Ausgeschlossen

Medien sind in Österreich gesetzlich zur Barrierefreiheit verpflichtet. So auch der ORF. Im internationalen Vergleich ist er abgeschlagen – und trotzdem Vorreiter hierzulande. Wie kann das sein?

Text: Emilia Garbsch, Clara Porak; Illustration: Daniel Seex

ORF27.3.2023 

Alles beginnt mit einer E-Mail. Genau genommen mit einem Satz: »Ich ersuche allerdings um Verständnis, dass das Dolmetschen der gesamten Sendung in der Gebärdensprache derzeit nicht möglich ist«, schreibt Norbert Gollinger, damals Direktor des ORF-Landesstudios Niederösterreich, am 24. Jänner 2020. Lukas Huber will das nicht akzeptieren. Huber ist gehörlos und wohnt mit seiner Familie in einem kleinen Dorf in ­Niederösterreich. Und er sieht nicht ein: Warum soll eine Person eine ORF-Sendung nicht verfolgen können, nur weil sie nicht hören kann? Huber entschließt sich, es mit dem Öffentlich-Recht­lichen aufzunehmen.

In Österreich leben rund 1,3 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Viele von ihnen brauchen, wie Huber, barrierefreie Angebote. Denn gleichberechtigter Zugang, das bedeutet beim Fernsehen für gehörlose oder schwerhörige Menschen: Gebärdensprachdolmetsch oder zumindest Unter­titelung. Für blinde und sehbehinderte Menschen ist Audiodeskription wichtig, um Sendungen verfolgen zu können. Dabei wird in Sprechpausen das zu Sehende beschrieben, um die Sendung nachvollziehbar zu machen. Für Menschen mit Lernbehinderung ist wiederum der Einsatz einfacher Sprache relevant. Barrierefreiheit hat viele Facetten. Der ORF ist verpflichtet, ihnen nachzukommen. Das schreibt das ORF-Gesetz vor. So müssen etwa »jedenfalls die Informationssendungen des Fernsehens« nach Maßgabe der »technischen Entwicklung und der wirtschaftlichen Tragbarkeit« möglichst barrierefrei gestaltet werden.

Die E-Mail, die Lukas Huber so wütend machte, ging nicht an ihn selbst, sondern an Paul M. (Name von der Redaktion geändert). Er war es, der dem ORF wegen einer Sendung zur Gemeinderatswahl 2020 geschrieben hatte. Paul M. hatte eine Dol­metschung der Sendung in Österreichischer Gebärdensprache gefordert. Für Lukas Huber und Paul M. handelte es sich nicht um irgendeine Sendung, sondern um Wahlberichterstattung aus ihrem Bundesland. »Für uns gehörlose Menschen ist politische Teilhabe enorm wichtig«, sagt Huber. »Wir wählen Politiker·innen. Wir sind angewiesen auf diesen gleichberechtigten Zugang.«

»Bei Barrierefreiheit geht es auch um Selbstbestimmung«, sagt Maria Pernegger. Sie ist Geschäftsführerin des Marktforschungsinstituts Media Affairs und forscht zu dem Thema. Barrierefreiheit, das heißt auch: Wie leicht ist ein Angebot zu finden? Ist es auf die jeweiligen Bedürfnisse anpassbar? Ist die Bedienung barrierefrei? »Barrierefreiheit und Inklusion sind zentrale Themen und wichtige Anliegen für den ORF«, heißt es auf Anfrage aus der Pressestelle. Man entwickle barrierefreie Angebote »beständig weiter«. Bei Untertiteln will der ORF 100 Prozent erreichen, für andere Angebote aber keine Zielwerte nennen. Nur so viel: Für Audiodeskription und Gebärdensprachdolmetsch seien »weniger Sendungen« geeignet. Das stimmt – trotzdem gibt es noch deutlich Luft nach oben.

Der Ausbau der Barrierefreiheit des ORF schreitet langsam voran: 2021 wurden rund sechs Prozent seines TV-Programms mit Audiodeskription versehen, bei zwei Prozent gab es Gebärdensprachdolmetsch. Die Zahlen für 2022 liegen noch nicht vor. Nach einer Hochrechnung der Daten von Jänner bis November 2022 habe sich der Anteil aber laut ORF weiter gesteigert – um 0,1 Prozentpunkte bei Gebärdensprache und 1,4 bei Audiodeskription.

»Eigentlich ist das unser Recht, auch wir als gehörlose Menschen zahlen GIS«, sagt Lukas Huber. Huber ist ein politischer Mensch. Neben seiner Arbeit sitzt er im Vorstand des Österreichischen Gehörlosenbundes. In dieser Rolle vertritt er die Anliegen von gehörlosen Menschen gegenüber dem ORF. Dieser gibt den Interessenvertretungen seine Ausbaupläne jährlich bekannt. Dann sitzt Huber mit am Tisch. Deshalb meldet sich 2020 Paul M. bei ihm, erzählt von der Absage. Huber übernimmt. Am 4. Februar 2020 stellt er einen Antrag auf Schlichtung. Das heißt: Er beschwert sich formal beim ORF, dass dieser ihn diskriminiert. Die Beschwerde wird zunächst nicht vor Gericht diskutiert, sondern in einem Gespräch. Wenn dieses zu keiner Einigung führt, kann geklagt werden.

Das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz verpflichtet seit 2006 alle Medien zur Barrierefreiheit. Auch DOSSIER ist davon umfasst. Der Öffentlich-Rechtliche wird durch das ORF-Gesetz noch stärker in die Pflicht genommen. So ist etwa bis zum Jahr 2030 »die Barrierefreiheit aller seiner Sendungen mit Sprachinhalten anzustreben«. 2021 waren rund 40 Prozent der Sendungen von ORF 1, ORF 2, ORF 3 und ORF Sport + ­untertitelt. Um das Ziel zu erreichen, müsste sich der Anteil in den kommenden sieben Jahren also mehr als verdoppeln. Bleibt es beim bisherigen Fortschritt, scheint das kaum bewerkstelligbar. Würde das im Aktionsplan zur Barrierefreiheit des ORF (2021–2024) vorgeschriebene Tempo linear beibehalten, bräuchte der ORF laut unseren Berechnungen noch rund 34 Jahre, bis sein TV-Programm zu 100 Prozent untertitelt ist. Hat man das 2030er-Ziel einer hundertprozentigen Untertitelung insgeheim vielleicht schon aufgegeben? Nein, heißt es vonseiten des ORF. Die Technik soll es retten. Man rechne damit, in den kommenden fünf bis zehn Jahren durch technische Entwicklungen 30 bis 50 Prozent der Untertitel »vollautomatisch herstellen zu können«.

Hubers Engagement bedarf eines langen Atems: Neun Monate muss er auf sein Schlichtungs­gespräch warten. Am 3. November 2020 findet es dann statt. Das Ergebnis: keine Einigung. Huber besteht darauf, dass auch er ein Recht auf Zugang zu Wahlsendungen hat, der ORF darauf, keinen Fehler gemacht zu haben. Die Begründung? Die Barrierefreiheit sei in diesem Fall »wirtschaftlich nicht tragbar und sendungstechnisch nicht möglich«. Huber entscheidet sich 2020 dennoch gegen eine Klage. Für ihn ist es nicht die erste Begegnung mit dem ORF: Er hat sich schon 2007 und 2010 beschwert. Damals ging es um Videos auf orf.at ohne Untertitel und um den Verkauf einer DVD, die ohne Untertitel ausgegeben wurde. Nach einem erfolglosen Schlichtungsverfahren klagte er – und bekam recht. 1.000 Euro Schadenersatz musste der ORF wegen der fehlenden DVD-­Untertitelung zahlen. Aber: »Mein Hauptziel war nicht Schadenersatz. Ich wollte mit der Klage erwirken, dass man sich fragt: ›Warum ist es so weit gekommen?‹« Und: »Wirkliches Verständnis gab es aber nicht.«

Mit seiner Klage betreffend orf.at erreichte Huber hingegen, was er wollte. 2009 wurde die ORF-TVthek eingeführt – inklusive Untertiteln. Der ORF verpflichtete sich in einem Vergleich dazu. »Ob das ohne meine Klage so gekommen wäre? Ich glaube nicht«, sagt Huber. Einer, der wie Huber seit Jahren die fehlende Barrierefreiheit des ORF kritisiert, ist Martin Ladstätter. Er ist Obmann von Bizeps – Zentrum für selbstbestimmtes Leben, seit April 2022 ist er, nominiert vom ­Österreichischen Behindertenrat, außerdem im Publikumsrat des ORF. Was Ladstätter ärgert: Nicht einmal der Ö1-Inklusionspodcast Inklusion gehört gelebt wird als Transkript zum Nachlesen angeboten. Ladstätter räumt jedoch ein: Umfassende Barrierefreiheit ist nicht von heute auf morgen möglich. Es fehle an qualifiziertem Personal, damit »alle Privaten und der Öffentlich-Rechtliche von jetzt auf gleich hundert Prozent untertiteln könnten«, sagt er. Ähnliches gilt laut ORF für Gebärdensprache – es gebe nicht genug Dolmetscher·innen, um »den Großteil des Programms abdecken zu können«. Aber: Personal ließe sich ausbilden. Warum also ist der ORF nicht schon barrierefreier? Fehlt es an finanziellen Mitteln? Der ORF wollte auf Anfrage nicht verraten, welchen Anteil seines Budgets er für Barrierefreiheit aufwendet.

Laut Medienforscherin Maria Pernegger ist ein anderer Aspekt ohnehin wichtiger: »In Österreich wird gerne die finanzielle Hürde betont, mehr aber fehlt das Bewusstsein, die Notwendigkeit, man denkt: ›Mah, muss das jetzt sein?‹ Da sind andere Länder weiter.« Wie zentral ein Bewusstsein für den Stellenwert von Teilhabe ist, weiß Gareth Ford Williams. Er hat bis 2021 für die BBC gearbeitet. 2005 gründete er dort das Digital Accessibility Team. Ford Williams hat selbst ADHS und Legasthenie, seine Frau ist schwerhörig. Auch sein Sohn hat eine Behinderung. Als Ford Williams bemerkte, dass sein Sohn zwar die Angebote der BBC für unter Sechsjährige, nicht aber jene für ältere Kinder nutzen konnte, wurde er nachdenklich – und begann nachzufragen. Heute ist der digitale Auftritt der BBC umfassend barrierefrei. Wie konnte Ford Williams seine Kolleg·innen von der Umsetzung überzeugen?

»Es gab keinen Grund, es nicht zu tun«, sagt er zu DOSSIER. Immerhin lautet ein Leitspruch der BBC »The BBC is for everyone«, sprich: »Die BBC ist für alle da.« »Man ist nicht für alle da, wenn man nicht barrierefrei ist«, sagt Ford Williams. Wie ernst der Leitspruch genommen wird, zeigen die Zahlen: Die BBC hat beispielsweise 88,7 Prozent ihres Angebots untertitelt und bietet bei 26 Prozent Audiodeskription an. Nicht nur die BBC, auch etwa das ZDF in Deutschland schneidet deutlich besser als der ORF ab. Warum aber sind ZDF und BBC so viel mehr als der ORF ein Rundfunk »für alle«? Braucht es strengere Gesetze? Nein, sagt Ford Williams. Wenn man etwas nur tue, um die Vorgaben eines Gesetzes einzuhalten, mache man nur das Minimum.

Das absolute Minimum, das machen in Österreich die privaten Medien. Auch sie müssten barrierefrei sein, doch weil sie kaum Sanktionen befürchten müssen, passiert hier wenig bis nichts. Bizeps-­Obmann Martin Ladstätter stößt sich an der Position des Verbandes österreichischer Zeitungen (VÖZ). Seit Jahren ist dem VÖZ das Webangebot orf.at, die sogenannte blaue Seite, ein Dorn im Auge. Ende 2022 machte er zuletzt massiv Stimmung dagegen. »News.orf.at ist im Gegensatz zu Onlineangeboten von Tageszeitungen barrierefrei. Doch weil die Tageszeitungen die ORF-Seite als Konkurrenz sehen, wollen sie das Angebot zusammenstreichen«, sagt Ladstätter.

Untertitelung (CC), Audiodeskription (AD) und Angebot in Gebärdensprache –
im Vergleich mit Großbritannien und Deutschland ist Österreich abgeschlagen

Zumindest private Fernsehsender werden mittlerweile stärker in die Pflicht genommen. Seit 2020 müssen sie Aktionspläne zum Ausbau der Barriere­freiheit bei der Regulierungsbehörde Komm Austria einreichen – und jährlich den Anteil des Angebots steigern. Anfragen von DOSSIER an die neun reichweitenstärksten Privatsender in Österreich zeigen: Sie schneiden katastrophal ab. Pro Sieben und Sat 1 sind mit einer Untertitelungs­quote von 0,1 Prozent im Jahr 2021 Spitzenreiter – das entspricht rund 50 Minuten des gesamten Programms im ganzen Jahr. Wie kann es sein, dass fast alle privaten Sender und Zeitungen Menschen mit Behinderungen ausschließen?

Corinna Drumm, Geschäftsführerin des Verbandes österreichischer Privatsender, sieht kaum Verantwortung bei den Medien, deren Interessen sie vertritt. Es fehle an staatlichen Fördermitteln für Barrierefreiheit, sagt sie gegenüber DOSSIER. Weil Privatsender anders als der ORF nicht durch Gebühren finanziert seien, stoße man schnell an die »Grenzen der wirtschaftlichen Machbarkeit«. Österreichs Medienpolitik bietet wenig Anreiz, um den Zustand zu verbessern: Zwar wird Barrierefreiheit aus unterschiedlichen Töpfen gefördert, Bedingung für eine Medienförderung ist sie allerdings nicht. So müssen Menschen mit Behinderungen oft selbst ihr Recht erkämpfen. Wie Lukas Huber. Im Jänner 2023 verfolgt er am Wahltag die Berichterstattung zur niederösterreichischen Landtagswahl auf ORF 2. Über drei Stunden werden laufend neue Ergebnisse verkündet und analysiert – inklusive Untertitelung und Übersetzung in die Österreichische Gebärdensprache. Die tägliche Nachrichtensendung Niederösterreich heute wird hingegen nach wie vor ohne Untertitel und Gebärdensprachübersetzung ausgestrahlt. Huber überrascht das nicht weiter: Wie bei fast allen Landesstudios finden die Anliegen von Menschen mit Behinderungen auch 2023 kaum Gehör.

Dieser Text entstand in Kooperation mit »Andererseits«, einem Onlinemagazin, bei dem Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam Journalismus machen –gleichberechtigt und fair bezahlt. Bis Dezember 2022 hat die Redaktion auch am Ö1-Podcast »Inklusion gehört gelebt« mitgearbeitet. Wie DOSSIER wird »Andererseits« durch seine Community ermöglicht und freut sich über neue Unterstützer·innen: andererseits.org/abo