30. März 2023. Im Großen Schwurgerichtssaal des Landesgerichts St. Pölten wird gegen vier Pflegekräfte des privaten Pflegeheimbetreibers Senecura der Prozess geführt. Über Monate sollen die Pfleger·innen hilfsbedürftige Bewohner·innen des Heims in der niederösterreichischen Gemeinde Sitzenberg-Reidling geschlagen, betäubt und gequält haben.
Die Richterin schildert die Gräueltaten im Detail: Einer alten Frau mit Halswirbelbruch wurde der Kopf in der Halskrause hin- und hergedreht. Einem Bewohner wurde Parfum in Mund und Augen gesprüht. Ein anderer wurde im Winter nackt und nass bei offenem Fenster aufs Bett gelegt. Eine Bewohnerin wies »beachtliche Verletzungen im Afterbereich« auf, die von einem eingeführten Duschschlauch stammen sollen.
Der Heimbetreiber Senecura zeigte die vier Mitarbeiter·innen an. Jene zwei Mitarbeiterinnen, die diese Vorfälle gemeldet und den Fall somit erst ins Rollen gebracht haben, wurden gekündigt. Das sollten DOSSIER-Recherchen später zeigen.
Auf der Zuschauer·innenbank im Gerichtssaal sitzen an diesem Tag auch der Leiter der Senecura-Rechtsabteilung, Clemens Thalhammer, und Paul Trummer. Trummer ist PR-Berater bei Gaisberg Consulting, einer Agentur, die auf Krisen- und Litigation-PR spezialisiert ist. Nur wenige Minuten nach der Urteilsverkündung – drei Schuldsprüche und ein Freispruch – trudelt eine E-Mail von Trummer ein: Senecura begrüße das juristische Ergebnis, die qualitätsvolle Pflege sei wiederhergestellt. »Betonen möchten wir, dass die Senecura-Gruppe selbst nicht angeklagt war«, schreibt eine Sprecherin. Das Unternehmen kämpft um sein Image. Aus gutem Grund.
Zuletzt häuften sich Berichte über Missstände in Senecura-Pflegeheimen. Zwar wird viel für das Wohl der Bewohner·innen getan. So gibt es etwa musikalische Veranstaltungen, Candlelight-Dinner oder die Aktion »Herzenswunsch«, in deren Rahmen den meist hochbetagten Bewohner·innen letzte Ausflüge ermöglicht werden.
Gleichzeitig wurden öffentlich immer wieder bedenkliche Vorfälle bekannt, die von Untätigkeit bei Krätzmilbenbefall bis hin zu lebensbedrohlichen Zuständen reichen. Eine Erklärung dafür scheint rasch gefunden: die belastenden Rahmenbedingungen in der Pflege. Damit ist Senecura nicht allein, sie treffen alle – und auch bei anderen Trägern werden immer wieder Missstände öffentlich.
»Allerdings nicht in dieser Dichte«, sagt Volksanwalt Bernhard Achitz zu DOSSIER. Von 2021 bis 2023 wurden zehn Vorfälle in Senecura-Häusern bekannt. Da drängt sich eine Frage auf: Besteht ein Zusammenhang zwischen den Missständen und der Gewinnorientierung des Konzerns?
In Österreich ist die Senecura-Gruppe Marktführerin im Bereich der profitorientierten Pflegeheime. »Näher am Menschen« lautet ihr Leitspruch. Mit Stand September 2023 betreibt sie insgesamt 89 Pflegeheime und Gesundheitseinrichtungen mit rund 7.300 Betten in allen Bundesländern. Seit 2015 gehört Senecura zum französischen Aktienkonzern Orpea, der 2022 selbst internationale Schlagzeilen machte: Bewohner·innen von Luxusheimen waren halb verhungert, während Orpea Milliardenumsätze schrieb.
Seit dem Verkauf an Orpea fällt auch Senecura in Österreich negativ auf. Verdacht auf Misshandlungen, mangelhafte Pflege und Versorgung, Übergriffe und Vernachlässigung – die Liste der bekanntgewordenen Fälle in Senecura-Heimen ist lang. Wird aus Profitdenken auf Kosten hilfsbedürftiger Menschen bei der Pflege gespart? Werden Missstände bewusst in Kauf genommen?
DOSSIER hat mit ehemaligen Führungskräften und Mitarbeiter·innen gesprochen, um herauszufinden, wie es zu derartigen Vorfällen kommen konnte. Sie schildern die grundlegenden Probleme in der Altenpflege – Arbeitsdruck und überbordende Dokumentationspflicht –, aber auch, dass sich die Arbeitsbedingungen seit der Übernahme durch Orpea verschlechtert hätten.
Auf die Häuser werde Druck ausgeübt, die Auslastung hoch zu halten, auch wenn nicht ausreichend Personal da sei. Wer Missstände zur Sprache bringe, müsse mit Konsequenzen rechnen. Keine·r der Gesprächspartner·innen traute sich, die Kritik offen vorzutragen. Alle haben Angst vor Klagen und teilen ihre Erfahrungen nur unter Zusicherung des Quellenschutzes mit DOSSIER.
Drei Themen ziehen sich durch alle Schilderungen unserer Gesprächspartner·innen: Spardruck, Überlastung und Einschüchterung – den Methoden, die Senecura zur Einschüchterung nutzt, widmen wir eine eigene Geschichte.
Gefährliche Gemengelage
»Ab 2015 ist es steil bergab gegangen«, erzählt A. Er war Führungskraft bei Senecura. Lange haderte er mit sich, ob er über seinen ehemaligen Arbeitgeber auspacken soll. Doch dann schrieb A. via Whatsapp: »Gerne unterstütze ich Berichte über Pflege. Ich sollte Menschen, die in ein Pflegeheim gehen, eine Stimme geben.«
A. war viele Jahre im Unternehmen beschäftigt und hat die Übernahme von Senecura durch Orpea miterlebt. Seine Wahrnehmungen decken sich mit den Aussagen anderer Gesprächspartner·innen: Mit dem Verkauf an Orpea sei der Druck gestiegen, überall zu sparen. Früher habe ihm die Arbeit Freude bereitet, sagt er. Jetzt gehe es nur mehr um den Profit. »Seit dem Verkauf ist für uns Führungskräfte nicht mehr der Mensch wichtig, alles dreht sich nur mehr um Kennzahlen.« Deswegen ist er gegangen.
Aber wie kann man in einem Bereich Gewinne abschöpfen, in dem es seit Jahren an Geld fehlt? A. erklärt es so: »Ausschlaggebend sind Personal und Auslastung, da gibt es Spielraum.« In Salzburg ist etwa im Gesetz kein fixer Personalschlüssel vorgeschrieben. Der Betreiber kann also selbst entscheiden, wie viele Pflegekräfte für die qualitätsvolle Pflege notwendig sind.
Das Land habe die privaten Einrichtungen besonders streng geprüft, mündlich wurde von der Heimaufsicht ein Personalschlüssel von 1 zu 3 empfohlen: eine Pflegekraft auf drei Heimbewohner·innen. Das hielt Senecura zunächst auch ein. Doch mit dem Einstieg von Orpea wurde im Unternehmen eine neue Berechnung festgelegt – zugunsten von Senecura und zulasten von Pflegekräften und Heimbewohner·innen.
»Der Personalschlüssel ging wieder nach oben, das bringt natürlich Geld. Dieser Schlüssel bewog Mitarbeiter·innen in der Pflege zu kündigen«, erzählt A. Die Vorgaben für die einzelnen Pflegeheime seien von der Zentrale aus Wien gekommen, »aber die werden wiederum von Orpea gesteuert«, so A. weiter. »Es geht um Gewinnoptimierung, nur darum.«
Belastung auf allen Ebenen
R., ein ehemaliger Heimleiter von Senecura, schreibt in einer Mail an DOSSIER, dass die Unternehmensführung trotz Personalnot eine möglichst hohe Auslastung in den Häusern verlangt habe. Vor Corona habe man die Personalausfälle noch innerhalb der Heime kompensieren können, schreibt er. Doch mit den Krankenständen während der Pandemie sei das Personal durch das »Springen« zunehmend belastet gewesen. »Damit begann die Krux«, so R.
»Wenn Häuser defizitär wurden, hieß es, Bewohner·innen aufzunehmen, damit die Kosten gedeckt werden.« Neben dem Personalschlüssel ist die Höhe der Pflegestufe die zweite große Schraube, an der Pflegeheimbetreiber drehen können. Denn: »Je höher die Pflegestufe, desto höher der Tarif, den der Träger verlangen darf.« Das habe das ohnehin schon unterbesetzte Personal noch mehr überfordert.
Für die Bewohner·innen mit höherer Pflegestufe sei das »definitiv nicht der Zweck eines Heimaufenthalts«, führt R. aus. Um trotz Personalmangels bei externen Heimkontrollen durchzukommen, habe Senecura die Dokumentation hochgeschraubt. Alles wurde penibel eingetragen, um im Fall von Beanstandungen darauf verweisen zu können, wie genau man gearbeitet hat.
Doch Papier ist geduldig, und die Dokumentation bedeutete noch mehr Arbeit für das Pflegepersonal. »Und für die eh schon zu wenigen Pflegekräfte schrumpfte die Zeit für die Patient·innen weiter«, führt der ehemalige Heimleiter aus. »Ein Teufelskreis.«
Mit der Höhe der Pflegestufe steigen zwar die Einnahmen für den Betreiber, aber auch die Personalkosten. Hier optimiere Senecura massiv, erzählt auch U., eine ehemalige Pflegedienstleiterin aus der Steiermark. »Wenn eine ›7er-Stufe‹ gestorben ist, ging der Pflegeschlüssel nach unten. Dann hast du schauen müssen, dass du bei einem anderen Bewohner das Pflegegeld hinaufgestuft bekommst«, sagt sie.
Andernfalls habe sie Mitarbeiter·innen bitten müssen, Stunden zu reduzieren. Auf Führungskräfte sei so großer Druck ausgeübt worden, Vollauslastung zu erzielen. »Wenn jemand in der Früh verstorben ist, hättest du am besten am Nachmittag schon wieder wen Neuen reinlegen sollen.« War das nicht der Fall, habe man sich »vor den Obrigkeiten« erklären müssen. Nach der Übernahme durch Orpea sei für Zwischenmenschliches keine Zeit mehr gewesen, sagt U., die inzwischen für einen gemeinnützigen Träger arbeitet.
»Wenn das Pflegepersonal zu wenig ist, aber gleichzeitig die zentrale Verwaltung in Wien zunimmt, muss irgendwo eingespart werden«, schreibt R. »Sei es bei der Verpflegung, Küche, Reinigungsmaterial und so weiter.« Aus mehreren Heimen wurde DOSSIER berichtet, dass beim Essen gespart werde: Tiefkühlkost und Fertigprodukte, abends Wurstbrot statt einer warmen Mahlzeit. Bei Kosten von bis zu 6.400 Euro im Monat für ein Einzelzimmer in einem Senecura-Heim kann man das beanstanden.
Billiges Essen ist das eine, gefährlich wird es, wenn für die Pflege ausreichend qualifiziertes Personal fehlt.
Unterernährt und wundgelegen
Dass bei Senecura die Grenze der Belastbarkeit gefährlich überschritten wurde, verdeutlichen die bekanntgewordenen Fälle Kirchberg am Wechsel, Sitzenberg-Reidling und Salzburg-Lehen, aber auch Grafenwörth und Radstadt. Die Schilderungen gleichen sich: zu wenige Pflegekräfte, kaum Gehör seitens der Unternehmensführung, keine Entlastung für das bestehende Personal.
In diesen Häusern waren phasenweise nicht nur die Pflegekräfte komplett überlastet – schlimmer ist, dass Bewohner·innen der Situation hilflos ausgeliefert waren. Dabei ist nicht die Rede von unzureichender Körperpflege oder ungeschnittenen Zehennägeln, wie es ein Senecura-Manager in einem Hintergrundgespräch mit DOSSIER beschreibt. Das Problem war weitreichender.
Essen wurde nicht verteilt, wichtige Medikamente nicht verabreicht, Menschen lagen sich wund oder in ihren Exkrementen, sie waren dehydriert, abgemagert oder von Parasiten befallen.
Senecura räumte nach Bekanntwerden der Vorfälle in Stellungnahmen ein, dass es zeitweise zu wenige Pflegekräfte gab. Gerne wird vonseiten des Konzerns auch betont, dass auf Beschwerden des Personals stets rasch reagiert wurde. Doch im Fall Kirchberg am Wechsel konnte sich Senecura erst zu einem Aufnahmestopp durchringen, als im Gutachten bereits von einem »enthumanisierten Desaster« die Rede war.
Die Sache war erst dadurch ins Rollen gekommen, dass mehrere Mitarbeiter·innen des Heims die Überlastung beim Land Niederösterreich gemeldet hatten und deshalb eine Gutachterin beauftragt wurde. Von zumindest einer Mitarbeiterin trennte sich das Unternehmen.
Das ist kein Einzelfall, sondern hat System. Im Sitzenberg-Reidling in Niederösterreich, wo die Bewohner·innen eines ganzen Stockwerks vollgepumpt mit Beruhigungs- und Schlafmitteln vor sich hindämmerten, wo Pfleglinge gequält und geschlagen wurden, waren es zwei Mitarbeiterinnen, die es der Leitung gemeldet hatten – und gekündigt wurden.
Ähnliches lässt sich über das Heim in Gratkorn in der Steiermark berichten: Hier erhielten die Pflegekräfte, die Anzeige bei der Polizei erstattet hatten, Anwaltsbriefe. Auch in Salzburg-Lehen hat das Personal über lange Zeit um Hilfe gerufen, bis Bewohner·innen in lebensbedrohlichem Zustand von der Volksanwaltschaft vorgefunden wurden. Es waren die Pflegekräfte, die sich dafür vor der Staatsanwaltschaft erklären mussten.
Keine Alarmglocken in der Zentrale
Werden Missstände öffentlich, hat es Senecura eilig, sich von Mitarbeiter·innen zu distanzieren und zu betonen, das Unternehmen habe Anzeige erstattet. Auch die Pandemie wird ins Treffen geführt, um die Überlastung des Personals bei Senecura zu erklären. Das Bild der Pandemie als »Brandbeschleuniger« für bestehende Probleme in der Pflege wurde häufig bemüht – es trifft auf die gesamte Branche zu. Für profitorientierte Betreiber dürfte Covid im Zusammenspiel mit der
Konzernlogik und den Erwartungen der Aktionär·innen besonders herausfordernd gewesen sein, wenn es darum ging, die Mindeststandards in der Pflege aufrechtzuerhalten. Doch ehemalige Mitarbeiter·innen berichten, dass Hilfeschreie aus den Heimen auch vor der Pandemie in der Zentrale von Senecura ignoriert worden sein sollen.
»Ich hatte nicht den Eindruck, dass der Notstand in Pflegeheimen ernst genommen wurde«, berichtet S. Er war ab 2018 in der Verwaltung von Senecura beschäftigt. »Es schrillten keine Alarmglocken in der Zentrale«, sagt er heute. Schon damals hätten Kolleg·innen aus der Pflege drastisch geschildert, wie sehr sie unter Personalmangel leiden.
Wurde der gesetzlich vorgeschriebene Personalschlüssel unterschritten, sei das aber »kein Drama« in der Zentrale gewesen. »Erst wenn das Problem rechtswirksam wurde, etwa weil eine Prüfung anstand, ging es schneller«, erzählt S. Dann sei über Personalleasingfirmen versucht worden, die Löcher zu stopfen.
Im Nachhinein bezeichnet S. das Vorgehen der Unternehmensführung von Senecura als »leichtfertig«. Die Firmenstruktur sei so aufgebaut, dass die meisten Heime eigenständige GmbHs seien. Die Verantwortung tragen die Regional- und Hausleitungen. Das Pflegepersonal sei – im Gegensatz zur Zentrale – »absichtlich an der unteren Grenze« gehalten worden, trotz dringender Bitten, dass man nicht mehr weiterwisse. »Es war befremdlich«, sagt S., der das Unternehmen verlassen hat.
Und was sagen die Verantwortlichen aus der Senecura-Zentrale in Wien zu alldem?