwohner der Stadt. Der Hugo-Breitner-Hof gehört mit rund 1.300 Wohnungen zu den größten der gut 2.000 Gemeindebauten in Wien.

2,71 Euro betrugen im Vorjahr die Betriebskosten pro Quadratmeter und Monat für alle Wohnungen mit Lift. Das mag nach wenig klingen, doch bei knapp 72.300 Quadratmetern Nutzfläche kommt einiges zusammen: Genau gesagt zahlten die Mieter letztes Jahr 2,1 Millionen Euro Betriebskosten; das ist fast gleich viel wie die Miete von 2,4 Millionen Euro. Die Betriebskosten machten im Hugo-Breitner-Hof 47 Prozent der gesamten Wohnungskosten aus – sie sind die zweite Miete.
 

Das Problem

„Für jeden einzelnen sind es Peanuts. Aber was glauben Sie, was das in Summe ausmacht?“, fragt Gerhard Kuchta. Laut Jahresabschluss setzte Wiener Wohnen 2014 rund 310 Millionen Euro mit Betriebskosten um. Das ist nicht nur viel Geld, sondern auch eine heikle Position in der Bilanz. Denn aus Sicht des Vermieters sind Betriebskosten Durchlaufposten; sie werden also direkt an die Mieter weitergegeben.

Darin enthalten sind Kosten für das Licht im Stiegenhaus, die Rasenpflege, den Lift, kurzum: für die allgemeinen Teile eines Wohnhauses. Aus diesem Grund sind Vermieter bzw. Hausverwaltungen gesetzlich zu einer sparsamen Wirtschaftsführung verpflichtet. Daher dürfen auch jene Kosten, die „bei vernünftiger Wirtschaftsführung“ gar nicht erst anfallen würden, den Mietern nicht weiterverrechnet werden. So steht es im Mietrechtsgesetz (MRG).

Das gilt für private wie kommunale Hausverwaltungen. Im März 2013 hielt das Kontrollamt der Stadt Wien (heute der Stadtrechnungshof) in einem Prüfbericht der Betriebskostenverrechnung von Wiener Wohnen fest:

„Die Weiterverrechnung der Betriebskosten ist ,nicht nur mit größtmöglicher Achtsamkeit durchzuführen, sondern (es ist) vielmehr danach zu trachten, etwaige Einsparungspotenziale zu erkennen und diese zu realisieren.‘

Genau das scheint Wiener Wohnen nicht zu tun. 

Zwei Davids gegen Goliath

Mit Wiener Wohnen stellt sich den beiden streitbaren Mietern des Hugo-Breitner-Hofs ein Unternehmen entgegen, das im Jahr 2014 fast eine Milliarde Euro Umsatz machte und sich die besten Anwälte leistet; etwa Madeleine Zingher, Koautorin eines Standardwerks über das österreichische Mietrecht. Trotz namhafter Advokaten hat Wiener Wohnen nicht immer Erfolg vor Gericht: Der Oberste Gerichtshof gab Kuchta und Schreiber Anfang 2015 im Fall der Betriebskostenabrechnung aus dem Jahr 2007 Recht. Das Verfahren, in dem es um die Betriebskostenabrechnung des Jahres 2007 geht, wurde an das Erstgericht zurückgewiesen. 

Vier Verfahren seien derzeit im Zusammenhang mit Betriebskostenabrechnungen in diesem Gemeindebau anhängig, schreibt Wiener-Wohnen-Pressesprecherin Renate Billeth auf Anfrage von DOSSIER und NZZ.at – sie betreffen die Jahre 2007, 2008, 2009 und 2010. „Angesichts der laufenden Verfahren bitte ich um Verständnis, dass wir derzeit gegenüber den Medien keine Auskünfte geben.“ Vor wenigen Tagen kam eine weitere strittige Abrechnung dazu – jene für das Jahr 2011. Der Hugo-Breitner-Hof zählt zu den am besten dokumentierten Gemeindebauten der Stadt, die Daten von anderen Höfen sind oftmals nicht so ausführlich erfasst.

Der Hugo-Breitner-Hof an der Wiener Westeinfahrt trägt übrigens ausgerechnet den Namen jenes sozialdemokratischen Politikers und Wiener Finanzstadtrates, der 1923 die Idee des sozialen Wohnbaus mit neuen Steuern möglich machte. Hugo Breitner gilt als Vater des Gemeindebaus Wiener Prägung. Die Anlage wurde 1956 errichtet.

Seit fast zehn Jahren streiten Gerhard Kuchta und Ernst Schreiber nun mit Wiener Wohnen. Mittlerweile ist der Ärger der beiden so groß, dass sie selbst politisch aktiv wurden: Zur Wien-Wahl im Oktober wollen sie mit ihrer Liste, der „Demokratischen Alternative“ antreten.