Hanau war kein Einzelfall

Ein Team von Journalistinnen arbeitete den rechtsextremen ­Anschlag in der deutschen Stadt Hanau in einem preisgekrönten Podcast auf – sie stießen auf verzweifelte und zugleich kämpferische Familien, Rassismus und Behördenversagen.

Text: Sham Jaff, Viola Funk

Terror15.10.2021 

Aufmacherfoto: Michael Probst / AP / picturedesk.com

Am Abend des 19. Februar 2020 erschießt ein Deutscher im hessischen Hanau neun junge Menschen. In weniger als 15 Minuten fährt er durch zwei Stadtviertel, betritt drei Bars und einen Kiosk, erschießt dort sowie auf der Straße und auf einem Parkplatz acht Männer und eine Frau. Danach fährt er nach Hause, tötet seine Mutter und sich selbst.

Schnell wird klar: Der Täter ist ein Rechtsextremer, die Tat ist rechter Terror. Der Mann aus Hanau wollte Menschen töten, die nicht in sein rassistisches Weltbild passen. Seine Opfer kommen aus kurdischen, türkischen, bosnischen, rumänischen, bulgarischen und afghanischen Familien. Auch Mitglieder aus der Minderheit der Sinti und Roma sind unter den Toten. Für die Familien der Opfer steht seit diesem Abend die Welt still.

Für viele andere dreht sie sich rasant weiter. Nur wenige Wochen nach dem Anschlag, im März, wird in Deutschland der erste Lockdown beschlossen. Covid-19, eine weltweite Pandemie, dominiert die Nachrichtenlage – und die Gedanken. Obwohl Hanau der dritte rechte Terror­anschlag in Deutschland innerhalb von neun Monaten ist, ist die Tat nur kurz ein Thema in der Öffentlichkeit. Zudem ist es einer der schwersten rechtsextremen Anschläge seit dem Zweiten Weltkrieg.

Erst ein Jahr später, zum ersten Jahres­tag, bekommen die Geschehnisse des Abends und die Stimmen der Angehörigen eine breite mediale Aufmerksamkeit. Sie bekommen auch Aufmerksamkeit, weil bekannt wird, wie groß das Ausmaß des politischen und behördlichen Versagens vor, während und nach dieser rechtsterroristischen Tat war.

Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist auch eine Geschichte des rechten Terrors. Und sie beginnt und endet nicht mit dem 19. Februar 2020 in Hanau. Am 1. Juni 2019 wird der CDU-Politiker Walter Lübcke, der sich für Geflüchtete einsetzte, in seinem Garten von einem Neonazi erschossen. Am 9. Oktober 2019 versucht ein Rechtsextremer am höchsten jüdischen Feiertag einen Massenmord in einer Syna­goge in Halle zu begehen und tötet dabei zwei Menschen. Die Liste ist lang.

»Seit 1990 wurden 182 Menschen durch Rechtsextreme ermordet. 14 durch Islamisten. Drei durch Linksextreme«, schreibt Autor und Zeit-Journalist Christian Fuchs unmittelbar nach dem Anschlag in Hanau. Viele sind sich mittlerweile einig: Deutschland hat ein Problem mit rechtem Terror. Und: Viele andere wollen das nicht wahrhaben.

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