Dieser Satz könnte ein Nachspiel haben. »Sportwetten sind kein Geschicklichkeitsspiel«, sagt Thomas Forstner. »Ich wüsste sonst kein europäisches Land, in dem Sportwetten nicht als Glücksspiel gelten. Angeblich gibt es Leute, die mit Sportwetten Geld verdienen können, weil sie wissen, was sie tun – aber es ist ein Glücksspiel.« Forstners Aussage verblüfft.
Der 56-Jährige arbeitet weder als Glücksspielforscher noch als Suchtberater, sondern lobbyiert für die Industrie. Seit 2022 ist Forstner Generalsekretär der Österreichischen Vereinigung für Wetten und Glücksspiel (OVWG), einer Interessenvertretung von Glücksspiel- und Sportwettenanbietern, die online tätig sind: Unter anderem Bet at Home, Bet 365 und Entain, der Konzern hinter Bwin, gehören dazu.
Dass ausgerechnet Forstner Sportwetten als Glücksspiel einstuft, überrascht – er widerspricht damit dem branchenüblichen Standpunkt und der Rechtsprechung in Österreich.
Seit jeher beharren heimische Wettanbieter darauf, Sportwetten ja nicht mit Glücksspielen gleichzusetzen. Jürgen Irsigler etwa, der nicht nur Geschäftsführer von Admiral Sportwetten ist, sondern auch Präsident des Österreichischen Sportwettenverbands (OSWV), der zweiten, älteren Interessenvertretung der Industrie. Zu den OSWV-Mitgliedern zählen etwa Admiral, Tipp 3 und Tipico.
Man befasse sich »ausschließlich mit dem Thema Sportwetten, niemals mit Glücksspiel«, sagt Irsigler im Gespräch mit DOSSIER – und betont: »Das wird in Österreich differenziert geregelt und betrachtet.« Es sei »einfach falsch« zu sagen, dass es »ein und dasselbe Produkt« sei, so Irsigler. »Beide sind ein Spiel. Es ist ein bisschen so wie mit dem Vergleich von Äpfeln und Birnen. Beide gehören zur Gruppe des Obsts, und trotzdem ist ein Apfel keine Birne. So ist es auch mit Glücksspiel und Sportwetten.«
Zwei Interessenvertreter, die in der zentralen Frage, wie denn ihr Produkt einzuordnen ist, zwei einander widersprechende Antworten geben. Worauf basiert der Erfolg bei Sportwetten nun, Glück oder Geschicklichkeit?
Über die Antwort darauf lässt sich nur in Österreich trefflich streiten. Überall sonst in der Europäischen Union ist man sich längst einig: Sportwetten sind Glücksspiele. Die EU definiert diese als »Gewinnspiele mit einem einen Geldwert darstellenden Einsatz« und schließt »Lotterien« und »Wetten« explizit ein. Daran wiederum orientieren sich die EU-Staaten in ihren jeweiligen nationalen Glücksspielgesetzen.
So heißt es im deutschen Glücksspielstaatsvertrag: »Ein Glücksspiel liegt vor, wenn für den Erwerb einer Gewinnchance ein Entgelt verlangt wird und die Entscheidung über den Gewinn ganz oder überwiegend vom Zufall abhängt. Wetten gegen Entgelt auf den Eintritt oder Ausgang eines zukünftigen Ereignisses sind Glücksspiele.« In Österreich sieht die Sache anders aus.
Seit fast einem Jahrhundert gelten Sportwetten hierzulande als Geschicklichkeitsspiel, wie Schach, Billard oder Bridge – wohlgemerkt: alles Spiele, bei denen man das eigene Geschick durch Training verbessern kann; und alles Spiele, bei denen man im Gegensatz zu Sportwetten selbst am Spiel teilnimmt und dessen Ausgang folglich unmittelbar beeinflussen kann.
»Österreich geht einen Sonderweg, und zwar aus politischen Gründen und nicht aufgrund von Spielerschutzgedanken oder wissenschaftlichen Erkenntnissen«, sagt Thomas Forstner von der OVWG. Auf Nachfrage, warum er denn diese der Industrie widersprechende Position vertritt, betont er: An der österreichischen Definition als Geschicklichkeitsspiel gebe es nichts zu rütteln, aber seiner »persönlichen Meinung« nach sind Sportwetten Glücksspiele.
Der Wildwuchs
Dass Sportwetten in Österreich nicht als Glücksspiel gelten, ist historisch gewachsen. Nach dem Zerfall der Monarchie – in einer Zeit, als das Wettgeschäft noch überschaubar war und sich auf Pferdewetten beschränkte – schnapsten sich Bund und Länder die Kompetenzen in der neu gegründeten Republik aus: Glücksspiel wurde Bundes-, Wetten blieben Ländersache, so wurde es bereits im Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) von 1811 geregelt.
»Ein Präzedenzfall aus dem Jahr 1932 hat festgelegt, dass Wetten nicht dem Glücksspielmonopol des Bundes unterliegen«, sagt der auf Sportwettenrecht spezialisierte Rechtsanwalt Andreas Huber. Mehrmals hat sich der Verfassungsgerichtshof seither auf diesen historischen Fall bezogen und stets zugunsten der Wette als Länderkompetenz entschieden. Die Konsequenz: neun Länder, neun unterschiedliche Wettengesetze – ein Wildwuchs, vom Boden- bis zum Neusiedler See.
Im Gegensatz zum Bund, dem nur zwei Lizenzen für Glücksspiele zur Verfügung stehen – derzeit an die Österreichischen Lotterien und an die Casinos Austria vergeben –, können die Länder unbegrenzt viele Bewilligungen an Wettunternehmen erteilen. Zum Vergleich: In Deutschland besitzen derzeit insgesamt 30 Wettanbieter eine Lizenz. In Österreich lässt sich die genaue Zahl auf Nachfrage nicht ermitteln.
Doch allein der OSWV, dem Admiral-Chef Jürgen Irsigler vorsteht, hat 25 Mitglieder. Die OVWG unter Generalsekretär Thomas Forstner, die übrigens auch Unternehmen ohne österreichische Glücksspiellizenz vertritt, führt elf Mitglieder an. Und laut dem Branchenverzeichnis »Firmen A–Z« der Wirtschaftskammer sind 91 Personen oder Firmen in den Gewerben »Buchmacher, Totalisateure, Wettkommissäre (Wettbüros)« und »Wettterminals« aktiv.
Das skurrile Hunderennen-Urteil
Neben dem historisch gewachsenen föderalen Problem gibt es noch eine zweite Ursache dafür, dass Österreich EU-weit einen Sonderweg geht: Auch der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) hatte wiederholt über die Abgrenzung zwischen Sportwetten und Glücksspielen zu entscheiden – und bescheinigte der Sportwette bisher tatsächlich mehr Geschick als Glück.
In einem Fall aus dem Jahr 2018 argumentiert der VwGH so: Die Entscheidung über das Spielergebnis hänge bei Sportwetten nicht vorwiegend vom Zufall ab, »weil der Wettende seine Kenntnisse betreffend die Umstände bei der sportlichen Veranstaltung einbringt und diese Kenntnisse im Hinblick auf den Ausgang der jeweiligen sportlichen Ereignisse das Zufallselement überwiegen«.
Am Beispiel von Hunderennen führt das Gericht aus, Wettkund·innen hätten die Chance, sich über die Trainingsverfassung und den gesundheitlichen Zustand der einzelnen Tiere zu informieren, oder auch über die »Stärken der Hunde bei der zu erwartenden Wetterlage« am Renntag. Ob dieser Zugang des Gerichts die Realität von durchschnittlichen Wettspieler·innen abbildet, darf bezweifelt werden.
Wenig überraschend sieht Jürgen Irsigler von Admiral die Sache wie das Gericht: Bei Sportwetten habe man die Möglichkeit, »sich über Mannschaften umfassend zu informieren. Da spielen viele Parameter eine Rolle: Welche Spieler sind verletzt oder gesperrt? Gibt es in einem Verein Unruhe, weil die Gehälter nicht ausbezahlt werden konnten? Wie ist die aktuelle Form? Das sind alles Parameter, über die ich mich informieren kann und dann sage: ›Okay, ich habe verschiedene Informationen eingeholt, und aufgrund dieser Informationen treffe ich eine Einschätzung.‹ Das ist ein Prozess der Ratio, der Vernunft«, so Irsigler.
Genau das haben die Glücksspielforscher Jens Kalke von der Universität Hamburg und Tobias Hayer von der Universität Bremen untersucht – und kommen zu einem anderen Ergebnis.

Die unbeachtete Empfehlung
Vor dem Hintergrund einer möglichen Reform des Glücksspielgesetzes, erzählen die beiden Wissenschaftler im Gespräch mit DOSSIER, trat 2019 die Stabsstelle für Spielerschutz des österreichischen Finanzministeriums an sie heran. Der Auftrag: eine Untersuchung des Zufallscharakters und der Risikopotenziale von Sportwetten.
Fast ein Jahr lang arbeiteten Kalke und Hayer an ihrer dreiteiligen Analyse: Sie erstellten einen Überblick über die EU-Rechtslage, fassten Studien zu den gesellschaftlichen und sozialen Risiken von Sportwetten zusammen. Und sie beantworteten die Frage nach Glück oder Geschick mittels Literaturrecherche zu international durchgeführten Tippstudien.
Bei diesen treten einzelne Personengruppen gegeneinander oder gegen den Zufall an und wetten auf das Ergebnis einer Sportveranstaltung. Wichtig: Die Testpersonen bringen weder die gleiche Expertise mit noch sind alle sportaffin. So setzen beispielsweise Fußball-Lai·innen gegen Sportjournalist·innen.
Dadurch soll eruiert werden, wie viel Einfluss sportliches Fachwissen auf das richtige Wettverhalten hat oder ob nicht doch der Glücksfaktor überwiegt. Ergeben sich signifikante Unterschiede, spricht das für eine Klassifikation von Sportwetten als Geschicklichkeitsspiel. Schneiden Lai·innen hingegen ähnlich gut oder gar besser ab, unterstreicht das den Zufallscharakter.
Neun Tippstudien hat Tobias Hayer letztlich in seine Analyse aufgenommen: Sie sind zwischen 1998 und 2013 erschienen und in Disziplinen wie Fußball oder Eishockey und in verschiedenen Ländern, etwa Kanada, Schweden, Deutschland und der Schweiz, durchgeführt worden.
Die Studien lassen alle denselben Schluss zu: dass »Vorkenntnisse keine bedeutsame Rolle« spielen. »Der sportliche Status (Profi bis Lai·in) hat keinen Einfluss auf die Vorhersagegenauigkeit bei Fußballspielen.« – »Lai·innen sind in der Vorhersage der Spielergebnisse besser als Expert·innen.« – »Obwohl Sportwetter·innen den Ausgang von Eishockeypartien besser als der Zufall vorhersagen können, drückt sich dies nicht in Geldgewinnen aus.«
Am Ende ihrer Untersuchung, im August 2020, lieferten Hayer und Kalke ihre Studie beim österreichischen Finanzministerium ab – und empfahlen, »unter evidenzbasierten Gesichtspunkten öffentliche Sportwettangebote mit geldwertem Einsatz und Geldgewinnmöglichkeiten als Glücksspiele zu klassifizieren«.
Doch dann geschah: nichts.
Flaute im Ministerium
Bisher wurden die Ergebnisse weder auf der Website des Finanzministeriums veröffentlicht, geschweige denn die Empfehlungen daraus umgesetzt. Dabei hat das Ministerium 56.000 Euro an Steuergeld für die in Auftrag gegebene Studie ausgegeben.
Studienautor Jens Kalke verwundert das, wie er am Telefon sagt: »Ich bedauere, dass unsere Ergebnisse nicht in die Öffentlichkeit getragen worden sind.« Aber warum nicht? »Diese Frage müssen Sie zu Recht der Politik stellen«, sagt Kalke.
Das Problem: Die politischen Zuständigkeiten haben sich seit 2019, dem Jahr, in dem die Studie unter der ÖVP-FPÖ-Regierung in Auftrag gegeben wurde, geändert. Nach der Ibiza-Affäre bildeten ÖVP und Grüne eine Koalition, statt Hartwig Löger (2017–2019) ist mittlerweile Magnus Brunner Finanzminister (seit 2021, beide ÖVP).
»Sportwetten und auch der Spielerschutz hierzu liegen in Österreich aufgrund der geltenden Gesetzeslage in der Zuständigkeit der Bundesländer«, heißt es auf DOSSIER-Anfrage aus dem Finanzministerium. Und weiter: »Die Regelung von Sportwetten auf Bundesebene ist nicht Teil des derzeit geltenden Regierungsprogramms.«
Aus dem Sportministerium, das derzeit von Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) geführt wird, heißt es: »Sportwetten weisen, egal ob man sie als Glücks- oder Geschicklichkeitsspiel betrachtet, ein beträchtliches Suchtpotenzial auf. Umso mehr, als risikoreiche Varianten wie etwa Livewetten mit ihrem verstärkten Zeitdruck diese Gefährdung weiter befeuern.«