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Wir haben es wieder getan: Werbespots zählen! Wie schon bei der Fußball-WM 2022 in Katar, haben wir auch bei der EM 2024 in Deutschland dann hingesehen, wenn viele wegschauen. Denn was sich in den Werbepausen bei jeder Übertragung abspielt, ist einen genauen Blick wert. Da werben Sportwettenanbieter um die Wette – ungeachtet der Suchtgefahr, die von ihren Produkten ausgeht.
Um Aussagen über die überbordende Sportwettenwerbung treffen zu können, haben wir alle Werbeblöcke unmittelbar vor Anstoß, während der Halbzeitpause und kurz nach Abpfiff auf ORF 1, Servus TV, ARD, ZDF und RTL erhoben und ausgewertet. Das sind jene Sender, die die EM-Spiele in Österreich und Deutschland im Free-TV gezeigt haben. Die Auswahl ermöglicht zudem den Vergleich zwischen den beiden Ländern sowie jenen zwischen Öffentlich-Rechtlichen und Privatsendern.
Rohdaten Werbeblöcke Fußball-EM 2024
Für die Erhebung haben wir ein datenjournalistisches Modell entwickelt, um die werbenden Unternehmen, die beworbenen Produkte sowie die Dauer der einzelnen Werbespots zu erfassen. Dabei haben wir insgesamt 232 Werbeblöcke aufgezeichnet – vom Auftaktspiel am 14. Juni bis zum Finale am 14. Juli 2024. Lediglich fünf Werbeblöcke konnten nicht ausgewertet werden, da sie online nicht verfügbar waren. So sind 2.979 Werbespots zusammengekommen, die wir in eine Excel-Tabelle eingetragen und ausgewertet haben.
Das Ergebnis: Wettanbieter haben während des vierwöchigen Turniers mit Abstand am meisten geworben. Andere Branchen wie etwa der Lebensmittelhandel, die Automobilindustrie oder die Telekommunikation kommen nicht einmal annähernd an die gezeigten Werbeminuten der Wettbranche heran.
Im Einzelbewerb der Wettanbieter hat Admiral die Nase vorn. Über Österreichs Marktführer haben wir im DOSSIER-Magazin »Sportwetten – ein unsportliches Geschäft« viel berichtet. Etwa wie das Unternehmen durch Sportsponsoring sein Image aufpoliert – und damit Fußballvereine wie Sportverbände in finanzielle Abhängigkeit bringt.
Und welcher Sender hat nun die meiste Sportwettenwerbung gezeigt? In absoluten Zahlen liegt Servus TV mit 101 Minuten auf Platz eins, danach folgt der ORF mit 37 Minuten. Weit abgeschlagen liegen RTL mit elf, ARD mit zehn und ZDF mit neun Minuten Sportwettenwerbung auf den hinteren Rängen.
Die absoluten Zahlen können allerdings irreführend sein. Nicht alle Sender haben gleich viele Spiele übertragen. Dazu kommt: Öffentlich-Rechtliche unterliegen strengen Werbebeschränkungen, da sie sich zu einem Großteil aus öffentlichen Mitteln finanzieren.
Deswegen dürfen sie per Gesetz nicht mehr als eine bestimmte Anzahl an Werbeminuten pro Tag zeigen. Für den ORF heißt das im Jahresdurchschnitt nicht mehr als 42 Minuten Werbung pro Tag. In Deutschland sind die Vorgaben etwas strenger: Öffentlich-rechtliche Sender dürfen nur von Montag bis Samstag und bis zu 20 Minuten Werbung pro Tag zeigen. Nach 20 Uhr sowie an Sonn- und Feiertagen ist Werbung gänzlich verboten.
Für unsere Erhebung mussten wir also die gezeigte Sportwettenwerbung pro Sender und anteilig für jedes gezeigte Fußballspiel berechnen, um die Werte besser miteinander vergleichen zu können.
In Österreich zeigt Servus TV, absolut wie prozentual, die meiste Sportwettenwerbung. Doch beachtlicher ist das Ergebnis des ORF: Der Sender schneidet im Vergleich zu ARD und ZDF miserabel ab. Er zeigt gar mehr Sportwettenwerbung als der Privatsender RTL, bei dem ein Werbeblock bis zu acht Minuten lang ist.
Verantwortung? Fehlanzeige!
Öffentlich-rechtliche Sender haben neben der journalistischen auch eine gesellschaftliche Verantwortung gegenüber ihrem Publikum – wie im Leitbild des ORF nachzulesen ist: »Der ORF ist sich seiner gesellschaftlichen und insbesondere sozialen Verantwortung und des in ihn gesetzten Vertrauens der österreichischen Bevölkerung bewusst und leistet einen wertvollen Beitrag zur öffentlichen Meinungsvielfalt«.
In Sachen Sportwetten wird man dieser Verantwortung aber nicht gerecht. Der ORF sollte sich die Frage stellen, ob man diese Sucht durch massenhafte Werbung auch noch befeuern muss. »Um die Aussage, in Österreich werde mehr Sportwettenwerbung gezeigt, als in Deutschland, überprüfen zu können, wäre eine medienwissenschaftliche Auswertung erforderlich. Eine punktuelle Betrachtung kann zu falschen Folgerungen führen«, schreibt ein Sprecher des ORF.
»Generell gilt, dass Werbebudgets nach Mediaplänen berechnet und nach Effizienzkriterien (Reichweite und Preis) vergeben werden. Dass Branchen in verwandten Programmumfeldern Werbung buchen (z.B. Sportwettanbieter im Umfeld von Sportübertragungen) ist üblich«, so der Sprecher weiter.
Tatsächlich verdient der ORF ordentlich Geld mit der Wettbranche. Wie hoch seine Werbeeinnahmen während der EM waren, haben wir anhand der Preisliste berechnet. Der ORF-Tariftabelle zufolge kostet eine Werbesekunde bei EM-Übertragungen zwischen 65 und 740 Euro – je nach Uhrzeit, Platzierung und Spiel.
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Die Sportwettenindustrie im journalistischen Fokus – eine Branche, die in Österreich dank lascher Gesetze ein besonders leichtes Spiel hat.
Legt man die entsprechenden Tarife auf jeden einzelnen Werbespot um, ergibt sich ein Bruttowerbewert von rund 4,7 Millionen Euro. Sportwettenanbieter machen mit rund 826.000 Euro ganze 17,4 Prozent der Gesamteinnahmen aus. Wer verzichtet freiwillig auf so viel Geld? Auf Summen, die zuvor den Fußballfans abgenommen wurden.
In der Hoffnung auf den großen Gewinn setzen manche bei Sportwetten wenige Euro, andere im schlimmsten Fall ihre Existenz aufs Spiel. Meist trifft das Gegenteil ein: teils hohe Verluste, die die Betroffenen und ihre Angehörigen bis zum Privatkonkurs bringen können. Sportwetten sind Glücksspiele, auch wenn die Wettbranche durch einen perfiden Trick und die Republik Österreich über einen gesetzlichen Sonderweg Volk und Land glauben machen will, dass Sportwetten Geschicklichkeitsspiele seien.
Sportwetten = Glücksspiel
Auf diesen Missstand haben auch Österreichs Suchthilfeeinrichtungen während der EM in einem offenen Brief und einer landesweiten Kampagne aufmerksam gemacht. Bei der Aktion »Wirf dein Geld nicht zum Fenster raus!« flatterten Geldscheine mit der Aufschrift »Sportwetten = Glücksspiel« etwa in Graz und Wien zu Boden. DOSSIER war bei der Aktion der Spielsuchthilfe Wien dabei und hat das Geschehen vor Ort in einer Videoreportage zusammengefasst.
Lasche Gesetze, steigende Anzahl von Spielsüchtigen, hemmungslose Sportwettenwerbung: Das alles hängt zusammen. Österreichs Politik wie Medien haben Handlungsbedarf, allen voran bei Werbebeschränkungen für Sportwettenanbieter. Während andere Länder bereits klare Vorgaben bis hin zu Verboten verhängt haben, ist Sportwettenwerbung in Österreich gänzlich unreguliert. Wie bei der Therapie von Spielsucht sollte auch hier der Leitspruch gelten: Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung.