Ein Mieter nimmt Maß

Hunderte Wohnungen im Hugo-Breitner-Hof waren falsch vermessen. Die Bewohner bezahlten jahrzehntelang zu viel.

Wohnen17.8.2015 

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Quadratmeteranzahl einer Wohnfläche eine runde Zahl ohne Kommastellen ergibt, liegt aus mathematischer Sicht bei 1:100. Mieter Ernst Schreiber war überrascht, als er die Wohnungsgrößen in seinem Gemeindebau, dem Hugo-Breitner-Hof in Wien-Penzing, sah. Bei auffallend vielen Wohnungen waren die Flächen ohne Kommazahlen angegeben. 45, 56 oder 61 Quadratmeter waren die Wohnungen groß, auf den Quadratzentimeter genau.

Ernst Schreiber wandte sich mit seiner Entdeckung an einen weiteren Bewohner der Wohnhausanlage, Gerhard Kuchta. Gemeinsam beantragten die beiden eine Neuvermessung der gesamten Wohnhausanlage, mit rund 1.300 Wohnungen einer der größten Gemeindebauten in Wien. Also trat die MA 25, die Magistratsabteilung für „Stadterneuerung und die Prüfstelle für Wohnhäuser“, auf den Plan.

Ernst Schreiber, der seit 1966 im Hugo-Breitner-Hof wohnt, erlebte dabei eine doppelte Überraschung. „Bei der ersten Neuvermessung hat sich der Sachverständige um 14 Quadratmeter vermessen“, erzählt er. Im März 2013 kam dieser nämlich zu dem Ergebnis, dass Schreibers Wohnung 88,31 Quadratmeter groß sei. Doch auf der Betriebskostenabrechnung, die Ernst Schreiber jedes Jahr bezahlte, ist eine Fläche von 74,30 Quadratmeter angegeben.

Schreiber nahm also selbst Maß. Sein Ergebnis: 71,11 Quadratmeter. Er meldete der MA 25 den Fehler. Einen Monat später besuchte ihn erneut ein Techniker des Magistrats. Diesmal lautete das Ergebnis der Messung 71,91 Quadratmeter. Und somit war es offiziell: Schreibers Wohnung ist nicht um 14 Quadratmeter größer, sondern um 2,39 Quadratmeter kleiner als auf der Betriebskostenabrechnung angegeben. „Wenn ich nun Verwaltungskosten, Hausbesorgerkosten, Hauptmietzins etc. zusammenzähle, habe ich jedes Jahr mindestens 50 Euro zu viel an Wiener Wohnen bezahlt“, rechnet er vor.

1.000 Quadratmeter zu viel

50 Euro im Jahr klingt nicht nach viel Geld. Wegen eines solchen Betrages machen sich nur wenige Mieter die Mühe, gegen Wiener Wohnen vorzugehen. Viele trauen sich auch einfach nicht – sie sind froh, eine günstige Wohnung zu haben. Wie leicht sie es dadurch Wiener Wohnen machen, zeigt das Beispiel Hugo-Breitner-Hof: Die Neuvermessung durch die MA 25 hat ergeben, dass jahrzehntelang insgesamt mehr als 1.000 Quadratmeter Wohnfläche verrechnet wurden, die gar nicht existieren.

Bei durchschnittlich 2,44 Euro Betriebskosten pro Quadratmeter und Monat (ohne Lift) macht das rund 30.000 Euro, die den Mietern im Hugo-Breitner-Hof jedes Jahr zu viel verrechnet wurden – und zwar nur an Betriebskosten. Die Miete ist da noch nicht einmal einbezogen. Laut Schreiber und Kuchta ist ihr Gemeindebau nicht der einzige in Wien, in dem Wohnflächen nicht korrekt vermessen wurden.

Mieter unternehmen nichts

Die MA 25 informierte die MA 50 im August 2013 über die Abweichungen im Hugo-Breitner-Hof. Doch kaum ein betroffener Mieter unternahm etwas. „Die denken sich, wegen fünf oder sechs Euro im Monat streit’ ich nicht. Und Wiener Wohnen weiß das“, sagt Schreiber. Er selbst hat – wie wohl viele andere Mieter – möglicherweise Pech gehabt: Die Frist für eine Rückforderung zu hoher Mietzinse verjährt bei unbefristeten Verträgen nach drei Jahren. Sein Verfahren wegen Rückzahlung der Betriebskosten läuft noch.

Auffällig ist auch, dass die falschen Quadratmeterzahlen zu Ungunsten der privaten Mieter gelistet waren, während Geschäftslokale und Magazine im Keller oder Erdgeschoß oft kleiner ausgewiesen wurden, als sie tatsächlich sind. Die MA 25 hat eine Anfrage per Mail noch nicht beantwortet, am Telefon durfte Ende Juli keine Auskunft gegeben werden.

Neuer Mietvertrag mit falschen Angaben

Noch sind nicht alle Wohnungen vermessen, da nicht alle Mieter auf die Terminangebote der MA 25 reagiert haben. „In diesen Fällen rechnet Wiener Wohnen einfach mit dem alten Flächenwert weiter, auch wenn er nicht stimmt“, sagt Schreiber. Dasselbe gelte für leer stehende Wohnungen. Auch die würden nicht vermessen, obwohl Wiener Wohnen die Schlüssel dafür hätte. Ein Fall ist dokumentiert, in dem Wiener Wohnen in Kenntnis der Ergebnisse der Neuvermessung eine Wohnung im Hugo-Breitner-Hof mit der falschen Quadratmeteranzahl neu vergeben hat. Dem Mieter entsteht dadurch ein Schaden von rund 200 Euro im Jahr.

Vermessungsprobleme gibt es jedoch anscheinend nicht nur im Innenbereich. Auch die Grünfläche im Hugo-Breitner-Hof wurde stets mit rund 84.000 Quadratmeter beziffert und in den Betriebskosten an die Mieter weiterverrechnet. Schon 2008 hatte sich herausgestellt, dass die Grünfläche tatsächlich nur rund 64.000 Quadratmeter groß ist, das sind circa 20.000 Quadratmeter weniger. Bis dahin wurde einfach die gesamte Fläche des Gemeindebaus als Grünfläche gerechnet. Die Mieterbeiräte Kuchta und Schreiber erhoben Einspruch.

Aufgrund ihrer Interventionen bekamen die Mieter in diesem Fall rund 70.000 Euro an Betriebskosten zurück. Einige andere Verfahren laufen noch. Dafür mussten sie allerdings bis zum Obersten Gerichtshof gehen. Ob der Hugo-Breitner-Hof und seine neue Fläche ein Einzelfall sind, wird sich zeigen.