Im Schatten der Männer

Der ORF schreibt sich die Gleichstellung der Geschlechter groß auf die Fahnen. Der Alltag sieht für Frauen mitunter anders aus: von Benachteiligung bei der Postenvergabe bis hin zu sexueller Belästigung.

Text: Georg Eckelsberger, Julia Herrnböck

ORF27.3.2023 

Der Gerichtstermin steht bei einigen ORF-Managern wohl mit Rotstift im Kalender: Es ist keine angenehme Angelegenheit, die derzeit vor dem Arbeits- und Sozialgericht im neunten Wiener Gemeindebezirk verhandelt wird. Eine langjährige und hochrangige Mitarbeiterin klagt den ORF wegen Diskriminierung. Der Vorwurf wiegt schwer: Es geht um jahrelange sexuelle Belästigung, Mobbing und den fragwürdigen Umgang des ORF mit dem Fall. Nicht zuletzt geht es um den Vorwurf, der Verursacher werde geschützt, die betroffene Frau eingeschüchtert und ­benachteiligt. Die Zeugenliste ist lang und prominent besetzt: ORF-Spitzenmanager bis hin zu General­direktor Roland Weißmann sind geladen. Denn bei der Verhandlung steht nicht ein einzelner Diskriminierungsfall auf dem Prüfstand – es geht um die Frage, wie der ORF in der Praxis mit einem Thema umgeht, das ihm vorgeblich wichtig ist: die Gleichstellung von Frauen. 

Roland Weißmann widmete der Gleichstellung stolze sieben Seiten seiner Bewerbung für die ORF-Generaldirektion. Auf dem Papier hat Gleichstellung im ORF einen hohen Stellenwert. Doch nicht nur der aktuelle Fall vor dem Arbeits- und Sozialgericht wirft die Frage auf, was das im beruflichen Alltag wert ist. »Wir sind Trainingsweltmeister, aber was fehlt, sind Sanktionen, wenn man sich nicht an die Pläne hält«, sagt Christiana Jankovics, Zentralbetriebsrätin, Stiftungsrätin und Vorsitzende der internen Gleichstellungskommission. Bei unserer Recherche berichteten mehrere ORF-Frauen, dass sie es trotz aller Vorkehrungen bei der Jobvergabe schwerer hätten als ihre männlichen Kollegen. Dass Sexismus weit verbreitet sei, ob im Übertragungswagen oder in der Redaktion. Sogar körperliche sexuelle Belästigung haben viele Mitarbeiterinnen erlebt. 

Das zeigt auch eine Umfrage, die der Zentralbetriebsrat alle zehn Jahre unter Mitarbeiterinnen durchführt, zuletzt 2019: 32 Prozent der Befragten erlebten demnach sexuelle Belästigung (mündlich oder schriftlich), 29 Prozent ­herablassende oder entwürdigende Bemerkungen von Vorgesetzten oder Kollegen. 14 Prozent berichteten von körperlicher Belästigung im Arbeitsumfeld. Ein Satz in dem Bericht ist besonders alarmierend: »Die Werte entsprechen – wo vergleichbar erhoben wurde – jenen von 2009.« Damals hatten die offengelegten ­Missstände zu einem Aufschrei geführt: »Frauenfalle ORF« titelte das Magazin News im Juli 2009. Und schon damals hatte ZiB-Chronik-­Chefin ­Brigitte Handlos kritisiert, dass sich »in zehn Jahren so gut wie nichts verändert« habe. Das scheint sich zu wiederholen.

Große Töchter, wenige Frauen

Der ORF ist bei der Gleichstellung zugleich vorbildlich und hat Aufholbedarf. Klare Regeln und Strukturen – etwa eine Geschlechterquote von 45 Prozent als Ziel, eine Gleichbehandlungskommission und umfassende Berichte – ­stehen hartnäckigen Defiziten in der Umsetzung gegenüber. ­Welche Kräfte im Hintergrund wirken, zeigt sich dort, wo  die Quote nicht gilt – in den ORF-Tochter­firmen. In den Geschäftsführungen der wichtigsten Tochterfirmen wie der Gebühren Info Service GmbH (GIS) oder der ORF-Enterprise sind kaum Frauen vertreten – 13 Männer und nur zwei Frauen stehen im Firmenbuch. 

Auch im Haupthaus fällt der Befund gemischt aus: Laut Gleichstellungsplan 2022/2023 konnte der Einkommensunterschied zwischen den Geschlechtern zuletzt verkleinert werden, auch der Frauenanteil steigt. Doch je höher die Funktion, desto weniger Frauen sind vertreten. Im gesamten ORF-Universum liegt der Frauenanteil bei fast 45 Prozent, in manchen Chefetagen jedoch weit darunter, so etwa in der Technikdirektion mit knapp elf Prozent oder in der Landesdirektion Oberösterreich mit 12,5 Prozent. 

Quer durch den ORF führen im mittleren Management 35 Prozent Frauen, in höheren Positionen sind es nur mehr 26 Prozent. »Im internationalen Vergleich befindet sich der ORF damit im letzten Drittel«, ordnet es Zen­tralbetriebsrätin Jankovics ein. Wie ist das möglich, wenn doch eine Quote festgelegt ist und bei gleicher Qualifikation Frauen bevorzugt werden müssen? »Um Führungskraft zu werden, brauchen Frauen Führungserfahrung. Die können sie aber nicht erwerben, wenn Stellen monatelang mit Männern interimistisch besetzt werden und Frauen signifikant weniger Projekte leiten«, erklärt ­Jankovics. »Da drehen wir uns im Kreis: Als Frau werde ich keine Führungskraft, weil ich keine Führungserfahrung habe. Und ich habe keine Führungserfahrung, weil ich keine Führungskraft bin.«

»Sehr starke Benachteiligung« bei Gehalt

Aufholbedarf gibt es auch beim Thema Geld und Karriere. Aktuell beträgt der Gender-Pay-Gap im ORF – also der Einkommensunterschied zwischen den Geschlechtern – im Schnitt rund zwölf Prozent. An der Spitze bei ungleicher Bezahlung liegt das Landesstudio Nieder­österreich mit 20,9 Prozent, dicht gefolgt von ­Oberösterreich (20,4 Prozent) und der Technischen ­Direktion (19,8 Prozent). 

Besteht ein Zusammenhang zwischen politischer Personalpolitik und dem Gender-Pay-Gap? Aus der Erfahrung der Gleichbehandlungsanwaltschaft schon. »Überall dort, wo es politische Einflussnahme gibt, überall dort, wo herumgeschoben wird, sehen wir auch ein Genderproblem«, resümiert Leiterin Sandra Konstatzky. In politischen Netzwerken sind Frauen weniger vertreten, meint sie. »In einer wichtigen Kaderschmiede wie zum Beispiel dem Österreichischen Cartellverband sind Frauen bis heute nicht zugelassen.«

Laut der Betriebsratsumfrage von 2019 sehen 23 Prozent der Mitarbeiterinnen im ORF beim Gehalt und 15 Prozent bei Aufstiegschancen »sehr starke Benachteiligung« gegenüber ihren Kollegen. Ein neuer Kollektivvertrag sollte 2004 Transparenz und Klarheit schaffen. Doch die Vereinbarung verschlimmerte die Ungerechtigkeit beim Einkommen, schildert die ehemalige ZiB-Ressortleiterin Brigitte Handlos DOSSIER: »Viele Frauen wurden als Sekretärinnen in niedrigeren Verwendungsgruppen eingestuft, männliche Kollegen zu Redakteuren angehoben.« Handlos ist Mitbegründerin der Plattform »Frauen im ORF« und hat selbst erlebt, dass einige gleicher sind als andere. »Wir haben in einer Auflistung, die der Betriebsrat gefordert hat, gesehen, dass immer nur Männer Zulagen und höhere Pauschalen bekommen.« Sie selbst erkämpfte sich mit diesen Unterlagen das gleiche Gehalt wie ihr Kollege. 

Das Manko bei weiblichen Führungskräften zeigt sich vor allem im technischen Bereich, aber auch in den Redaktionen. Nur das Landesstudio Vorarlberg hat seit 2022 eine Chefredakteurin. Den wichtigen Bereich Fernsehinformation übernahm Eva Karabeg im November 2022 interimistisch von Matthias Schrom, der wegen seiner Chat-Affäre zurücktreten musste. »Karabeg ist die allererste Frau in dieser Position – das ist doch Wahnsinn«, kritisiert Handlos.

Grauzone für Witze: »Ich hab mich gefühlt wie bei ›Mad Men‹«

Zahlen, Quoten und Statistiken sind das eine – aber wie wirkt sich das auf den Alltag von Frauen im ORF aus? Wie geht das Unternehmen mit Sexismus um? Auch hier zeigt sich: Papier ist geduldig und die Realität kann mitunter anders aussehen, wie ORF-Mitarbeiterinnen im Zuge der DOSSIER-Recherche berichten. »Ich dachte anfangs, ich bin im falschen Film. Es war wie bei Mad Men«, erinnert sich eine ZiB-Redakteurin, die anonym bleiben will, an ihren Start beim ORF vor einigen Jahren. In der US-Fernsehserie Mad Men geht es um eine fiktive Werbeagentur der 1960er-Jahre. Alltagssexismus bestimmt die Handlung: Männer sind Macher, Frauen beflissene Befehlsempfängerinnen, am besten immer offen für Avancen von Kollegen und Vorgesetzten. 

Es habe »einige Grauslichkeiten und MeToo-­Fälle« gegeben, berichtet die Redakteurin weiter. Sie und andere erzählen von anzüglichen Witzen, ­sexistischen Sprüchen, beruflichen Nachteilen – und von Hürden für jene, die Probleme aufzeigen. Als sie sich über einen Vorgesetzten beschwert habe, sei das nach hinten losgegangen. »Vertraulichkeit im Umgang mit erhaltenen Informationen hat höchste Priorität«, heißt es zwar im ORF-Leitfaden für Fälle sexueller Belästigung. Das habe sie aber anders erlebt: »Ich habe mir die Nase blutig gelaufen bei dem Thema. So macht man keine Karriere, habe ich gelernt.« Deshalb ­möchte sie in dieser Geschichte nicht namentlich genannt werden: »Auch wenn sich seither viel getan hat«, wie sie sagt.

Offiziell tut der ORF viel, um Sexismus und sexuelle Belästigung hintanzuhalten: Seit den erschreckenden Ergebnissen der Frauenumfrage von 2009 werden Führungskräfte etwa zu »Genderkompetenzworkshops« verpflichtet. Für 2022 kündigte Generaldirektor Weißmann »verstärkte Information und Aufklärung für Führungskräfte und Mitarbeitende« an. Am 1. ­Februar 2023 schickte er eine interne Mitteilung an alle Direktionen, Landesstudios und Dienststellenleitungen. Er fordert sie auf, die Führungskräfte zu den verpflichtenden ­Schulungen über den Umgang mit sexueller Belästigung zu entsenden. 

»Fälle von sexueller Belästigung finden nicht nur in einer weit entfernten Arbeitswelt statt, sondern können auch im ORF vorkommen. Die Menschen, die hier arbeiten, handeln unwesentlich anders als in vergleichbaren Großbetrieben«, heißt es darin. Laut einer Ende 2022 veröffentlichten Erhebung der Statistik Austria erlebt in Österreich jede vierte Frau sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz – beim ORF ist es laut eigener Umfrage sogar jede dritte. Dass sexuelle Belästigung beim ORF sehr präsent ist, zeigt nicht zuletzt das aktuelle Verfahren vor dem Arbeits- und Sozialgericht. 

»Mein Eindruck ist, dass es kein Bewusstsein gibt. Und wenn, dann sieht man die Frau als armes Opfer, das man in einem geschützten Bereich verstecken muss. Oder man sagt, ›Die will ein Geschäft damit machen, die will Entschädigung‹«, kritisiert Zentralbetriebsrätin Jankovics, intern immer wieder Ansprechpartnerin bei derartigen Fällen. Etwas, das sie dabei gelernt hat: »Je höher in der Hierarchie, desto weniger Konsequenzen. Wenn ein Hausarbeiter so etwas machen würde, den hauen wir in Stücke. Wenn es aber eine höhere Führungskraft ist, dann ist es plötzlich schwierig: ›Aber der sagt ja, dass er’s nicht war!‹«

Zu wenig Konsequenzen

Im Gleichstellungsplan werden »Ermahnung, Trennung und Beendigung des Arbeitsverhältnisses« als Maßnahmen bei sexueller Belästigung angeführt. Wie oft wurden Mitarbeiter tatsächlich ermahnt oder haben ihre Stelle verloren? »Wie in ­allen großen Unternehmen kommen auch im ORF Beschwerden über sexuelle Belästigungen vereinzelt vor. Die Sanktionen sind immer angemessen und richten sich nach der Schwere des Vergehens«, antwortet ein ORF-Sprecher, ohne jedoch konkrete Zahlen zu nennen. »Entlassungen mussten bisher noch nie ausgesprochen werden.« Zur Erinnerung: Laut interner Umfrage gaben 14 Prozent der Frauen an, beim ORF körperliche sexuelle Belästigung erlebt zu haben.

»Fehlverhalten wird in der Branche oft nicht ausreichend transparent gemacht und nicht konsequent geahndet – das gilt auch beim ORF«, sagt Stiftungsrätin Anita ­Zielina. Sanktionen seien wesentlich: Wer Gleichbehandlung boykottiere, müsse irgendwann gehen. Sonst signalisiere die Unternehmensführung, es sei ihr nicht ernst. Seit 2022 gibt es die Arbeitsgruppe »Diversität« im Stiftungsrat, doch: »Um wirklich Gleichberechtigung in der Kultur zu etablieren, braucht man Budget, Ressourcen, Entscheidungskompetenz. Die Zuständigen müssen zu den wichtigen Meetings eingeladen sein. Das geschieht überall zu wenig.«

Kulturwandel ist ein langwieriger Prozess, besonders in einem Konzern mit tausenden Mitarbeiter·innen. Nicht alle sind davon begeistert – es geht dabei auch um den Verlust von Privilegien. Ein ZiB-Moderator lässt in einem Hintergrundgespräch tief blicken: Benachteiligung von Frauen habe er im ORF nie mitbekommen, dafür »viele Zickenkriege, Frauen, die sich regelrecht hassen«. Auch wenn die Statistik etwas anderes zeigt – in seinen Augen ist das Geschlechterverhältnis ausgewogen. »Geschlecht und Mi­grationshintergrund allein können es halt auch nicht sein, da muss schon die Qualifikation ausschlag­gebend sein.« Und außerdem: »Die Machos und Chauvinisten sterben eh aus.«