Verhungert im Heim

Ein Mann zieht in ein Pflegeheim von Senecura – drei Monate später ist er abgemagert, wundgelegen und stirbt. ­Wurde er vernachlässigt? Seine Familie kämpft um Aufklärung.

Text: Julia Herrnböck; Illustration: Ūla Šveikauskaitė

Pflegeheime12.7.2024, aktualisiert: 12.7.2024

Wenn die drei Söhne von ihrem Vater erzählen, schwingt Wärme in ihren Stimmen mit. Wie er sich im Rollstuhl sitzend durch die Wiese schob, um Thomas, dem jüngsten, bei der Gartenarbeit Gesellschaft zu leisten. Als Mensch mit einem starken Charakter beschreiben sie ihn. Nicht immer einfach, aber wer ist das schon? Quicklebendig sei er jedenfalls gewesen, bekräftigen alle drei in Gesprächen mit DOSSIER. Bis zum Jahr 2021.

Mit 88 Jahren wird er am Herzen operiert, am Tag der Operation hackt er noch selbst Brennholz. Ein Routineeingriff, doch es gibt Komplikationen. Er muss in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt werden und erholt sich davon nicht mehr richtig. Fortan ist ihr Vater von Unruhe getrieben. Schläft untertags, wandert nachts durchs Haus, überwindet Barrieren, die zu seinem Schutz aufgebaut worden sind.

Er kommt für fünf Wochen in die Übergangspflege im Senecura-Heim Hard »Haus in der Wirke« in Vorarlberg und dann mit Unterstützung einer 24-Stunden-Pflege wieder nach Hause. Bald wird klar: Der Vater ist dement, die Betreuung ist daheim nicht mehr möglich. Am 20. April 2022 zieht der Vater endgültig ins Heim. 

Danach geht es rapide bergab: Rund drei Monate später wiegt er nur noch knapp 46 Kilogramm, rund 15 Kilo weniger als beim Einzug in das Pflegeheim, zeigen Arztbriefe. Kurz darauf stirbt er. Dazwischen: erfolglose Appelle der Söhne an den Pflegeheimbetreiber ­Senecura und die Behörden des Landes.

»Unser Vater ist verhungert«, klagen sie heute an – ein schwerer Vorwurf, der sich nicht leicht überprüfen lässt: Senecura verweigerte den Angehörigen die Herausgabe der sogenannten Pflege­dokumentation. Diese umfasst alle relevanten Informationen zur Pflege und zum Gesundheitszustand von Patient·innen und Heimbewohner·innen, im Streitfall dient sie als Beweismittel.

Erst der Patientenanwalt von Vorarlberg kann die Herausgabe der Unterlagen von ­Senecura erwirken. Das hohe Alter des Vaters ist laut Fachleuten, denen ­DOSSIER die Unterlagen vorgelegt hat, keine Erklärung für den massiven Gewichtsverlust. 

Die Heimaufsicht des Landes Vorarlberg lässt schließlich ein Gutachten zu dem Fall anfertigen, das die Familie L. jedoch nicht bekommen soll – aus ­Datenschutzgründen. Das Dokument liegt DOSSIER inzwischen vor, und es wirft schwerwiegende Fragen auf: Wurde die Pflege eines Menschen wegen Personalmangels so sehr vernachlässigt, dass er schließlich starb? ­Ignorierte man bei ­Senecura die Angehörigen, die mehrmals auf den Gewichtsverlust ihres Vaters hingewiesen hatten? Und welche Rolle spielte die Aufsicht des Landes Vorarlberg?

Der Fall erinnert an einen Pflegeskandal in einem Senecura-Heim im Salzburger Stadtteil Lehen: 2022 wurde der Fall öffentlich bekannt und sorgte für Empörung im ganzen Land. Auch in Salzburg wurden ­Hilferufe von Angehörigen und Mitarbeiter·innen monatelang ­ignoriert – bis die Volksanwaltschaft das Heim unangekündigt aufsuchte und acht Bewohner·innen wundgelegen und unterversorgt vorfand. Die Heimaufsicht des Landes hatte das Heim in Salzburg mehrfach kontrolliert und die Pflege bis zuletzt als »angemessen« beurteilt. ­Genau wie in Vorarlberg. 

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