Die Akte Marsel O.

Der Slowene Marsel O., der die Tatwaffen des Wiener Terroranschlages lieferte und daran Geld verdiente, profitierte von einem Justizirrtum – und kam mit einer milden Strafe davon. Eine länderübergreifende DOSSIER-Recherche zeigt, dass die Versäumnisse der Behörden im Fall O. gravierender waren als bislang bekannt.

Von Thomas Hoisl und Anuška Delić (Oštro); Illustration: Rob Ayers

Terror13.6.2023 

Diese Recherche ist in Zusammenarbeit mit der slowenischen Investigativplattform Oštro entstanden. Mitarbeit: Eduardo Goulart (OCCRP)

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Neun Minuten feuerte der Attentäter um sich. Die Kugeln schmetterten gegen Mauern der Wiener Innenstadt, prallten gegen Kopfsteinpflaster, zerschlugen Fensterscheiben von Bars und Restaurants. Sie trafen zwei Frauen und zwei Männer tödlich und verletzten 23 weitere Menschen, teils lebensbedrohlich.

Mit einem vollautomatischen Sturmgewehr und einer Pistole verübte Kujtim F. am Abend des 2. November 2020 den ersten jihadistisch motivierten Anschlag in Österreich. Es ist ein Verbrechen, das Behörden wie Öffentlichkeit bis heute beschäftigt.

Den neun Minuten, in denen der Attentäter wütete, stand am 30. Mai 2023 am Wiener Landesgericht für Strafsachen ein erstaunlich mildes Urteil gegenüber: neun Monate Haft für jenen Mann, der ihm die Tatwaffen verkauft hatte. 

Mindestens 3.500 Euro dürften Sturmgewehr, Pistole und mehr als 300 Schuss Munition gekostet haben – ein Geschäft auf Raten. In den Monaten vor dem Anschlag fuhr der Waffenhändler dafür zweimal quer durch Österreich, 250 Kilometer von der slowenischen Stadt Maribor nach Wien. Einmal im Juni, dann im September.

Laut Ermittlungsergebnissen des Wiener Landesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) hatte der Mann für den Waffendeal auch Mittelsmänner. Dennoch: Bei der Übergabe der Munition an den Attentäter im September 2020 soll er auch persönlich dabei gewesen sein – auch wenn dies von ihm bestritten wird.

Die neunmonatige Strafe gegen Marsel O., einen 31-jährigen Slowenen, wurde gänzlich zur Bewährung ausgesetzt. Nach der Urteilsverkündung verließ der Mann im gestreiften, dunklen Hemd mit Sonnenbrille auf der Stirn schnurstracks das Gericht.

»Wenn es irgendwie möglich wäre, würde ich die Taten rückgängig machen und nicht mehr so unbedarft handeln«, hatte er am Ende des nur 45-minütigen Prozesses im Großen Schwurgerichtssaal gesagt.

Auch die anderen zwei Männer, die in die Waffenbeschaffung des Attentäters involviert waren, hatten sich vor Gericht mit ähnlichen Argumenten verteidigt: Adam M., ein langjähriger Bekannter von Marsel O., hatte die zwei Deals mit O. und dem Attentäter eingefädelt – und dafür eine lebenslange Strafe ausgefasst, die Höchststrafe nach dem österreichischen Strafrecht. Und Ishaq F., ein Jugendfreund des Attentäters, der diesem im Frühjahr 2020 den Kontakt zu Adam M. verschafft hatte, wurde dafür zu 19 Jahren Haft verurteilt.

Marsel O. hingegen war wegen des Waffendeals nie in Haft.

Weder wurde sein Wohnsitz in Slowenien durchsucht, noch alle seine elektronischen Geräte beschlagnahmt. Gegen ihn gab es weder einen Europäischen Haftbefehl noch ein Auslieferungsersuchen seitens der Wiener Justiz.

Sein Verfahren wurde vor dem großen Terrorprozess abgesondert und schlummerte abseits der Öffentlichkeit vor sich hin. Indes gründete O. Firmen, fuhr mit seiner Familie in den Urlaub und lebte ein augenscheinlich unbekümmertes Leben in einer ruhigen Gemeinde außerhalb Maribors. 

Der »Irrtum« – und das zweite Sturmgewehr

Wenige Tage vor O.s Prozess dann der Aufreger. Die Staatsanwaltschaft Wien räumte öffentlich ein, den wesentlichen Vorwurf gegen O. versehentlich eingestellt zu haben.

Daher konnte nur der Verkauf der Pistole samt Munition angeklagt werden. Der Verkauf von Kriegsmaterial, also des Sturmgewehrs, mit dem Kujtim F. den Anschlag auch verübt hatte, war plötzlich nicht mehr Teil des Strafantrages.

Es sei ein »Irrtum« passiert, und zwar schon im Jahr 2021.

Damals, so die Staatsanwaltschaft, sei im Zuge der Terrorermittlungen ein Verfahren »abgetrennt« und Marsel O.s Verkauf von Kriegsmaterial dort einbezogen worden. Eine neue Staatsanwältin, die den Akt bekam, habe die Vorwürfe gegen O. »irrtümlich« eingestellt, erklärt eine Justizsprecherin gegenüber DOSSIER.

Deshalb könne Marsel O. heute der mutmaßliche Verkauf des Sturmgewehrs an den Attentäter nicht mehr angelastet werden.

Nach DOSSIER-Informationen profitierte O. von dem »Irrtum« aber noch mehr, als bisher bekannt war: So soll O. laut Ermittlungen des Verfassungsschutzes einem weiteren Mann in Wien ein zweites, baugleiches Sturmgewehr zum Kauf angeboten haben. Auf diesen war das LVT über die weitreichenden Ermittlungen nach dem Anschlag gekommen.

Zugetragen hat sich der versuchte Deal laut einem LVT-Bericht im März 2020. Damals habe Marsel O. dem Mann neben einem Sturmgewehr auch eine Handgranate und Munition angeboten, die der potenzielle Käufer in einem Rucksack erhielt.

Der Interessent, der 32-jährige Mukharbek A., trat am Ende vom endgültigen Kauf zurück, weil sich seine Mutter einmischte und das Gewehr zurückgab – A. gestand Anfang 2021 jedenfalls ein, die Waffen kurzzeitig besessen zu haben. Mit dem Gewehr habe er sich vor Anhängern des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow »verteidigen« wollen, wie er aussagte.

Bei seiner Einvernahme im März 2021 identifizierte er Marsel O. auf einem von Ermittler·innen vorgelegten Foto als den mutmaßlichen Verkäufer. Während Mukharbek A. deshalb im April 2021 wegen »fahrlässigen Besitzes« eines Sturmgewehrs zu zehn Monaten bedingter Haft verurteilt wird, unter »Bedachtnahme« auf eine weitere Vorstrafe, wie eine Sprecherin des Landesgerichts Wien bestätigt, kommt Marsel O. auch in diesem Fall ungestraft davon.

Warum?

Der versuchte Verkauf des zweiten Sturmgewehrs sei ebenfalls vom zuletzt bekannt gewordenen Justizirrtum betroffen, erklärt die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Wien gegenüber DOSSIER. Die irrtümliche Verfahrenseinstellung aus dem Jahr 2021 betraf »im Zweifel alles, was in diesem Zeitraum an Kriegsmaterial verkauft wurde«. Deswegen könne Marsel O. sowohl wegen des Gewehrs im März 2020, als auch zur verkauften Attentatswaffe im Juni 2020 nicht mehr belangt werden. 

Wie kann das sein? Wieso verlaufen die Ermittlungen gegen einen Waffenhändler derart zu seinen Gunsten?

Recherchen von DOSSIER und der slowenischen Investigativplattform Oštro zeigen exklusiv, wie nachlässig die österreichischen und slowenischen Behörden gegen Marsel O.  vorgegangen sind. Eine Festnahme, die das LVT Wien angeregt hatte, wurde nicht angeordnet. Informelle Gespräche unter den Sicherheitsbehörden führten dazu, dass nicht härter gegen den Mann ermittelt wurde.

Die Recherchen enthüllen aber auch eine bemerkenswerte Geschichte rund um die Familie des Waffenhändlers: Sein Vater war selbst Polizist, seine Mutter in einen Fall von internationalem Drogenhandel involviert. Die beim Attentat verwendete Pistole soll Marsel O. illegal bei einem Schießstand der slowenischen Armee erworben haben.

Auf Anfrage wollen O.s Anwält·innen in Slowenien und Österreich nichts zu all dem sagen. Sie berufen sich auf »Verschwiegenheitsgründe« beziehungsweise geben an, dass sich der Mann nicht äußern wolle.

»Magic Dragon«

Spodnji Duplek, wenige Kilometer außerhalb der slowenischen Stadt Maribor, ist eine Gemeinde mit rund 1.700 Einwohner·innen. In einer Straße reihen sich Einfamilienhäuser mit Gärten nebeneinander. Vor einem der Häuser stehen ein dunkler Kombi, ein mit Plane abgedecktes Auto und ein kleines Motorboot, darauf die Inschrift »Magic Dragon«.

Die Fensterscheiben des Hauses sind mit weißen Herzen verziert, neben der Eingangstür steht ein Gartenzwerg aus Stein. Hinter der hellgrauen Fassade wohnt Marsel O., der laut Ermittlungen des Wiener Verfassungsschutzes mit Sturmgewehren gehandelt haben soll.

Marsel O., eigenen Angaben zufolge »Kaufmann ohne Beschäftigung«, wurde 1992 in Maribor geboren und besuchte dort die Handelsmittelschule. 2012 gründete er eine Firma zum Zweck der »Montage, spezialisierten Bauarbeiten und anderen Dienstleistungen«. Ein einträgliches Geschäft, wie er später gegenüber der Polizei sagt. 2016 ging sein Unternehmen jedoch bankrott.

Für die Ermittler·innen des LVT Wien ist sein Einkommen »absolut nicht nachvollziehbar«. Es sei »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen«, dass er seine »Einkünfte nur aus dem Gewinn aus illegalen Geschäften – unter anderem dem Handel mit Waffen – lukriert«, notiert ein Beamter im Mai 2021. 

Fotos in den sozialen Medien zeigen, dass der Slowene mit den kurzrasierten Haaren heute vor allem ein Faible für den Motorradsport hegt. Marsel O. ist aber auch ein Familienmensch.

Mit seiner Partnerin, einer Kindergartenhelferin, hat er eine sechsjährige Tochter. In auf Instagram geposteten Fotos sieht man sie in den Gassen von Palermo oder in der Altstadt der maltesischen Hauptstadt Valletta flanieren. Auch Wien ist eine beliebte Urlaubsdestination der Familie. 

Hier soll Marsel O. während eines Familientrips im Juni und September 2020 das Sturmgewehr, eine Pistole und hunderte Schuss Munition an den Attentäter Kujtim F. verkauft haben. Davon sind die österreichischen Ermittler·innen überzeugt.

Das Gewehr, mutmaßen sie, habe er im Kindersitz versteckt, auf dem seine Tochter während der Fahrt nach Wien gesessen ist. So könnten die DNA-Spuren des Mädchens letztlich auf das Sturmgewehr gelangt sein, wie Ermittler·innen später feststellen werden.

Bei seiner ersten und einzigen Einvernahme im Mai 2021 behauptete Marsel O. felsenfest, sich »nie mit Waffen befasst«, weder welche »besessen« noch auch nur »damit hantiert« zu haben. Nach dieser – wie sich herausstellen sollte – Lüge ging er auf freiem Fuß nach Hause.

Wenige Tage später besucht er mit einem Freund und seiner Tochter ein Wissenschaftsmuseum. Und kurz darauf schippert das Motorboot »Magic Dragon« durch die kroatischen Kornaten, wie Fotos zeigen.

Wie aber waren die österreichischen Behörden überhaupt auf ihn gekommen?

Die Überwachung beginnt

Ein Rückblick in den Dezember 2020: Wenige Wochen nach dem Attentat in der Wiener Innenstadt verfolgen Österreichs Verfassungsschützer·innen eine heiße Spur.

Ein Jugendfreund des Attentäters, Ishaq F., hatte den entscheidenden Hinweis geliefert, wie Kujtim F. an die Tatwaffen gelangt war. Er selbst sei es gewesen, sagte Ishaq F. gegenüber der Polizei, der dem Attentäter Kontakte zu potenziellen Waffenverkäufern verschafft hatte – aus purem Leichtsinn, wie er es später vor Gericht begründen wird.

Bei dem vermittelten Kontakt handelt es sich um den 33-jährigen Adam M. Die Ermittler·innen werden rasch fündig, als sie seinen Namen durch ihre Datenbanken jagen: Er ist unter anderem wegen Nötigung und Körperverletzung vorbestraft. Seine im System erfasste DNA passt zu einer Spur, die auf einer der sichergestellten Patronen am Anschlagsort gefunden wurde.

Der Verfassungsschutz observiert Adam M. fortan – dadurch gerät auch Marsel O. erstmals ins Visier der Polizei. Die beiden werden Mitte Dezember 2020 bei einem Hotel nahe des Wiener Praters beobachtet. Zeitgleich überwachen die Beamt·innen die Telefonate von M. und erfahren, dass die Männer in die Slowakei fahren wollen, »um eine Firma zu kaufen«.

Der Verfassungsschutz kann sich darauf keinen Reim machen. Später wird Marsel O. aussagen, es sei um das Leasing eines Fahrzeuges gegangen. Als Adam M. am nächsten Tag Anstalten macht, Österreich zu verlassen, schreiten Einsatzkräfte der Cobra ein und nehmen ihn an der Wohnadresse seiner Mutter fest.

Marsel O., dessen Verwicklung in den Anschlag zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar ist, wird am selben Tag von der slowakischen Polizei als Kontaktperson verdeckt im Rahmen einer Fahrzeugkontrolle überprüft. Unbehelligt kann er in seine Heimat Slowenien fahren.

»Ruda macht alles«

In Untersuchungshaft schweigt Adam M. zwei Monate lang. Er will nicht reden: nicht über den Anschlag, nicht über sein Netzwerk und auch nicht über die Waffenlieferung. Dann, am 18. Februar 2021, packt er während eines siebenstündigen Verhörs aus. 

Er gibt zu, in den Monaten vor dem Anschlag zwei Waffendeals mit dem Attentäter eingefädelt zu haben. Die Waffen geliefert und daran verdient habe aber ein anderer: sein langjähriger Bekannter Marsel O.

»Ich war sozusagen Rudas Mittelsmann«, sagt Adam M. zur Polizei und nennt Marsel O. bei seinem Spitznamen. Bei dem Slowenen würde es sich um »keine einfache Person« handeln. Marsel O. habe »sehr viel Geld, sehr viele Bekanntschaften, sehr viele Kontakte und sehr viele Waffen. (...) Ich habe bei Ruda fast immer Pistolen und Drogen gesehen«.

In einer weiteren Einvernahme legt Adam M. noch einmal nach:

Ruda macht alles, was man sich vorstellen kann. Verbotene Sachen, legale Sachen. (...) Einmal habe ich bei ihm zu Hause eine polnische UZI gesehen. Das ist eine Maschinenpistole. An diesem Tag, da waren wir auch an einem Schießstand, habe ich circa sechs bis sieben Pistolen bei Ruda gesehen. (...) Ruda ist sehr gut in Slowenien sowie in Österreich vernetzt. In Slowenien geht das sogar bis hin zu Kontakten in die Politik, sofern seine Erzählungen stimmen. Ich glaube, wenn man genug Geld hat, kann Ruda fast alles möglich machen.

Die abgeblasene Hausdurchsuchung

Ende März 2021 erkennt der Wiener Verfassungsschutz schließlich die Dringlichkeit in Bezug auf Marsel O. In einem Anlassbericht ersucht das LVT die zuständige Wiener Staatsanwältin, eine Festnahme, einen Europäischen Haftbefehl und eine Hausdurchsuchung gegen Marsel O. anzuordnen.

Doch dazu kommt es nie.

Im Endbericht der Ermittlungen kommentiert das LVT die Kursänderung knapp: »Mangels konkreter Terrorismusverdachtslage« seien eine Hausdurchsuchung sowie eine Festnahme »nicht bewilligt worden«. Das Vorgehen irritiert.

30 Hausdurchsuchungen waren im Zuge der Terrorermittlungen durchgeführt und 20 Personen festgenommen worden, doch ausgerechnet bei jenem Mann, der gemeinsam mit Adam M. die Tatwaffen an den Attentäter verkauft haben soll, reicht die Verdachtslage nicht aus?

Wie konnte eine »Terrorismusverdachtslage« von vornherein ausgeschlossen werden, wenn doch noch nicht zu dem Mann ermittelt worden war? Warum wurde bei dem Mann keine Hausdurchsuchung wegen des Waffenhandels, dessen er beschuldigt wurde, durchgeführt?

Auch Expert·innen sind verwundert: »Von außen betrachtet ist das Aussparen des Lieferanten sehr seltsam. Noch dazu, weil die Behörden ansonsten derart breit vorgegangen sind«, sagt Alexander Tipold zu DOSSIER. Tipold ist außerordentlicher Professor am Wiener Institut für Strafrecht und Kriminologie. »Ich finde es auch seltsam, dass man den Tötungsvorsatz so locker verneinte. Es ist ja keine Absicht erforderlich, es reicht ja ein Eventualvorsatz«, sagt er.

Strafrechtsexpertin Ingeborg Zerbes, die die Untersuchungskommission zum Behördenversagen im Vorfeld des Anschlags federführend geleitet hat, sagt: Es sei schon auffällig, »dass man bei dem eigentlichen Waffenhändler anders vorgegangen ist als bei anderen Verdächtigen, die in die Waffenvermittlung involviert waren«.

Auf Nachfrage begründet eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft Wien das Vorgehen der Justiz so: »Es gab keine Voraussetzungen für eine Festnahme oder Hausdurchsuchung. Es gab keine Ermittlungsergebnisse dahingehend, dass da eine terroristische Straftat dem Beschuldigten zur Last gelegt werden könnte.«

Gespräche unter Geheimdiensten

Ein Blick in die Ermittlungsakten, konkret in den »Anordnungs- und Bewilligungsbogen«, liefert Anhaltspunkte für die Kursänderung der Behörden.

Anfang April 2021, wenige Tage nachdem der Verfassungsschutz die Festnahme und Durchsuchung von Marsel O. angeregt hatte, telefoniert die fallführende Staatsanwältin mit einem leitenden Ermittler. Demzufolge plante der Verfassungsschutz ein »Treffen mit den slowenischen Behörden«.

Am 15. April dann ein weiterer Vermerk der Staatsanwältin: »Mit Blick auf das Ergebnis der Besprechung mit den slowenischen und slowakischen Behörden wird zu O. eine Europäische Ermittlungsanordnung zwecks Beschuldigteneinvernahme in Aussicht genommen.«

Soll heißen: Nach den Gesprächen mit den Partnerdiensten einigen sich die Behörden auf eine Einvernahme von Marsel O. in Maribor, Slowenien. Von einer Festnahme oder einer Hausdurchsuchung ist fortan keine Rede mehr.

Dass man sich über die Motive des Mannes ausgetauscht hatte, zeigt ein dritter Vermerk der Staatsanwältin: »Bislang sei ihm (einem Ermittler des LVT, Anmerkung der Redaktion) von den Slowenen nur mitgeteilt worden, dass kein terroristischer Hintergrund von Marsel O. bekannt sei und dieser ein ›Kleinkrimineller‹ im Suchtgiftmilieu sei.« Mit diesen Informationen begnügte man sich offenbar in Wien.

Der slowenische Nachrichtendienst SOVA teilt auf Anfrage mit, dass man sich zu geheimen Informationen nicht äußert, man aber »im Rahmen der gesetzlichen Befugnisse und Pflichten alle Formen von Risiken und Bedrohungen für die nationale Sicherheit der Republik Slowenien überwacht und umsetzt«.

Die für Terrorismus zuständige spezialisierte Staatsanwaltschaft in Ljubljana kam hinsichtlich O. zu dem Schluss, dass keine terroristischen Verbindungen vorlagen.   

Die Gewissheit der slowenischen Sicherheitsbehörden verblüfft, hat doch auch die dortige Polizei jede Durchsuchungsmaßnahme unterlassen. Oder kennt man Marsel O. vielleicht besser, als das aus den österreichischen Ermittlungsakten hervorgeht?

Kokain aus Brasilien

Wir gehen zurück in das Jahr 2019 und reisen knapp 10.000 Kilometer über den Atlantik nach Brasilien. Am 25. Mai kommt es am Flughafen São Paulo-Guarulhos zu einem Zwischenfall.

Eine Frau mittleren Alters will am größten Flughafen Brasiliens gerade in eine Maschine Richtung Doha, die Hauptstadt Katars, steigen, als sich ihr Beamt·innen in den Weg stellen und sie zu ihrem beschlagnahmten Gepäck führen.

In einem Koffer, in mehrfach verpackten Kinderbüchern, sind mehr als drei Kilogramm Kokain versteckt. Die Fahnder·innen nehmen die Frau fest – wie DOSSIER vorliegende Gerichtsakten und ein Abgleich ihrer Personenkennzahl bestätigen, handelt es sich bei ihr um Marsel O.s Mutter, die 51-jährige Manuela K.

Vor den brasilianischen Drogenermittler·innen bestreitet K., wissentlich Drogen geschmuggelt zu haben. Sie behauptet, Opfer eines italienischen Geschäftsmannes geworden zu sein, der mit ihrem Ehemann und einem gemeinsamen slowenischen Freund in Brasilien den Plan gehabt hatte, Eissalons zu eröffnen.

Anstelle des Ehemanns und des Freundes sei sie nach Brasilien gekommen, um nötige Papiere zu unterschreiben. Dort habe ihr der Geschäftsmann, der Italiener Vito Di C., einen Koffer mit Dokumenten mit der Bitte überreicht, diese am Zwischenhalt in Doha an jemanden zu übergeben. Im Prozess stellte sich heraus, dass man die Papiere für die Firmengründung nicht zwingend persönlich, sondern auch online unterschreiben kann. 

Dennoch kam die Frau mit der gewagten Geschichte zunächst durch: Im März 2020 wird sie von einem Gericht in erster Instanz freigesprochen. Es habe nicht genügend Beweise gegeben, um ihr wissentlichen Drogenschmuggel nachzuweisen.

Um ihre Version der Geschichte zu untermauern, reist ihr Ehemann nach Brasilien. Nun kommt ein pikantes Detail ans Licht: K.s Ehemann, der 52-jährige Matjaz O., habe in Slowenien 13 Jahre als Polizist gearbeitet, so das Protokoll. Und nicht einmal ihm, einem Ex-Cop,  sei etwas Anrüchiges an dem geplanten Geschäft mit dem Italiener aufgefallen.

Über den Fall am Flughafen São Paul haben bis heute weder brasilianische noch  slowenische Medien berichtet. Nach dem Freispruch im März 2020 war es Manuela K. möglich, zurück nach Europa zu reisen.

Später ging die Staatsanwaltschaft in Brasilien in Revision – und bekam recht.

In ihrer Abwesenheit wurde der Freispruch aufgehoben und Manuela K. zu drei Jahren, zwei Monaten und 26 Tagen Haft verurteilt. Sie legte gegen die Entscheidung Berufung ein. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen.

Der Polizistensohn

Marsel O.s Mutter war also – wissentlich oder nicht – in einen Fall von internationalem Drogenschmuggel von beachtlichem Ausmaß verwickelt; O.s Vater wiederum war Polizist.

Das bestätigt auch ein Pressesprecher der slowenischen Polizei: Nach seinen Angaben sei der Mann jedoch nicht 13, sondern etwa acht Jahre – von 1989 bis Mai 1997 – Polizeibeamter gewesen.  Manuela K.s Anwältin wollte sich dazu nicht äußern.

Indes steht auch K.s Sohn Marsel O. im Verdacht, mit Drogen gehandelt zu haben.

Sein langjähriger Bekannter Adam M. packte dazu bereits in seinen Einvernahmen Anfang 2021 aus, ohne von den Ermittlern danach gefragt worden zu sein: »Ruda ist ein Drogendealer. (...) So habe ich ihn kennengelernt. Ich habe meistens zehn bis 20 Gramm Kokain für mich und meine Freunde gekauft. Er bringt sehr viele Drogen nach Österreich. Wenn man ihn gut bezahlt, liefert er es überallhin nach Österreich. Ich habe auch gehört, dass das Geschäft in Graz sehr gut läuft.«

Wie reagierte die Wiener Staatsanwaltschaft auf die Drogenvorwürfe?

Auf Anfrage gibt es dazu eine überraschende Antwort: »Ich weiß darüber nichts«, so eine Sprecherin der Behörde. Ihr sei völlig neu, dass O. in Österreich Drogen verkauft haben soll. Man werde der Aussage von Adam M., die im Ermittlungsakt steht, nun aber nachgehen, sagt sie. Adam M.s Anwalt reagierte auf mehrmalige Anfragen von DOSSIER nicht.

Die Staatsanwaltschaft Maribor, an die Österreich zweimal das Verfahren der verkauften Attentatswaffen abtreten wollte, was die Behörde aber aus »verfahrensökonomischen Gründen« ablehnte, gibt sich bedeckt: »Zu den von Ihnen angefragten Sachverhalten können wir Ihnen aufgrund eines laufenden Ermittlungsverfahrens keine näheren Angaben machen.« Was der genaue Inhalt des laufenden Verfahrens sei, wird nicht kommuniziert.

Vor Gericht in Wien ist Marsel O. zuletzt mit einer anderen Aussage aufgefallen: Die Pistole, die er an den Attentäter verkauft hatte, habe er »illegal« auf einem Schießplatz im slowenischen Apače erworben. Wie sich herausstellt, gibt es dort einen alten Schießstand, der im Besitz der slowenischen Armee steht.

Das slowenische Verteidigungsministerium erklärt, das Apače-Übungsgelände gelegentlich für die Feldausbildung von Einheiten zu nutzen, jedoch schon »mehrere Jahre lang nicht für Gefechtsschießübungen«.

»Vollständig vorbereitet«

Zurück zu den Ermittlungen. Schon im März 2021 lagen den österreichischen Ermittler·innen Aussagen zweier Zeugen zum mutmaßlichen Drogen- und Waffenhandel von Marsel O. vor. Sollte er illegales Material bei sich daheim gebunkert gehabt haben, dürfte er die Spuren längst beseitigt haben.

Nachdem sich österreichische und slowenische Behörden im April 2021 entschieden, bei ihm keine Festnahme oder Hausdurchsuchung durchzuführen, war O. bald darauf alarmiert.

Anstelle einer Zwangsmaßnahme lud man ihn damals bloß zur Einvernahme in Maribor. An das Papier angehängt: Die auf Slowenisch übersetzte Ermittlungsanordnung der Wiener Staatsanwaltschaft. Auf 28 Seiten konnte Marsel O. nachlesen, dass er ins Visier der österreichischen Behörden geraten war.

Bei der Einvernahme am Kreisgericht Maribor am 10. Mai 2021 bestritt er noch vehement, jemals irgendetwas mit Waffen zu tun gehabt zu haben – eine Lüge, wie sich später herausstellte.

Zur Befragung, bei der auch zwei Wiener Verfassungsschützer anwesend waren, war er zudem ohne Handy erschienen. Wenige Tage vor der Befragung hatte die Wiener Staatsanwältin noch angeordnet, das Telefon von Marsel O. zu beschlagnahmen. 

Ein Ermittler notierte, O. sei zur Einvernahme »vollständig vorbereitet« erschienen. Erst einen Tag später lieferte O. ein Handy ab.

Im Abschlussbericht im März 2022 hielt das LVT fest, dass O. acht Telefonnummern verwendet hatte und nahm an, dass er ein für ihn unbedenkliches Smartphone übergeben hatte. Warum es keine Bestrebungen gab, weitere Geräte zu beschlagnahmen, konnte die Staatsanwaltschaft Wien nicht beantworten.

Im Sommer 2021 ließ die Wiener Staatsanwaltschaft eine DNA-Probe von Marsel O. abnehmen; wenige Wochen später auch von seiner Freundin und von seiner Mutter, da man einer weiblichen Spur auf den Waffen nachging.

Ein forensisches Gutachten aus dem Wiener Labor bestätigt im Herbst: Auf einem Teil des Sturmgewehrs finden sich genetische Spuren einer weiblichen Person, die zu »99,999« Prozent jene von Marsel O.s Tochter sind.

Bei seinem Prozess vor zwei Wochen im Wiener Schwurgerichtssaal gab O. erstmals den Pistolenverkauf an den Wien-Attentäter zu. Da war das Verfahren gegen ihn längst auf ein Minimum zusammengeschrumpft.

Die Liste an Fehlern und Ungereimtheiten im dem Fall ist lang: O. profitierte von »Irrtum« der Wiener Justiz – mehr, als bislang bekannt war; eine Festnahme oder Hausdurchsuchung blieb ihm erspart, obwohl es auch wegen Drogen- und Waffenhandel Beschuldigungen gegen ihn gab und die Ermittler·innen dies selbst anregten; nicht zuletzt wirft die tatsächliche Herkunft der Waffen weitere Fragen auf.

Die fallführende Staatsanwältin gab sich jedenfalls mit der neunmonatigen Strafe auf Bewährung zufrieden. Sie legte keine Beschwerde ein.

Für das österreichische Justizministerium ist der Fall des mutmaßlichen Waffenhändlers noch nicht vom Tisch – Ministerin Alma Zadić (Grüne) lässt den jüngst eingeräumten »Irrtum« im Vorfeld des Prozesses dienstrechtlich prüfen. Und auch die slowenischen Behörden nehmen sich der Causa mittlerweile an: Aufgrund der von DOSSIER und Oštro übermittelten Fragen zu Marsel O.s Vater kündigt die slowenische Polizei eine interne Untersuchung an.

Die Akte Marsel O. dürfte noch länger nicht geschlossen werden.