Rosa erinnert sich. Schon beim Öffnen der Zimmertür ist ihr Verwesungsgeruch entgegengeschlagen. »Es hat nach Fäulnis gestunken. Die Frau ist dort drin verfault.« Die Frau, das war Frau K., 79 Jahre alt, Pflegestufe 5. Die ehemalige Pflegekraft Rosa hat geweint, als sie Frau K. zum ersten Mal gesehen hat. »So etwas habe ich in meiner Karriere noch nie erlebt«, sagt sie heute zu DOSSIER. Rosa arbeitet inzwischen anderswo und bittet um Quellenschutz.
Frau K. war eine von acht Bewohner·innen, die am 21. April 2022 bei einer unangekündigten Kontrolle durch die Volksanwaltschaft im Senecura-Sozialzentrum Salzburg-Lehen unterernährt, wundgelegen und verwahrlost vorgefunden wurden. Ein Foto, das Rosa DOSSIER vorlegt, zeigt eine tiefe Wunde am unteren Rücken von Frau K. Ein Loch so groß wie eine Faust. Dekubitus Grad 4 nennt man das. Frau K.s Steißknochen ist zu sehen.
Rosa erzählt, dass die Pensionistin bei vollem Bewusstsein war – Schmerzmittel erhielt sie dennoch nicht, wie die Volksanwaltschaft später feststellte. Unvorstellbar, welche Qualen die Frau hatte erleiden müssen. »Und keiner wurde zur Verantwortung gezogen«, sagt Rosa heute, »jeder putzt sich ab.«

Der Fall Senecura Salzburg-Lehen zählt zu den größten Pflegeskandalen der jüngeren österreichischen Geschichte. Nachdem Medien im September 2022 erstmals über die Missstände berichtet hatten, wurde der öffentliche Druck so groß, dass zwar der Soziallandesrat und stellvertretende Landeshauptmann von Salzburg, Heinrich Schellhorn (Grüne), widerwillig zurücktrat.
Auch die Staatsanwaltschaft begann zu ermitteln. Doch das Verfahren gegen die Pflegekräfte des Heims wurde im Februar 2023 eingestellt. Juristisch wurde in dem Fall niemand belangt. Und bis heute übernimmt niemand die Verantwortung für die Missstände.
Bei Senecura versucht man sich auf Anfrage mit dem Hinweis auf den Personalmangel während der Corona-Pandemie aus der Affäre zu ziehen. Tatsächlich seien Fehler passiert, räumt ein Senecura-Manager in einem Hintergrundgespräch im Juni 2023 gegenüber DOSSIER ein, »aber das Ganze wurde medial aufgeblasen«.
Dass neben Frau K. sieben weitere Bewohner·innen mit Dekubitus vorgefunden wurden, dass Medikamente und Essen nicht rechtzeitig verabreicht wurden, habe eine interne Kommission von Senecura nicht bestätigen können. Es seien Pflegemängel entdeckt worden, »aber das sind Themen wie ›nicht oft genug geduscht oder die Zehennägel nicht geschnitten‹«.
Das verblüfft – und dann auch wieder nicht. Denn der Fall steht exemplarisch für vieles, das in Österreichs stationärer Altenpflege schiefläuft: für das Versagen der Heimkontrollen, für lückenhafte Gesetze, für ungehörte Warn- und Hilferufe des Pflegepersonals, für das Leiden von Bewohner·innen hinter verschlossenen Türen.
Und der Fall Lehen steht schließlich auch für den Verdacht, dass ein gewinnorientierter Pflegeheimbetreiber Missstände in Kauf nimmt und Kontrollorgane wegschauen.
»Alle haben es gewusst«
Schon vor der Kontrolle durch die Volksanwaltschaft galt das Senecura-Heim in Lehen als Problemhaus. Innerhalb von zehn Jahren wechselte die Führung im Haus sechsmal – ein Warnsignal für Pflegeexpert·innen, weil durch die hohe Fluktuation Unruhe in die Abläufe kommt.
A., eine ehemalige Führungskraft von Senecura, erzählt, wie sich die Katastrophe angebahnt hat. »Die Heimleitung war überfordert und hat bei jedem Meeting geweint«, erinnert sich A. Die Berichte über die Zustände in dem Heim in Salzburg hätten ihn nicht überrascht. »Es war vorhersehbar. Wir kannten ja die Personalzahlen«, sagt A. Alle hätten es gewusst, »aber getan wurde nichts«.
Mit »alle« meint A. die Unternehmensführung von Senecura, aber auch die zuständigen Behörden und die Politik. Diesen Eindruck bestätigen auch alle anderen Gesprächspartner·innen im Zuge dieser Recherche: hochrangige Vertreter·innen der Stadt Salzburg, Pflegesachverständige und weitere Ex-Mitarbeiter·innen von Senecura.
2020 wies der Rechnungshof deutlich auf die Systemprobleme im Bundesland Salzburg hin: Schon damals bemängelten die Prüfer·innen, dass es im Salzburger Gesetz keine detaillierten Pflegestandards und keine konkreten Vorgaben für den Personalschlüssel gebe. Ein neues Gesetz gibt es bis heute nicht. Trotz Zusage der Politik.
Laut Missstandsfeststellung der Volksanwaltschaft hatten die Pflegekräfte des Heims mehrfach und auf vielen Wegen um Hilfe gerufen und davor gewarnt, dass die Pflege nicht mehr gewährleistet werden könne. Das bestätigte auch die Bewohner·innenvertretung: Personal sei bei Besuchen nicht auffindbar gewesen, Türen von innen alarmgesichert und Stiegenhäuser dunkel.
Bewohner·innen seien außerdem schlecht gepflegt gewesen und hätten elektronische Armbänder bekommen, die den Fahrstuhl blockieren, damit sie das Stockwerk nicht verlassen können.
Chronologie eines Versagens

4.5.2021
Die Bewohner·innenvertretung meldet die Leistungsmängel in der Pflege an das Land Salzburg. Die Heimaufsicht des Landes besucht daraufhin das Senecura-Heim im Stadtteil Lehen, nachdem auch dort Beschwerden eingelangt sind. Das Ergebnis: Laut Salzburger Landesregierung werden die Mindeststandards nach dem Salzburger Pflegegesetz zu diesem Zeitpunkt erfüllt.
22.12.2021
Nachdem mehrere Beschwerden über die prekäre Personalsituation beim Land eingegangen sind, folgt ein weiterer Besuch der Heimaufsicht, diesmal unangekündigt. Dabei wird festgestellt: Ein Bewohner leidet an erheblichen Schmerzen wegen eines Dauerkatheters. Trotz gestockten Bluts im Harn sei kein·e Ärzt·in hinzugezogen worden, heißt es im Akt. Bei einem anderen Patienten wurden keine Maßnahmen gegen den starken Gewichtsverlust gesetzt. Doch die Heimaufsicht erkannte lediglich »formlose Defizite«, hält die Volksanwaltschaft später fest. »Die Salzburger Landesregierung unterließ es – wie auch bei nachfolgenden Kontrollbesuchen –, Mängel förmlich festzustellen und einen verbindlichen Auftrag zur Behebung bzw. Verbesserung zu erteilen.«
13.1.2022
Aufgrund von weiteren Beschwerden erfolgt ein erneuter Kontrollbesuch der Heimaufsicht. Mehreren Bewohner·innen waren verschriebene Medikamente nicht rechtzeitig verabreicht worden, einige hatten um 11 Uhr noch immer kein Frühstück erhalten.
21.2.2022
In der Pflegedokumentation von Frau K. wird vermerkt, dass sie am Steiß gerötet ist und eine Salbe braucht. Die Situation in dem Heim verschärft sich durch Kündigungen und Krankenstände weiter. Pflegekräfte und Angehörige wenden sich anonym an die Bewohner·innenvertretung: Die meiste Zeit seien nur zwei Pflegepersonen im Tagdienst. Es sei zu wenig Personal eingestellt. Überwiegend gehe es sich nicht aus, Bewohner·innen zu duschen oder zu baden, es finde stattdessen nur oberflächliches Säubern statt. Dabei würden die Bewohner·innen wie am Fließband behandelt. Einige hätten Druckgeschwüre entwickelt, meistens am Steiß, weil sie zu lange in nassen Inkontinenzeinlagen liegen mussten. Eine adäquate Wundversorgung sei nicht sichergestellt. Dienstübergaben fänden ebenfalls nicht statt.
10.3.2022
Die Bewohner·innenvertretung wird aktiv und meldet Missstände im Senecura-Sozialzentrum Salzburg-Lehen an die Salzburger Landesregierung. Der Bericht geht an die zuständige Abteilung 3 des Landes, an die Heimaufsicht und an die Volksanwaltschaft. Die Antwort des Leiters der Salzburger Heimaufsicht folgt prompt: Seiner Behörde sei nichts Entsprechendes bekannt. Sollte die Bewohner·innenvertretung Kenntnis über strafrechtlich relevante Taten haben, solle sie selbst Strafanzeige stellen. Erich Wahl, Bereichsleiter der Bewohner·innenvertretung in Salzburg und Tirol, betont, die Senecura-Einrichtungen seien in der Zusammenarbeit mit der Bewohner·innenvertretung kooperativ. »Was hier versagt hat, ist die Heimaufsicht.«

5.4.2022
Nach einer weiteren Beschwerde über erhebliche Missstände besucht die Heimaufsicht das Senecura-Heim in Salzburg-Lehen erneut. Auch dieses Mal stellt die Aufsichtsbehörde keinen Personalmangel fest. Zu dieser Zeit wenden sich verzweifelte Pflegekräfte des Heims bereits an die Volksanwaltschaft und warnen vor einem Versorgungsproblem.
12.4.2022
Ein geplanter Besuch von Frau K. in der dermatologischen Ambulanz findet wegen ihres schlechten Allgemeinzustands nicht statt.
20.4.2022
Der Hausarzt untersucht Frau K. Auf Nachfrage von DOSSIER erklärt er, sie habe »keine Schmerzen geäußert« und deswegen kein Schmerzmittel erhalten. Und weiter: »Sie wurde behandelt, wie sie behandelt werden sollte.«
21.4.2022
Die Kommission 2 der Volksanwaltschaft besucht das Heim und stuft die Situation von Frau K. als »lebensbedrohlich« ein. Sie wird umgehend ins Spital gebracht. Die personellen Ressourcen seien nicht ausreichend vorhanden, urteilt die Volksanwaltschaft und legt der Salzburger Landesregierung »unverzüglichen Handlungsbedarf« nahe. Weiters beurteilt die Kommission das Ernährungs-, Schmerz-, Dekubitus- und Wundmanagement der Einrichtung in weiten Teilen als mangelhaft.
24.4.2022
Frau K. wird erneut ins Krankenhaus gebracht, aber anschließend ins Heim zurückgeschickt.
25.4.2022
Die Volksanwaltschaft übermittelt einen Dringlichkeitsbericht wegen des »Verdachts auf schwere Körperverletzung und gefährliche Pflege« an Landeshauptmann Wilfried Haslauer (ÖVP) und Soziallandesrat Schellhorn. Neben Frau K. seien sieben weitere Bewohner·innen mit Dekubitus vorgefunden worden. Andere seien dehydriert und unterernährt gewesen. Laut einem Schreiben der Landesregierung erfährt die Heimaufsicht des Landes »auf diesem Wege erstmals über die darin erhobenen Vorwürfe«.
27.4.2022
Volksanwalt Bernhard Achitz empfiehlt dem stellvertretenden Landeshauptmann Schellhorn telefonisch dringend, Strafanzeige zu erstatten.
29.4.2022
Der Landesamtsdirektor übermittelt die Sachverhaltsdarstellung an die Staatsanwaltschaft Salzburg. »Vorauszuschicken ist, dass die Bediensteten zu den im Dringlichkeitsbericht getätigten Darstellungen keine eigene Wahrnehmung haben«, steht zu Beginn.
3.–4.5.2022
Die Heimaufsicht besucht das Heim zu einer »Vollüberprüfung«. In einer Zusammenfassung des ersten Tages wird positiv auf die »ruhige Atmosphäre beim Einnehmen der Mahlzeiten« und die »durch Mitarbeiterinnen organisierte Feier des Maibaumaufstellens« verwiesen.
23.5.2022
Das Land Salzburg schreibt an Senecura, dass die Mindeststandards betreffend Reinigung bei dem Besuch Anfang Mai nicht erfüllt waren, und schickt dutzende Empfehlungen. Darüber hinaus seien keine Mängel oder Unterschreitungen der Mindeststandards von der Behörde festgestellt worden, meldet die Salzburger Landesregierung an die Volksanwaltschaft. Spätestens ab diesem Zeitpunkt entbrennt ein medial ausgetragener Streit zwischen der Salzburger Landesregierung und der Volksanwaltschaft: Welche Aufgaben hat die Heimaufsicht? Wie sind die Mindeststandards im Salzburger Pflegegesetz in der Praxis auszulegen? Wer muss einschreiten, wenn gefährliche Pflege droht?
30.5.2022
Senecura informiert die Heimaufsicht bei einem weiteren Kontrollbesuch darüber, dass es »mehr Kündigungen als Neueinstellungen« in dem Heim gibt. Doch weder Senecura noch das Land Salzburg verhängen offiziell einen Bewohner·innen-Aufnahmestopp. Die Situation im Heim spitzt sich zu. Weiterhin gehen Beschwerden bei der Volksanwaltschaft und beim Land Salzburg ein.
23.6.2022
Vermutlich sind es Mitarbeiter·innen des Heims, die sich anonym an die Volksanwaltschaft wenden. Bei jedem Dienst würden Pflegekräfte fehlen, alle noch verbliebenen seien ausgebrannt, heißt es in dem Schreiben. Das Personal fühle sich im Stich gelassen – und ersucht die Volksanwaltschaft eindringlich um Unterstützung.
29.6.2022
Erstmals kommt die Heimaufsicht bei einem Kontrollbesuch zu dem Ergebnis, dass »ein sehr hohes Risiko besteht« und eine ausreichende Pflege in dem Heim nicht gewährleistet ist. Bei diesem Kontrollbesuch werden elf Vollzeitpflegekräfte weniger gemeldet als noch vier Wochen zuvor. In einem Stockwerk arbeiten nur noch eine Praktikantin und zwei Assistenzkräfte. Dennoch will die Aufsichtsbehörde »keine Unterschreitung der Mindeststandards« erkennen, die Leistung sei »in ausreichendem Umfang gegeben«.
11.7.2022
Erst jetzt beschließen Senecura und die Salzburger Landesregierung einen Aufnahmestopp und vereinbaren eine Reduktion auf 60 Betten. Mehr als ein Jahr nach der ersten Meldung durch die Bewohner·innenvertretung und drei Monate nach dem Bericht der Volksanwaltschaft. Die Volksanwaltschaft besucht das Heim im Sommer erneut. Ein großer Teil des Personals stammt zu diesem Zeitpunkt aus anderen Häusern von Senecura.
5.9.2022
Die Mitglieder der Volksanwaltschaft beschließen einstimmig, dass die Rechtsauffassung der Salzburger Landesregierung und die daraus resultierende Unterlassung Missstände darstellen. Die Volksanwaltschaft nimmt auch Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) in die Pflicht: Er soll einheitliche Standards für Heimkontrollen und die Pflegequalität durchsetzen.
8.9.2022
Die Salzburger Nachrichten und Ö1 berichten über die Kontrolle durch die Volksanwaltschaft und die Missstände im Senecura-Heim in Salzburg-Lehen.
Zwei Wochen später tritt der zuständige -Soziallandesrat Schellhorn zurück, und die Staats-anwaltschaft nimmt im Fall von Frau K. -Ermittlungen gegen 16 Mitarbeiter·innen
des Heims auf.
Im Februar 2023 wird das Verfahren eingestellt – wie so oft bei Verdacht auf Straftaten in Alten- und Pflegeheimen. Die Einstellung ist im Sinne der Volksanwaltschaft, die den Fall ins Rollen gebracht hat: »Die, die am Bett stehen, können am wenigsten dafür. Die Verantwortlichen hätten früher einschreiten müssen«, sagt Volksanwalt Achitz zu DOSSIER.
Das Pflegepersonal habe nachweislich auf die prekäre Personalsituation hingewiesen, Ressourcen seien dennoch nicht zur Verfügung gestellt worden.
Die Anzahl der Bewohner·innen im Senecura-Heim in Lehen wurde nach dem Skandal schrittweise reduziert, von 90 auf mittlerweile 30 Personen. Nach langem Hin und Her übernahm die Stadt Salzburg den Standort am 1. März 2024.
Dass das Heim trotz wiederholter Berichte über Überlastung und mögliche Vernachlässigung nicht geschlossen wurde, liegt auch daran, dass es an Plätzen mangelt, um pflegebedürftige Bewohner·innen anderswo unterzubringen: Allein in der Stadt Salzburg warten derzeit fast 400 Menschen auf einen Heimplatz.
Eine Herausforderung, die auch bei Missständen in anderen Bundesländern besteht und ein Grund dafür ist, dass problematische Pflegeheime kaum geschlossen werden, wie viele Gesprächspartner·innen resümieren.
Frau K. wog nur noch 42,5 Kilogramm, als sie am 21. April 2022 von der Volksanwaltschaft entdeckt wurde. Sie starb eine Woche später. »Vermutlich an den Folgen einer Covid-Erkrankung«, heißt es in einem Bericht des Landeskriminalamts Salzburg. Angeklagt wurde niemand.