Die Dosis macht das Gift

Zu viele Energydrinks sind ungesund. In gravierenden Fällen kann der Konsum tödlich enden. Studien und Angehörige von Todesopfern – darunter viele Minderjährige – zeigen die Gefahren auf.

Text: Sahel Zarinfard; Illustration: Amy McGrath

Red Bull12.2.2021 

In diesem Artikel finden Sie Links zu Original-Dokumenten aus der Recherche.

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Jim Shepherd wird diesen Moment nie vergessen. Er steht im Foyer einer Paintballhalle und montiert eine Gedenktafel: »In Erinnerung an ­Brian Shepherd, der das Spiel liebte«, ist darauf eingraviert. Hier, unweit der kanadischen Metropole Toronto, ist sein 15-jähriger Sohn während einer Meisterschaft kollabiert und wenig später gestorben.

Brians Tod ist ihm ein Rätsel: »Das Einzige, was die Autopsie ergeben hat, war Koffein in seinem Körper. Das ergibt überhaupt keinen Sinn für mich«, sagt er zu einem Betreiber der Spielhalle. »Ich dachte, du weißt es bereits?«, antwortet dieser. Shepherd ist irritiert, als er erfährt, dass an jenem 6. Jänner 2008, an dem sein Sohn verstarb, Vertreter von Red Bull vor Ort waren. Sie hatten Gratiskostproben an die Jugendlichen verteilt. 

Auch Brian bekommt eine Dose in die Hand gedrückt, die er um die Mittagszeit trinken wird. Er will unbedingt gewinnen, kämpfte sich mit seinem Team ins Finale vor, aber sie werden nur Zweite. Enttäuscht und erschöpft steht Brian am Spielfeldrand und wartet auf die Siegerehrung. Plötzlich bricht er zusammen, liegt auf dem Boden, atmet nicht mehr. Herzstillstand.

Im Rettungswagen gelingt die Reanimation, doch sein Herz schlägt unregelmäßig. Gegen Mitternacht gibt sein Herz auf. »Brian war nicht herzkrank. Es gibt keine ­familiäre Veranlagung, die auf eine Herzrhythmusstörung schließen lässt. Für mich bleibt sein Tod bis heute ungeklärt. Aber ich habe die starke Vermutung, dass die Dose Red Bull zu seinem Tod beigetragen hat, wenn sie nicht die ganze Ursache war«, sagt Jim Shepherd zu DOSSIER.

In der Pharmakologie gilt Koffein als Droge. Als solche kann sie überdosiert werden und fatale Schäden anrichten. In einer Dose Red Bull ist mit 80 Milligramm in etwa so viel Koffein enthalten wie in einer starken Tasse Filterkaffee. Doch so ähnlich der Koffeingehalt ist, so anders ist das Konsumverhalten: Kaffee wird meistens heiß und dadurch langsamer getrunken. Red Bull hingegen trinkt man gekühlt und rasch, nicht selten in Kombination mit Alkohol oder beim Sport.

Hobby- und Profisportler erhoffen sich davon eine Leistungssteigerung, weshalb Koffein ab einem gewissen Grenzwert von 1984 bis 2003 auf der Verbotsliste der Welt-Anti-Doping-Agentur stand. Die vergleichsweise geringe Auswirkung auf die Leistung führte schließlich zur Streichung von der Liste.

Laut der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit ist eine Koffeinzufuhr bis drei Milligramm pro ­Kilogramm Körpergewicht am Tag unbedenklich. Bei Kindern und Jugendlichen geht die Behörde von denselben Richtwerten aus. Wissenschaftliche Studien über den höchstzulässigen Koffeingehalt für Minderjährige gibt es jedoch nicht. Aus ethischen Gründen werden keine Versuche an dieser Altersgruppe durchgeführt.

Ein gesunder, 50 Kilogramm schwerer Jugendlicher sollte also höchstens 150 Milligramm Koffein zu sich nehmen – eine Grenze, die bereits mit der zweiten Dose Red Bull überschritten wird.

Kinder sind dennoch keine kleinen Erwachsenen. Und Brian ­Shepherd kein Ein­zelfall, wie DOSSIER-­Recherchen zeigen. Weltweit sind rund 100 Todesfälle dokumentiert, die im Zusammenhang mit dem Konsum von Energydrinks, wohlgemerkt nicht nur Red Bull, stehen. Die drei häufigsten Szenarien: Überdosierung, eine Kombi­nation mit Alkohol und Konsum während des Sports.

Auch ohne tödlichen Ausgang kann es mehreren Institutionen zufolge, darunter die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie und die Klinik für Pädiatrie der medizinischen Universität Miami, zu Nebenwirkungen kommen: Nervosität, Schlaflosigkeit, Übelkeit, Kopfschmerzen, Schweißausbrüche, Wahrnehmungsstörungen, Bluthochdruck oder Herzrasen.

In Österreich werden keine laufenden Statistiken über Vorfälle in Verbindung mit Energydrinks geführt, wie die Vergiftungsinformationszentrale auf DOSSIER-Anfrage schreibt, aber: Eine Abfrage in der Datenbank habe ergeben, »dass seit 2016 bis Ende Oktober 2020 rund 70 fallbezogene Anfragen zu Energydrinks eingegangen sind. In der Mehrzahl der Anfragen waren Kinder und Jugendliche bis 14 Jahre betroffen«.

Starker Bulle, schwaches Herz

»Ich wusste nichts über Energydrinks, ich wusste nicht einmal, was das überhaupt ist«, sagt Jim Shepherd. Der 61-jährige Kanadier bezeichnet sich selbst als Aktivisten gegen eine milliardenschwere Industrie, nachdem er lernen musste, welche Gefahren von Energydrinks ausgehen können.

Nach dem Gespräch mit dem Betreiber der Paintballhalle fährt Shepherd nach Hause und sucht im Internet nach Schlagwörtern: »Energydrinks«, »Energydrinks und Tod«, »Nebenwirkungen Red Bull«, »Todesfälle Red Bull«. Es tauchen Zeitungsartikel, medizinische Erkenntnisse, wissenschaftliche Studien und dutzende Namen von Opfern auf, deren Todesursache in Zusammenhang mit Energy­drinks gebracht wird. 

Eine Meldung trifft ihn besonders, sie erinnert ihn an die Todesumstände seines Sohnes: »Tot nach Red Bull. 18-jähriger Sportler Ross Rooney bricht mitten im Spiel zusammen und stirbt.« Der Fall des jungen Basketballspielers aus Irland, der im Jahr 2000 plötzlich kollabierte und wenig später starb, sorgte schon damals für viel Auf­sehen. Die Ärzte versuchten den Teenager eineinhalb Stunden lang wiederzubeleben. Vergeblich. Sein Trainer gab gegenüber dem Gerichtsmediziner an, Rooney vor dem Spiel eine Dose Red Bull trinken gesehen zu haben. Jahre später passiert in den USA fast das Gleiche.

2011 kollabiert der 33-jährige Cory Terry mitten auf dem Basketballfeld und stirbt an einem plötzlichen Herzstillstand. Etwa 45 Minuten zuvor hatte er eine Dose Red Bull getrunken. Seine Großmutter brachte Klage ein, der Streitwert soll bei kolportierten 85 Millionen Dollar gelegen sein. Red Bull erreicht vor Gericht aller Wahrscheinlichkeit nach einen Vergleich – über die genauen Umstände dürfen Terrys Angehörige nicht sprechen. Sie waren für DOSSIER nicht zu erreichen.

Das Recht zu sprechen will sich Jim Shepherd nicht nehmen lassen, weshalb er auch nicht vor Gericht geht. Als Brian die Dose Red Bull bekam, waren Energydrinks in Kanada als Nahrungsergänzungs­mittel kategorisiert – Kostproben sind in diesem Fall verboten. »Anwälte haben mir gesagt, dass meine Chancen gut stehen würden, aber ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als sei ich nur am Geld interessiert.«

Wenige Monate vor Terrys Tod veröffentlicht die Amerikanische Akademie für Kinderheil­kunde einen Bericht, in dem sie auf die Gefahren von Energy­drinks vor oder während des Sports aufmerksam macht – dabei betont sie die durch das Marketing befeuerte Verwechslungsgefahr mit isotonischen Sportgetränken. Doch zielte Red Bull mit seinem Sportsponsoring und den Werbebotschaften nicht genau darauf ab?

Auf den Dosen war jahrelang zu lesen: »steigert die Leistungs­fähigkeit« oder »verbessert die Konzentration und Reaktionsfähigkeit«. Inzwischen sieht man sich selbst nicht mehr wirklich als Sportgetränk: »Red Bull ist ein funktionales Getränk und kein Sportgetränk zur Rehydrierung«, heißt es in internen Unterlagen, die DOSSIER vorliegen

Ob Todesfälle wie jene von Brian Shepherd, Ross Rooney oder Cory Terry in direktem Zusammenhang mit dem Konsum von Energydrinks stehen, lässt sich aus medizinischer Sicht nicht sagen. Post mortem kann die Ursache für einen Herzstillstand meist nicht zweifelsfrei festgestellt werden, wie der Kinder- und Jugendkardiologe Martin Hulpke-Wette sagt.

In seiner Praxis behandelt er Minderjährige, die bereits in jungen Jahren Herzkrankheiten durch übermäßigen Energydrink­konsum entwickelt haben: »Meine Patientinnen und Patienten haben eine deutliche Wandverdickung der linken Herzkammer. Wenn ich sie nach ihren Ernährungsgewohnheiten frage, erwähnen viele Energydrinks«, sagt Hulpke-­Wette. Zu viel Koffein lässt das Herz schneller schlagen. Wird die Herzwand dabei zu dick, kann die Muskulatur nicht mehr geschmeidig anspannen und loslassen: »Eine Verdickung des Herzmuskels ist sehr häufig mit Bluthochdruck verknüpft und kann mit Herzrhythmusstörungen einhergehen«, ­sagt Hulpke-Wette. 

Jim Shepherd hat mittlerweile seine Recherchen zum Thema Energydrinks systematisiert, wie er erzählt. Die Informationen archiviert er in Ordnern: Studien, Berichte über Betroffene und Todesopfer, Wahrnehmungen über gesundheitliche Nebenwirkungen. Darunter medizinische Aufzeichnungen, die eine Korrelation zwischen dem Konsum von Energydrinks und Herzrhythmusstörungen nahelegen.

Etwa in einer 2011 veröffentlichten Studie in der Fachzeitschrift Journal of Medical Case ­Reports. Darin wird über zwei Jugendliche im ­Alter von 14 und 16 Jahren berichtet, die vor der medizinischen Versorgung keine Herzerkrankungen hatten, jedoch einige Dosen an Red Bull intus. Bei beiden wurde im Elektrokardiogramm Vorhofflimmern festgestellt – häufige Ursache für einen plötzlichen Herzstillstand. Kinderärzten sollte bewusst sein, dass der Koffein­gehalt sowie andere Inhaltsstoffe von Energydrinks mangelhaft reguliert sind, um Eltern über Gesundheitsrisiken und mögliche Herzrhythmusstörungen bei übermäßigem Konsum aufklären zu können, schlussfolgern die Autoren.

EKG-Aufzeichnungen eines 14-Jährigen nach dem Konsum von Red Bull mit Anzeichen auf Vorhofflimmern. Nach ärztlicher Versorgung normalisiert sich sein Herzrhythmus

Quelle: Di Rocco et al.: »Atrial fibrillation in healthy adolescents after highly caffeinated beverage consumption: two case reports«. »Journal of Medical Case Reports«, 2011

Werbung für Kinder

Diese Gefahr wird vielfach falsch eingeschätzt, wie eine Umfrage des deutschen Bundesinstituts für Risikobewertung aus dem Jahr 2013 zeigt. Das Wissen der befragten Jugendlichen über Energydrinks sei im Allgemeinen gering oder unzureichend. Insbesondere die möglichen Risiken des Konsums in Kombination mit Alkohol und während des Sports haben sie als zu gering eingestuft. Kein Wunder, Werbung wirkt eben.

Das Marketing von Red Bull hat neben jungen Menschen vor allem die Clubszene und Sportveranstaltungen im Visier. Als Organisator oder Großsponsor mischt Red Bull vielerorts mit, wo Kinder und Jugendliche zu finden sind: im Spielzeugladen, in der Gamer-Szene, in Diskotheken, am Sportplatz oder vor und in Schulen.

»15- bis 19-jährige Konsumenten sind die nächste Generation und für uns eine sehr wichtige Verbrauchergruppe. Die Erfahrung hat gezeigt, dass wir ein nachhaltiges Wachstum sicherstellen, wenn es uns gelingt, sie für Red Bull zu gewinnen, indem wir als Marke für ihren Lebensstil relevant sind«, hieß es in internen Marketingunterlagen

Geht es vor Gericht oder andere Behörden, beteuert Red Bull, dass das Marketing des Unternehmens nicht auf Kinder, also unter Zwölfjährige, ausgerichtet sei. Als 2013 US-Abgeordnete die Gefahren von Energydrinks aufgreifen und öffentliche Anhörungen im Kongress abhalten, verpasst sich die US-Tochter Red Bull Nordamerika »Marketing Guidelines«. Die Zielgruppe nun: 18- bis 34-Jährige.

Trotzdem finden sich bis heute im Red-Bull-Onlineshop unter der Kategorie »Youth« zahlreiche Produkte für alle Altersgruppen: Federpenale, ferngesteuerte Autos oder Mini-Modelle der Formel-1-Boliden. Ein Mitarbeiter des Salzburger Unternehmens, der nicht namentlich genannt werden will, sagt: »Es gibt in der Firmenzentrale in Fuschl am See ein eigenes Department für Spielzeuge. Die Zielgruppe sind ganz klar Kleinkinder. Die Social-Media-Aktivität auf der Plattform Tiktok schlägt in dieselbe Kerbe. Wer treibt sich dort sonst herum außer Kinder und Jugendliche?«, sagt er.

Wie diese auf Marketing von Red Bull reagieren, ist wissenschaftlich dokumentiert. Einer 2017 im Fachjournal Public Health ­Nutrition veröffentlichten Studie zufolge glauben 72 Prozent der befragten Zwölf- bis Vierzehnjährigen, dass sich die Werbung von Red Bull an sie richtet. Das australische Forschungsinstitut Telethon Kids bringt es auf den Punkt: »Werbung für Energydrinks verspricht mehr Energie, Leistung und Konzentration. Daher glauben Kinder fälschlicherweise, dass mehr besser ist, und konsumieren mehrere Portionen hintereinander.«

Milliarden an Dosen, aber »nur« hunderte Tote

Im Juni 2010 präsentiert Jim Shepherd die Erkenntnisse aus seiner Recherche über Energydrinks dem Gesundheitsausschuss des kanadischen Parlaments: »Ich habe erfahren, dass der Tod meines Sohnes einer von immer mehr Todesfällen ist, für die niemand eine endgültige Todesursache finden kann. Mein Hauptziel ist, die Jugend zu schützen. Wie? Durch ein Verbot des Verkaufs an Minderjährige und durch Werbeverbote«, sagt er in seiner Rede.

Vor dem Ausschuss sitzt auch Andreas Kadi, der damalige »Chief Science Officer« von Red Bull. Mit den Worten »Minimierung wissenschaftlicher Hindernisse für Marketing und Innovation« ­beschreibt er seine Funktion innerhalb des Konzerns auf der Onlineplattform LinkedIn. Weltweit seien Gesundheitsbehörden zu dem Schluss gekommen, »dass Red Bull ein sicheres Lebensmittel ist. Seit 1987 wurden insgesamt 21 Milliarden Dosen konsumiert. In Kanada begrenzt der Warnhinweis auf der Dose den empfohlenen Verbrauch auf zwei Dosen pro Tag. Das Etikett warnt auch davor, Red Bull mit Alkohol zu mischen«, sagt Kadi.

Nach der Sitzung bestellt das kanadische Gesund­heitsministerium ein Expertengremium, um die Sicherheit von Energydrinks zu eruieren. Der daraufhin 2012 vorgelegte Aktionsplan des Ministeriums fällt zahnloser aus als von den Expertinnen und Experten vorgeschlagen. Diese hatten 18 konkrete Maßnahmen empfohlen, darunter auch ein Verbot des Verkaufs an unter 18-Jährige.

Dazu kam es nicht, Jim Shepherd vermutet dahinter den Einfluss der Energydrinklobby: »Das Argument, dass weltweit Milliarden von Dosen verkauft werden und es im Vergleich nur ein paar Hundert ­Todesfälle gibt, klingt unschlagbar. Ich vermute, dass der Großteil gar nicht erst gemeldet wird.«

Auch der Kinder- und Jugendkardiologe Martin Hulpke-Wette plädiert für eine Beschränkung des Verkaufs an Minderjährige. Diese sollte der Gesetzgeber im Jugendschutzgesetz verankern: »Es geht nicht um Verbote, sondern ausdrücklich um den  Schutz von Minderjährigen. Ich habe ein Problem damit, wenn Zehnjährige Zugang zu Energydrinks haben und sich dessen nicht bewusst sind, was sie da eigentlich gerade tun.«