»Die Reputation schien Senecura wichtiger als der Schutz der Bewohner·innen« – zu diesem Befund kommt Johanna P. (Name geändert), wenn sie sich an das Jahr 2020 erinnert. Damals lebte ihre Mutter in einem Senecura-Pflegeheim in der Kärntner Gemeinde Wolfsberg.
Als die Pandemie richtig losging, registrierten Johanna P. und ihre Schwester, dass sich einige Besucher·innen und Pflegekräfte nicht an die gesetzlichen Hygienevorschriften hielten: »Masken baumelten unterm Kinn oder wurden erst gar nicht getragen. Auch Abstände in Gemeinschaftsräumen sind nicht eingehalten worden«, erinnert sich Johanna P.
Mehrmals baten die Geschwister die Heim- und Pflegedienstleitung, das Pflegepersonal besser zu informieren. Ohne Erfolg. Als sich die Corona-Lage im Herbst 2020 in ganz Österreich zuspitzte und die Schutzmaßnahmen in Altenheimen verschärft wurden, sahen die Schwestern weiterhin Pflegekräfte ohne Masken unmittelbar neben den betagten Bewohner·innen. »Auch neben unserer Mutter.«
Zum Beweis fotografiert Johanna P.s Schwester eine dieser Situationen. Sie macht die Personen unkenntlich und schickt das Bild an die Heimleitung. Damit verbunden die dringende Bitte, Personal und Besucher·innen »aktiv zu sensibilisieren«. Eine Antwort kommt vom damaligen Senecura-Ombudsmann Günther Kräuter, dem ehemaligen Volksanwalt der SPÖ. 2019 wechselte er zu Senecura.
Er schreibt den Schwestern, dass das Fotografieren ohne Einwilligung der Einrichtung strafbar sei. Senecura behalte sich rechtliche Schritte vor. Auf das eigentliche Thema – dass Schutzmaßnahmen missachtet wurden – geht Kräuter nicht ein.
Stattdessen fordert er eine »dringende persönliche Aussprache«. Und weiter: »Mit diesem Schritt wird das Recht der Einrichtung vorbehalten, bei fortgesetzter unzumutbarer Störung des Pflegebetriebs Konsequenzen (stark eingeschränktes Besuchsrecht, Hausverbot) einzuleiten.«
Rechtliche Schritte vorbehalten
Hausverbot statt Virenschutz also. Die Schwestern wenden sich an Bettina Irrasch, Pflegeanwältin des Landes Kärnten. Sie soll an dem Gespräch teilnehmen. »Die Androhung des Besuchsverbots ist ungewöhnlich und massiv«, sagt Irrasch heute, denn »eine Vertrauensbasis in der Pflege ist besonders wichtig, es gibt ein Recht auf Beschwerde.«
Einen Tag vor dem Gesprächstermin informiert die Heimleitung die Angehörigen, dass elf Bewohner·innen positiv auf Covid-19 getestet wurden. Neun Mitarbeitende seien bereits in Quarantäne, Besuche nicht mehr möglich. Auch P.s Mutter ist infiziert, was die Familie erst Tage später erfährt. Einige Wochen später kommt die Mutter entkräftet ins Spital, wo sie am 28. Dezember 2020 im Alter von 78 Jahren verstirbt.
Auf Anfrage heißt es von Senecura, dass »in der damals schwierigen Situation zwischen Befürwortern und Gegnern der Corona-Schutzmaßnahmen der Ombudsmann eingeschaltet wurde, um eine für alle Seiten zufriedenstellende Regelung zu erarbeiten«. Weil Günther Kräuter 2021 verstorben ist, könne man nicht mehr dazu sagen.
Wie DOSSIER zunächst anhand von Todesanzeigen rekonstruierte und wie später vom Land Kärnten bestätigt wurde, verstarben 21 Bewohner·innen zwischen November 2020 und Februar 2021 in dem Wolfsberger Heim. Dieses bietet insgesamt 83 Menschen Platz. Zum Vergleich: Senecuras Muttergesellschaft Orpea gibt an, dass in einem Pflegeheim mit 90 Betten im ersten Pandemiejahr im Konzernschnitt 2,5 Bewohner·innen pro Monat verstarben.
Das Pflegeheim in Wolfsberg war ein Ausreißer nach oben: Hier verstarben rund um den Jahreswechsel 2020/2021 im Durchschnitt 5,25 Menschen pro Monat.