Aufmacherbild: FF St. Gotthard
Die Freiwillige Feuerwehr St. Gotthard beherrscht nicht nur Brandbekämpfung und Hochwasserhilfe, sondern auch den literarischen Spannungsaufbau: „Zunächst schien es ein Routineeinsatz zu werden. Bei der Ankunft an der Einsatzstelle wurden wir aber eines Besseren belehrt“, steht zu Beginn des Einsatzprotokolls vom 6. August 2021.
Der Autor verspricht nicht zu viel. Die Geschichte, die folgt, bietet Komik, Tragik und den Zauber des Zufalls. Sie führt vom beschaulichen Pielachtal in Niederösterreich zur größten Supermarktkette Österreichs und quer durch Europa. Dabei geht es vorrangig um etwas Banales, um Schwammerln. Genauer gesagt: um Champignons.
Ein Zufall steht am Anfang der Geschichte. Denn wäre der Lenker eines polnischen Sattelschleppers an jenem Sommertag auf dem Weg ins Pielachtal in Niederösterreich nicht falsch abgebogen, wäre er nicht auf die schmale Höllstraße gelangt und dort auch nicht steckengeblieben. Die Freiwillige Feuerwehr St. Gotthard hätte nicht ausrücken müssen, um den Sattelschlepper in einem siebenstündigen Einsatz aus der misslichen Lage zu befreien.
Die Anhänger hätten bei der Rettungsaktion nicht entladen werden müssen, und niemand hätte gemerkt, was sie geladen hatten. Über die Fracht wollen manche bis heute nicht reden. Im Einsatzprotokoll der Feuerwehr findet sich kein Wort zur Ladung. „Was der Lkw geladen hatte, tut nichts zur Sache“, heißt es dort auf DOSSIER-Nachfrage.
Es waren Champignons, tonnenweise Champignons. Genauer gesagt 54 Zuchtkisten, aus denen die Schwammerln sprossen. Bis zu vier Tonnen Champignons lassen sich mit dieser Ladung ernten. Doch warum werden tonnenweise Champignons im Sattelschlepper in das niederösterreichische Pielachtal transportiert?
Schließlich produziert der nach eigenen Angaben größte Pilzzüchter Österreichs, Pielachtaler Pilze, genau dort. Es sind „Leckerbissen aus der Region“, „100 % aus Österreich“, die sogar in „Kreislaufwirtschaft aus dem Pielachtal“ sprießen. Die Antwort ist einfach: Die Firma hat geschwindelt.
DOSSIER hat die Geschichte rund um die Irrfahrt des polnischen Lkws für die Puls4-Sendung „Bist Du deppert!“ recherchiert – die Fracht des Sattelschleppers stammte aus der Pilzhochburg Wallhausen in Sachsen-Anhalt im Osten Deutschlands.
Das erklärt Helmut Weissenbacher, Geschäftsführer und Miteigentümer von Pielachtaler Pilze, auf DOSSIER-Anfrage. Dass er seine Champignons, die er mit „100 % aus Österreich“ anpreist, in Zuchtkisten aus dem Ausland importiert, gibt er auch offen zu: „Wir haben da eine Nische gefunden“, sagt Weissenbacher. Und wie kam es dazu?
„Die Nachfrage war so groß, dass wir mit der Kapazität nicht durchgekommen sind“, sagt Weissenbacher. „Da hat es die Idee gegeben, dass man auch vorgezüchtete Kisten kaufen kann, um die Champignons weiterzuzüchten und dann zu ernten.“
Die Konsequenz: ein schnellerer Rhythmus, mehr Champignons, mehr Geld für die Pilzfirma. So könne man sich zwei Wochen Zuchtzeit ersparen, erklärt Weissenbacher. Das leuchtet ein, doch warum verkauft er die Pilze dann als österreichische Champignons?
„Es ist alles rechtens“, sagt er, „das ist hundertprozentig in Ordnung.“ Weissenbacher hat recht – zwar werden Käuferinnen und Käufer an der Nase herumgeführt, aber illegal ist die Praxis nicht.
Die Lücke im Gesetz
Dass der Ursprung von Lebensmitteln für Verbraucherinnen und Verbraucher sichtbar sein muss, wird EU-weit in der Lebensmittelinformationsverordnung geregelt. „In allen Fällen sollte die Angabe des Ursprungslands oder des Herkunftsorts so gestaltet sein, dass die Verbraucher nicht getäuscht werden“, heißt es darin. Wie der Ursprung eines Lebensmittels definiert wird, regelt wiederum das Zollgesetz: Bei Tieren liegt der Ursprung dort, wo sie „geboren oder ausgeschlüpft (...) und (...) aufgezogen worden sind“. Bei Pflanzen hingegen ist es das Land, in dem sie „geerntet worden sind“.
Champignons sind selbst in weit gediehenem Stadium leicht zu transportieren. Wie das Gesetz in diesem Fall auszulegen ist, beschäftigte bereits den Europäischen Gerichtshof (EuGH) und der entschied:
..., dass das Ursprungsland von Kulturchampignons ihr Ernteland (...) ist, und zwar unabhängig davon, ob wesentliche Produktionsschritte in anderen Mitgliedstaaten der Union erfolgt sind und ob die Kulturchampignons erst drei oder weniger Tage vor der ersten Ernte ins Erntegebiet verbracht worden sind.
(EuGH-Entscheidung vom 4.September 2019)
Das heißt: Selbst wenn die Pielachtaler Pilze in Zuchtkisten aus Deutschland oder Holland im Sattelschlepper ins Pielachtal transportiert werden – solange sie hier gepflückt werden, sind es vor dem Gesetz: Pilze aus Österreich.
Die Pilzproduzenten bringen noch ein Argument ins Spiel: „Wenn Sie über uns schon berichten möchten, dann sollte die Öffentlichkeit auch wissen, dass alle Champignon-Zuchtbetriebe in Österreich das Pilzsubstrat aus dem Ausland beziehen müssen, weil es keine Hersteller in Österreich dafür gibt“, schreibt der zweite Geschäftsführer Michael Weissenbacher.
Die ganz normale Konsumententäuschung
Eines vorweg: Pielachtaler Pilze importiert nicht nur das Pilzsubstrat, also den Nährboden für die Champignons, sondern Zuchtkisten mit fast ausgewachsenen Pilzen. Dennoch: Hat Weissenbacher einen Punkt? In Hintergrundgesprächen bestätigen andere Pilzbauern das System, das zusammengefasst bedeutet: Champignons, die vollständig aus Österreich stammen, gibt es im Geschäft praktisch nicht. Das liegt am Geld.
Das Substrat, auf dem die Pilze gezogen werden, müsste aufwendig vorbereitet werden. „Das ist vom Profit her nicht interessant, wenn du Ketten beliefern willst“, sagt eine Anbieterin. Deshalb wird importiert, und zwar im großen Stil – zumindest das Substrat oder gleich die erntereifen oder geernteten Pilze: „Was wirklich im Regal ist, kommt aus Polen, Ungarn, der Ukraine“, sagt eine Pilzzüchterin gegenüber DOSSIER.
Laut Statistik Austria betrug der Selbstversorgungsgrad bei Champignons und Pilzen in Österreich zuletzt zwölf Prozent (2019/2020). Jene, die in Zuchtkisten ins Pielachtal gebracht werden, zählen bereits zu diesen zwölf Prozent heimischen Schwammerln.
Das Gesetz erlaubt es, das Geschäft wirft mehr ab – das ist die eine Seite. Doch was ist mit den Kundinnen und Kunden? Was ist mit der Fairness jenen gegenüber, die bewusst regional einkaufen möchten und dafür auch mehr Geld ausgeben?
Die Supermarktkette Spar, immerhin Exklusivabnehmer der Pielachtaler Pilze, deckt die Praxis: „Die gesetzlichen Kennzeichnungsvorschriften sind eindeutig. Daran halten wir uns und auch der Hersteller selbstverständlich“, schreibt Konzernsprecherin Nicole Berkmann.
„Für die, die sich kurze Transportwege wünschen, ist das auch – zumindest was das Endprodukt angeht – gewährleistet“, so Berkmann weiter. Dass die Champignons davor schon durch halb Europa gekarrt wurden, relativiert sie: „CO2-technisch viel schlimmer, das sagen ja viele Untersuchungen, ist, wenn man mit dem Auto zum Supermarkt fährt.“
Dabei sind es gerade Handelsriesen wie Spar, die durch ihre Expansionspolitik mit Filialen am Stadtrand nicht nur den Flächenverbrauch, sondern auch den Straßenverkehr in die Höhe treiben. Aber das ist eine andere Geschichte.