
Wenn in Österreich die Frage aufkommt, wie die Dinge des Lebens in anderen Ländern geregelt sind, richtet sich der Blick nicht selten auf den Nachbarn im Norden. Immerhin eilt den Deutschen der Ruf voraus, gründlich und verlässlich zu sein, wie vor kurzem die erste größere Studie zum österreichischen Deutschlandbild ergab. Wer deshalb nachfragt, wie Sportwetten in Deutschland geregelt sind, erlebt eine Überraschung: Von Gründlichkeit und Verlässlichkeit kann keine Rede sein.
Im Gegenteil: Der erste Eindruck ist chaotisch, denn der deutsche Sportwettenmarkt befindet sich im Umbruch. Das hat mit dem neuen Glücksspielstaatsvertrag zu tun, der am 1. Juli 2021 in Kraft getreten ist. Er zog einen Schlussstrich unter das bis dahin geltende Staatsmonopol. Was die privaten Wettanbieter als Befreiung des Marktes von bürokratischen Fesseln feiern, halten Vertreter·innen der Suchthilfe für die Kapitulation vor gnadenlosem Kommerz.
Der Anfang vom Ende des Sportwettenmonopols zeichnete sich um die Jahrtausendwende ab, als die Zahl der deutschen Internetnutzer·innen steil anstieg. Mit einem Mal waren auch Wettfirmen im Ausland vom heimischen Sofa aus erreichbar. Schon aufgrund der sprachlichen Nähe hatten die österreichischen Anbieter dabei einen Startvorteil. Hinzu kam, dass Firmen wie Betandwin (heute: Bwin), Bet at Home oder Interwetten ohne hohe Abgaben oder Auflagen agieren konnten, weil Sportwetten in der Alpenrepublik nicht als Glücksspiele eingestuft werden.
Später verlegten sie ihren Firmensitz nach Malta oder Gibraltar, weil sie hier noch weniger Regularien einhalten müssen und so höhere Gewinnquoten anbieten können. Die Konkurrenz aus der Europäischen Union wurde zur existenziellen Bedrohung für das Monopol in Deutschland. Es kam zu einem beispiellosen juristischen Drama in fünf Akten.

1. Akt: Die staatliche Oddset-Offensive
Um die Abwanderung ihrer Kundschaft zur privaten Konkurrenz zu stoppen, offerierten die Unternehmen des staatlichen Lotto- und Totoblocks 1999 ein neues Wettangebot. Der Markenname Oddset verweist auf einen wichtigen Vorteil gegenüber dem traditionellen Fußballtoto: Wer mitspielen wollte, konnte mit festen (»set«) Gewinnquoten (»odds«) rechnen. Auch das Repertoire an Wettvarianten war nun deutlich größer als in der Toto-Ära.
Bis dahin gab es lediglich die Auswahlwette, bei der aus 45 angebotenen Spielpaarungen die sechs torreichsten Unentschieden getippt werden mussten, und die Elferwette, bei der man auf Heimsieg (= 1), Unentschieden (= 0) oder Auswärtssieg (= 2) tippen konnte. Bei Oddset konnte man zum ersten Mal auf den Ausgang einzelner Spiele wetten. Um die Neuerungen publikzumachen, starteten die 16 landeseigenen Glücksspielunternehmen eine bundesweite Werbekampagne.
Damit machten sie sich angreifbar für Klagen privater Wettanbieter. Eine Einschränkung ihrer Berufsfreiheit ist nach deutschem Recht nämlich nur dann zulässig, wenn das Staatsmonopol für Sportwetten konsequent am Ziel der Bekämpfung von Suchtgefahren ausgerichtet ist. So lautete denn auch der Leitsatz in einem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom März 2006.
Die Karlsruher Richter kritisierten die »am Ziel expansiver Vermarktung orientierte Werbung« des Monopolisten und stellten den Gesetzgeber vor die Wahl, das Oddset-Marketing zu minimieren oder aber den Markt für Buchmacher·innen aus der Privatwirtschaft zu öffnen.

2. Akt: Taktischer Rückzug des Monopolisten
Weil sie um ihre Steuereinnahmen und die Abgaben für gemeinnützige Zwecke fürchteten, einigten sich die Bundesländer darauf, das staatliche Sportwettenmonopol zu verteidigen. Festgeschrieben wurde dies in einem Glücksspielstaatsvertrag, der Anfang 2008 in Kraft trat. Oddset-Kund·innen mussten fortan eine Kundenkarte samt Personalausweis vorlegen, wenn sie in einer Annahmestelle einen Wettschein abgeben wollten.
Das Marketing wurde heruntergefahren, aber keineswegs ganz eingestellt. Um dem Urteil des Verfassungsgerichts Rechnung zu tragen, hatte man schon bei der Fußball-WM 2006 auf Bandenwerbung verzichtet. Doch die Radiowerbung lief weiter. Kritiker·innen zählten nach, dass allein während der ersten Weltmeisterschaftswoche 128 Oddset-Spots versendet wurden.
Sie werteten diese Werbepraktiken als Verstoß gegen Paragraf 1 des Staatsvertrages, in dem der Suchtprävention oberste Priorität eingeräumt wird. Dieser Kritik schloss sich im September 2010 der Europäische Gerichtshof (EuGH) an. Das Gericht mit Sitz in Luxemburg kritisierte zudem die Inkohärenz der deutschen Monopolpolitik: Bei Sportwetten waren private Anbieter verboten, bei Automatenspielen dagegen erlaubt, obwohl deren Suchtpotenzial als höher eingestuft wurde.
Die Richter·innen sahen in dem Wettmonopol daher eine unrechtmäßige Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Europäischen Union. Geklagt hatten unter anderem die Inhaber·innen einer hessischen Wettannahmestelle der Firma Happybet aus Klagenfurt. Das Kärntner Unternehmen hatte unmittelbar nach seiner Gründung im Jahr 2004 damit begonnen, ein Vertriebsnetz in Kiosken, Internetcafés, Tankstellen, Sonnenstudios und Getränkemärkten aufzubauen.
Die Anfangserfolge in Österreich ermutigten die Geschäftsführung dazu, ihr Franchisesystem auf andere Staaten auszuweiten. Dazu zählten die Türkei, Rumänien, Russland – und eben Deutschland.

3. Akt: Las Vegas im Norden
Die Einigkeit der 16 deutschen Bundesländer in Sachen Glücksspielpolitik wies schon vor dem Urteil des EuGH erste Risse auf. 2006 hatte sich der CDU-Politiker Hans-Jörn Arp im Kieler Landtag über die Diskriminierung ausländischer Anbieter empört. Das brachte ihm Einladungen zu Hintergrundgesprächen mit Vertreter·innen der Glücksspielbranche ein – in Nobelhotels auf Malta und Sylt sowie in der Bwin-Loge in der Münchner Allianz-Arena.
2011 kam es dann zum offenen Bruch: In Schleswig-Holstein verabschiedete die Regierungskoalition aus Christdemokraten und Liberalen ein eigenes »Gesetz zur Neuordnung des Glücksspiels«. Es räumte privaten Wettveranstaltern und Onlinecasinos die Möglichkeit ein, für zunächst fünf Jahre eine reguläre Lizenz zu beantragen. Aus Sicht der politisch Verantwortlichen erwies sich der Alleingang als voller Erfolg: Firmen wie Admiral Sportwetten, ein Tochterunternehmen der Novomatic AG, verlegten ihren Sitz in die norddeutsche Provinz und sorgten dort für höhere Steuereinnahmen.
Und auch die Anbieter selbst waren zufrieden: Sie konnten fortan im Fernsehen für Tipp- und Daddelspiele werben – und das nicht nur in dem dünnbesiedelten Bundesland zwischen Nord- und Ostsee, sondern in ganz Deutschland. Möglich wurde dies, weil am Ende der Werbespots eine rasende Stimme eingespielt wurde, mit dem O-Ton: »Dieses Angebot gilt nur für Personen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthaltsort in Schleswig-Holstein.«
Wer in Bayern oder Berlin auf die Idee kam, die Websites der schleswig-holsteinischen Lizenznehmer aufzurufen, wurde automatisch auf maltesische Portale in deutscher Sprache umgeleitet. Das Drama um die Sportwetten geriet zur Farce.

4. Akt: Experiment mit »Experimentierklausel«
Die übrigen Bundesländer verständigten sich in der Zwischenzeit auf ein Konzessionsmodell, das sie vor weiteren juristischen Angriffen bewahren sollte. Ende 2011 änderten sie den geltenden Glücksspielstaatsvertrag durch eine »Experimentierklausel« ab. Allen Wettanbietern wurde die Möglichkeit eingeräumt, für eine Probezeit von sieben Jahren eine von insgesamt zwanzig Lizenzen zu beantragen.
Kaum waren die Konzessionen erteilt, da brach auch schon eine Klagewelle über die Genehmigungsbehörde herein. Die Firmen, die leer ausgegangen waren, kritisierten das Vergabeverfahren als intransparent – und bekamen vor Gericht recht, zuletzt im Februar 2016 vor dem EuGH. In Luxemburg ging es um den Fall einer Sportsbar-Inhaberin aus Bayern, der vorgeworfen worden war, Sportwetten eines nicht zugelassenen Anbieters aus Österreich zu vermitteln.
Die Niederlagen der Staatsvertreter·innen vor Gericht führten dazu, dass sich ein Graumarkt mit Tausenden von Wettbüros und Dutzenden von Webportalen etablierte, weil die Landesbehörden aus Furcht vor Schadenersatzforderungen untätig blieben. Zur stillschweigenden Duldung dürfte der Umstand beigetragen haben, dass die an sich illegalen Anbieter brav ihre Abgaben bezahlten.
In den Jahresberichten der Aufsichtsbehörden wurde akkurat vermerkt, wie viele Millionen an Sportwettensteuern der »unerlaubte Markt« beigesteuert hatte. Einer der letzten Versuche, ein rechtskonformes Konzessionsmodell auf die Beine zu stellen, wurde im Mai 2020 vom Verwaltungsgericht Darmstadt gestoppt. Geklagt hatte wieder einmal ein Unternehmen aus Österreich – das Vierklee Wettbüro aus Tirol.
Vierklee gehört in seinem Heimatland zu den Pionieren der Sportwettenbranche und wirbt schon seit mehr als 20 Jahren mit seiner Webpräsenz um Kund·innen aus Deutschland. Im Gegensatz zu dem Tiroler Betrieb hatten es Bwin und Tipico geschafft, jeweils eine der begehrten Lizenzen zu erlangen. Deshalb überzeugten die beiden Branchenriesen ihren kleineren Konkurrenten davon, die Klage gegen das Vergabeverfahren zurückzuziehen. Wie viel Geld Vierklee bei diesem Deal kassiert hat, ist nicht bekannt.