Wildes Orbánistan – Ein investigativer Reiseführer

In Ungarn hat der autoritäre Politiker Viktor Orbán eine »illiberale Demokratie« errichtet. Während die ­Korruption grassiert, nimmt er die Zivilgesellschaft, ­Journalist·innen und Oppositionelle ins Visier. Wir widmen unserem ­Nachbarland einen Schwerpunkt, denn: die Donau ­flussabwärts spitzt sich die Lage zu.

Ungarn20.6.2025 

Text: Georg Eckelsberger, Sahel Zarinfard
Mitarbeit: Dávid Gajdos
Illustration: André da Loba
Fotografie: Tom Linecker

So nah und doch so fern. Nur etwas mehr als zweieinhalb Stunden braucht man mit dem Zug von Wien in die ungarische Hauptstadt Budapest – kaum ­länger als nach Graz. Nicht umsonst ist Budapest für ­Österreicher·innen ein beliebtes Reiseziel, sei es für ein Sightseeing-Wochenende oder einen rauschigen Junggesell·innenabschied.

Von Ungarns Politik bekommt man dabei wenig mit: Die pittoresken Mauern des neugotischen Parlaments am Ufer der Donau verraten nichts darüber, welche politischen Grenzüberschreitungen dahinter allein in den vergangenen Monaten stattgefunden haben.

Da wäre etwa das Mitte März 2025 beschlossene Verbot der Pride-Parade in Budapest – ein schwerer Angriff auf queere Menschen in Ungarn: Ihnen wird die Versammlungsfreiheit genommen, ein demokratisches Grundrecht.

Oder im Mai der Entwurf für das sogenannte »Transparenzgesetz« – eine irreführende Bezeichnung, denn in Wahrheit bedeutet es Zensur. Ein Aufschrei ging durch Europa, weil Ministerpräsident Viktor Orbán mit einem solchen Schritt ihm unliebsamen Medien die ­ihnen noch verbliebenen Finanzierungsquellen abschneiden könnte.

Schlechte Nachrichten aus Ungarn stehen schon lange an der Tagesordnung: Seit Jahren höhlt Orbán die Demokratie unseres Nachbar­landes aus und bringt es an die Schwelle zur Autokratie, definiert als ­»gebündelte Staatsgewalt in der Hand eines Herrschers«. Die Betroffenheit nach solchen Nachrichten ist groß, in Europa, in Österreich. Noch größer ist die Ohnmacht.

FPÖ und Orbán: »unerschütterliche Verbundenheit«

Doch nicht alle schauen besorgt über die Grenze: Es gibt auch politische Kräfte, die es Orbán hierzulande gerne nachmachen würden. »Wollen Sie in Österreich auch eine illiberale Demokratie wie in Ungarn?«, fragte ORF-Moderator Armin Wolf im ZiB 2-Interview im Juni 2024. »Absolut«, antwortete FPÖ-Generalsekretär Christian Hafenecker.

Auch das offizielle Österreich hofiert den Autokraten Orbán – in Person des Nationalratspräsidenten Walter Rosenkranz (FPÖ): Symbolträchtig lud er den ungarischen Regierungschef Ende Oktober 2024 nach nur einer Woche im Amt als seinen ersten internationalen Gast ins österreichische Parlament ein – eine EU-Fahne ließ Rosenkranz für Orbáns Stippvisite im Parlament ­kurzerhand verräumen. 

Damit nicht genug: FPÖ-Chef Herbert Kickl maßte sich bei dieser ­Gelegenheit – wohl noch im Rausch seines Wahlsiegs bei der National­ratswahl im September 2024 – an, im Namen Österreichs mit ­Orbán die sogenannte »Wiener Erklärung« zu unterzeichnen: In dem rechtlich ­irrelevanten Dokument »bekräftigen« Orbán und Kickl die »uner­schütterliche Verbundenheit« beider Länder.

Kickl auf der CPAC-Konferenz

»Ungarn zeigt uns allen, ein Nationalstaat kann standhaft bleiben«, sagte Kickl bei seiner Rede bei der CPAC-­Konferenz in Budapest am 29. Mai 2025, einem Gipfeltreffen ­rechtsnationaler ­Politiker·innen. Die Botschaft ist klar: Kommt die FPÖ in Österreich einmal an die Macht, dann ist Orbán das große Vorbild.

»Das Bewusstsein, dass dieser Umbau der Demokratie sehr, sehr einfach passieren kann, ist in Österreich zu wenig da. Trotz der Nähe sind ­Österreich und Ungarn immer noch zwei getrennte Welten«, sagt ­Krisztina Rozgonyi, Kommunikationswissenschaftlerin und Exil-Ungarin in Wien. Mit der Beinahe-Kanzlerschaft Kickls ist Österreich der Schwelle zur ­»illiberalen Demokratie« schon gefährlich nahe gekommen.

Aber Vorsicht, lassen Sie sich von der Bezeichnung nicht in die Irre führen. Was Orbán in Ungarn etabliert hat und wovon die FPÖ in Österreich noch träumt, hat mit demokratischen Grundwerten wenig zu tun; Orbán arbeitet eher an einer Abschaffung als an einer Reform der Demokratie. Er steuert damit in die Richtung seines politischen Vorbilds: Wladimir Putin. 

Das ist eine Erkenntnis von vielen, die wir im Rahmen unserer Recherchen für diesen Schwerpunkt gewonnen haben. Wir sind durch Ungarn gereist, um herauszufinden, wie Viktor Orbán unser Nachbarland in den vergangenen 15 Jahren verändert hat: Wie viel vom Rechtsstaat, der Freiheit, der Mitbestimmung ist heute noch übrig? Und wohin wird all das noch ­führen? Begleiten Sie uns auf unserer Reise durch das »Wilde Orbánistan«.

Vom Burgviertel in die ärmsten Dörfer

Unsere Recherchen haben uns dorthin geführt, wo viele Tourist·innen hinkommen, dorthin, wo man nur wenige trifft, und auch dorthin, wohin sich sicher keine Urlauber·innen verirren. Das Burgviertel in ­Budapest etwa ist ein Muss: Der Blick auf die Stadt und die sie durchquerende Donau ist atemberaubend. Hier befinden sich aber auch journalistisch interessante Anknüpfungspunkte: Orbáns Amtssitz im Karmeliterkloster etwa – demonstrativ ohne gehisste EU-Flagge – und daneben gleich das Palais Sándor, Sitz des ungarischen Staatspräsidenten.

Ein brisanter Schauplatz: Erst 2024 mussten Ungarns Präsidentin Katalin Novák und Justizministerin Judit Varga, zwei Fidesz-Politikerinnen, wegen eines folgenschweren Skandals zurücktreten. Die Schockwellen des sogenannten »Begnadigungsskandals« könnten sogar die Parlamentswahl im Jahr 2026 entscheiden. 

In Budapests Innenstadt sind die Spuren, die das Orbán-Regime in den letzten 15 Jahren hinterlassen hat, auf den ersten Blick nicht sichtbar. Es ist eine hippe Metropole: Einen Flat-White im Coffeeshop ­bekommt man hier ebenso wie in Wien, Berlin oder Paris – die ­Autokratie springt einem dabei nicht ins Gesicht. Doch es ist wie bei dem Sprichwort: Nur wer sich bewegt, spürt seine Fesseln.

Bei den Gesprächen mit jenen Menschen, die auf Orbáns schwarzer Liste gelandet sind, herrscht oft eine schwer fassbare Stimmung: kämpferische Töne, gemischt mit Galgenhumor und stiller Sorge. Schmunzeln über die Auswüchse der staatlichen Repression, bis das Lächeln plötzlich ­einfriert.

Wir treffen investigative Journalist·innen, die überwacht, aus ihren Jobs gedrängt und mit behördlichen Untersuchungen malträtiert werden; Umwelt­aktivist·innen, die zur Zielscheibe der Polizei werden; engagierte Bürger·innen, die für Transparenz in der Politik werben und dafür vom Staat als »ausländischen Agent·innen« gebrandmarkt werden; und ­queere Menschen, die per Gesetz aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen und ihrer Rechte beraubt werden.  

Weniger auskunftsfreudig waren Vertreter·innen der ungarischen Fidesz-Regierung: Von Ministerpräsident Viktor Orbán über Kanzleramtsminister Gergely Gulyás abwärts war niemand der angefragten Politiker·innen zu einem Interview bereit. Auch eine schriftliche Anfrage um Stellungnahme blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet. 

Sehenswürdigkeiten und Schattenseiten

Die Gemeinde Felcsút, 40 Autominuten westlich von Budapest, ist ebenfalls eine Reise wert: einerseits für Fußballfans, denn hier befindet sich das Heimstadion des ungarischen Erstligisten Puskás Akadémia. Aber auch für Journalist·innen, denn nirgends lassen sich die Auswüchse der ungarischen Kleptokratie besser bestaunen als im Heimatort ­Viktor ­Orbáns.

Seit seiner Machtübernahme 2010 ist der »Inner Circle« des ­Ministerpräsidenten unverschämt reich geworden – der Schulfreund, der Papa, der Schwiegersohn. Sichtbar wird das an Prunk- und Sinnlosbauten in dem ansonsten beschaulichen 2.000-Einwohner·innen-Dorf Felcsút: vom Luxusstadion bis zum feudalen Schloss inmitten von Feldern, in dem Orbáns Vater residiert. 

Man glaubt es nicht, wenn man es nicht mit eigenen Augen ­gesehen hat: Deshalb waren wir mit unserem Fotografen und Artdirector Tom Linecker vor Ort und haben eine Sightseeingtour der besonderen Art zusammengestellt. Nur ein Blick auf die Zebras im Privatzoo, den sich die Orbán-Clique in der Nähe von Felcsút leistet, blieb uns leider ­verwehrt.

Unser Autor Dávid Gajdos wiederum ist in das Dorf Mátraverebély ­gefahren und hat darüber eine bedrückende Reportage verfasst. Hier, in einer der ärmsten Regionen Ungarns, bestimmen Not und Arbeitslosigkeit den Alltag – zu allem Überdruss bringt eine Drogenepidemie die Dorf­bewohner·innen zur Verzweiflung. Hier findet man aber auch die glühendsten Orbán-Fans: Seine Wahlsiege hat er stets auf dem Land eingefahren. Warum wählen Menschen in Armut Orbáns Partei, in deren Umfeld die Korruption grassiert? Ein Blick in die Geschichte macht den scheinbaren Widerspruch verständlicher.

Die bittere Ironie: Ungarn stünden Milliarden an EU-Förderungen zur Verfügung, um die Not in Gegenden wie dieser zu lindern. Doch ­aktuell wurden bereits rund 19 Milliarden Euro an Förderungen eingefroren – wegen Verstößen Ungarns gegen die Rechtsstaatlichkeit. Mit 1. Jänner 2025 ist eine Milliarde Euro zur Förderung strukturschwacher Gebiete endgültig verfallen – wegen fehlender Reformen im Bereich der Korruptionsbekämpfung.

Österreichs Orbánisierer

Auch in Österreich findet man ein Stück Orbánisierung. In Maria ­Ellend, einer kleinen Gemeinde an der Donau, lebt ein Mann, der entscheidend an der Ausschaltung der freien Medien in Ungarn beteiligt war und davon profitiert hat: der 74-jährige Investmentbanker Heinrich Pecina. ­

DOSSIER-Redakteur Ashwien Sankholkar zeichnet in einem Porträt nach, wie Pecina unabhängige Zeitungen in Ungarn aufkaufte und in Regierungs­kontrolle übergab. Während die Ungar·innen nun mit staatlicher Propaganda beschallt werden, lebt Pecina feudal in Niederösterreich und fährt – ungelogen – mit der Kutsche herum.

Die Ausschaltung der freien Medien bleibt Dreh- und Angelpunkt der Machtausübung Orbáns und hält bis heute an. Mit dem eingangs erwähnten »Transparenzgesetz« wird ausländische Finanzierung von Medien kriminalisiert und mit hohen Strafen bedroht: Internationale Recherchestipendien und Förderungen werden dadurch gekappt.

Eine staatliche ungarische Presseförderung gibt es nicht. Mit öffentlichen Inseraten füttern der ungarische Staat und staatsnahe Unternehmen politisch genehme Blätter. Ein System, das Ihnen als DOSSIER-Leser·in in Grundzügen auch aus Österreich bekannt ist.

Lauf, Péter, lauf!

Die Lage in Ungarn spitzt sich zu, und das liegt auch daran, dass Viktor Orbán ein Jahr vor der Parlamentswahl 2026 erstmals einen ernstzunehmenden Herausforderer hat. »Péter Magyar kam wie aus dem Nichts. Er ist sehr talentiert und geschickt, er weiß, was er macht. Das Interessante ist, dass die vielen Diffamierungskampagnen gegen ihn nicht wirklich greifen, sie prallen an ihm ab«, sagt Ellen Bos, Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft an der Andrássy-Universität in Budapest.

»Er ist bis jetzt eine One-Man-Show. Sensible Themen wie den Ukraine-Krieg spricht er fast gar nicht an«, mahnt Politologe Tobias Spöri von der Universität Wien zur Vorsicht. So oder so: Der 44-jährige Magyar dominiert aktuell die politische Diskussion und führt mit seiner Partei Tisza in den Umfragen. 

Magyar gibt sich als Kämpfer gegen die Korruption, für die ­Demokratie – und volksnah: Am 14. Mai bricht er zu einem Protestmarsch quer durch das Land auf, zu Fuß geht er von Budapest durch die weite ­Puszta bis nach Rumänien. Es ist eine politische PR-Aktion, die Orbán dort treffen soll, wo es ihm am meisten wehtut: bei den Stimmen der ihm gegenüber sonst so loyalen ländlichen Bevölkerung.

Dutzende Anhänger·innen begleiten den Oppositionspolitiker, sie schlafen in Zelten und bei Freiwilligen. In den Dörfern wird Magyar von der Bevölkerung mit selbstgemachtem Pogácsa (einem traditionellen Gebäck), Pálinka (Schnaps) und fühlbarer Aufbruchsstimmung empfangen. 

Wir treffen Magyar auf dem Weg, interviewen ihn im Gehen: Was sagt er zu Befürchtungen seiner Fans, er könnte mit unfairen Mitteln vom Wahlantritt abgehalten werden? »Mich können sie gern ins Gefängnis sperren, ich wollte immer schon mehr Zeit haben, um weitere Sprachen zu lernen«, sagt Magyar. »Die gesellschaftliche Unterstützung unserer Bewegung ist aber längst zu groß, als dass man uns mit solchen Mitteln besiegen könnte. Jetzt sehen alle, dass die Machthaber gerade panische Angst haben.«

Wie Magyar, ein ehemaliger Fidesz-Insider, zu Orbáns größter Bedrohung wurde und was ein Rosenkrieg und ein heimlich mitgeschnittenes Gespräch damit zu tun haben, lesen Sie ebenfalls in diesem Magazin. Ob sich Viktor Orbán nach der Parlamentswahl 2026 noch einmal an der Macht halten oder Senkrechtstarter Magyar die Hoffnungen seiner Anhänger·innen erfüllen kann, wird die Zukunft zeigen.

Mit unserem Schwerpunkt sind Sie jedenfalls gut informiert – und können bei Ihrer nächsten Reise in Österreichs schönes Nachbarland ein Stück weit hinter die Fassaden blicken.