Die vierte Ohnmacht

Toni Sailer ist für viele unantastbar. Sein Mythos entspringt seinen großen Erfolgen, einer Sucht nach Nationalhelden und der Schwäche des Journalismus.

ÖSV20.1.2018 

„Nun soll endlich Gras über Zakopane wachsen.“ Man schrieb das Jahr 1975, als Martin Maier seine Kolumne im Kurier so titelte. Von einer „saudummen Männerg´schicht“ mit einem „unguten professionellen Weibsstück und einem Niagarafall von Alkohol“ ist darin zu lesen. Maiers Schluss: „Der Toni hat in Zakopane eben danebengehauen.“

Heutzutage kommt die Post von Jeannée: „Was da vor 44 Jahren in einem schmuddeligen Hotelzimmer einer polnischen Prostituierten, Pardon: einer Nebenerwerbsprostituierten, widerfuhr, ist mir komplett wurscht“, schreibt der Krone-Kolumnist am 18. Jänner 2018.

Es ist der Tag, nachdem DOSSIER, Der Standard und Ö1 die gemeinsamen Recherchen zum Akt Toni Sailer veröffentlichtet haben; die Geschichte eines Kriminalfalls, der bis heute nicht restlos geklärt ist, weil die Regierungen Österreichs und Polens diesen gemeinsam aus der Welt schafften.

Doch darum geht es vielen nicht. Es sei pietätlos darüber zu berichten, der falsche Zeitpunkt oder schlicht nichts Neues. Dabei zeigt das Beispiel Toni Sailer (1935-2009), wie sich ein Idol der juristischen Verfolgung und auch meist der kritischen Berichterstattung entzog.

Seit 44 Jahren sind viele Fragen offen. Dank der Intervention Mächtiger und dank eines Schweigekartells, das damals wie heute viele Journalisten mit Sportlerinnen und Sportlern wie mit Funktionären bilden. 

Auf einen Wodka mit Toni

Am Tag nach dem Vorfall, am 5. März 1974, meldet die Austria Presse Agentur (APA): Sailer sei in Zakopane wegen „Gewalttätigkeit“ in Probleme geraten. Ihm und zwei weiteren Beschuldigten sei wegen eines Zwischenfalls „mit einer jungen Frau“ die Reisepässe vorläufig abgenommen worden. „Sailer wies die Beschuldigungen energisch zurück“, hieß es.

Am 8. März titelt der Arbeiter-Zeitung-Redakteur Alfred Nimmerrichter seine Kolumne „Aufs Korn genommen“ mit: „Das Schweigen“: „Offenbar ist niemand bereit, einmal klar zu sagen, was in dem polnischen Wintersportort tatsächlich geschehen ist. Auch Sailer selbst sagt nichts.“ Einen Tag zuvor konnte Sailer wegen Intervention der Botschaft Polen verlassen.

In der Folge erscheinen noch kleine Berichte über den Fall. „Opfer einer Erpressung?“, fragt Krone-Reporter Heinz Prüller in einem Artikel. Die Vorwürfe gegen Sailer stammten von einer „übel beleumundeten Frau“. „Von Vergewaltigung keine Rede (das bestätigt der Gerichtsmediziner).“ Einen Beleg liefert er nicht.

Prüller war nicht in Zakopane, er schrieb seinen Artikel aus dem Hotel Sasanka in der Hohen Tatra, dem Grenzgebirge zwischen Polen und der heutigen Slowakei, wo damals das letzte Rennen der Skisaison stattfand. „Toni Sailer kippt einen Wodka, einen polnischen“, berichtet Prüller über den nach seiner Ausreise „erschöpften“, aber „glücklichen“ Sailer. 

Kein Journalist machte sich auf den Weg, die Vorwürfe und Toni Sailers Version auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Wenn man schon von Sailers Unschuld überzeugt war, warum entlastete man ihn nicht, indem man seine Version durch Fakten stützte?

„Damals hat man nicht so recherchiert wie heute“, sagt der ehemalige Skireporter der Krone, Karl Pointner. Wolfgang Winheim, der jahrzehntelang für den Kurier mit dem Skizirkus reiste, sagt: „Es war unmöglich, im Ostblock zu recherchieren. Die Sportler und Funktionäre von dort waren politisch unglaublich geschult.“ 

Andere Reporter von damals wollen zu Sailers Affäre heute nicht Stellung nehmen. Ihr Tenor: Sailer ist ein Nationalheld, so einen patzt man nicht an. In der Kronen Zeitung denkt man auch heute noch so: „Toni Sailer anzupatzen, ist eine riesige Sauerei!“, schreibt Sportchef, Max Mahdalik. 

Die zugeschriebene Rolle

Seit dem dreifachen Olympiasieg von Cortina d´Ampezzo (1956) war Anton „Toni“ Sailer, der gelernte Spengler aus Kitzbühel, der größte Sportstar der jungen Zweiten Republik. Das hängt, wie der Sporthistoriker Rudolf Müllner dem Standard sagte, auch mit der ihm zugeschriebenen Rolle im Wiederaufbau des Landes zusammen.

Ab dem Zeitpunkt, als der damals 20-jährige Olympiasieger von Bundespräsident Theodor Körner das Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich erhielt, gehörte er zum Inventarium der Heimat.

Jahr für Jahr wird zum Hahnenkammrennen das Andenken an den größten Sohn des Ortes zelebriert. Sailers Verehrung passt in das ahistorische Selbstbild des Österreichischen Skiverbandes (ÖSV), der sich kaum kritisch mit seiner Geschichte auseinandergesetzt und den notwendigen Zutritt in seine Archive nicht gestattet hat. 

Sailers mittelmäßige Arbeit als ÖSV-Direktor und -Cheftrainer und sein Kampf mit dem Alkoholismus wurden und werden stets ausgeblendet. Wie Kitzbühels Beitrag zur Ausbildung der Gebirgsjäger im Dritten Reich. 

„Das war ein Irrer“

Schon bald nach dem Vorfall im März 1974 war mediale Ruhe eingekehrt. Ein österreichischer Journalist rettete schließlich die Ehre des Berufsstandes - und wurde dafür nicht mit Anerkennung überschüttet. Im Gegenteil.

Namhafte Berufskollegen maßregeln den Vorarlberger Bernd Dörler dafür, ein Jahr danach, also im März 1975, ausführlich im deutschen Nachrichtenmagazin Stern über den Fall Sailer berichtet zu haben. „Da war so ein Irrer“, sagt ein ehemaliger Sportjournalist heute am Telefon, „der war schon radikal.“

Dabei machte Dörler seine Arbeit: Er ging den Gerüchten nach, die zu Beginn der Saison 1974/75 im Skizirkus noch immer nicht verstummt waren. Er recherchierte in Zakopane, konnte den Akt des Staatsanwalts einsehen, las von schweren Verletzungen der Polin, die mit Sailer und zwei Jugoslawen aufs Zimmer gegangen war.

Der gekränkte Nationalheld

Ein Jahr später, am 9. März 1976, berichtet der Kurier von einem Gerichtsverfahren, das Sailer gegen den Stern wegen „falscher Berichterstattung“ angestrengt hatte. Zwei Monate später schreibt die AZ, der Stern habe einen Prozess „wegen übler Nachrede“ in erster Instanz verloren. Die vom Stern als Wahrheitsbeweis angebotenen Schriftstücke durften nicht vorgelegt werden. 

Ein österreichisches Gericht könne die Entscheidung eines „ausländischen“ nicht anzweifeln, das sei „eine völkerrechtliche Unmöglichkeit“, so der Richter damals. Im Ausland, also in Polen, war das Verfahren ja dank Intervention von Österreichs Regierung eingestellt worden. Dörler musste laut AZ 6.000 Schilling Strafe und weitere 5.000 Schilling an den „in seiner Ehre gekränkten Nationalhelden“ zahlen.

Tauchten Zweifel an Sailers Qualifikation als Trainer auf, wie in einem Profil-Artikel im Februar 1976, so hinterließen sie Spuren, die bald verweht waren. Nicht einmal die Geschichten über viele gemeinsam mit dem Abfahrtstrainer Charly Kahr durchzechten Nächte konnten Sailer etwas anhaben.

Selbst das von Franz Klammers Abfahrtssieg überdeckte Debakel des ÖSV bei den Winterspielen 1976 konnte sein Ansehen nicht beschädigen. Nach den Winterspielen trennte sich der ÖSV von Sailer. Nicht wegen Zakopane, man hatte nicht genug Medaillen geholt.

Es wurde ruhig um Toni Sailer, gleichzeitig wurde er zur Legende. 1999 wurde er von Sportjournalisten, angeführt vom Sportchef des ÖSV-Partners Kronen Zeitung, Michael Kuhn, zu Österreichs Jahrhundertsportler gewählt. Nach den Berichten über den Akt des Justizministeriums und über die Hilfe von Bruno Kreiskys Regierung heulen die Wächter der Volkserinnerung heute wieder auf. 

Die „Bestie Weltcup“

„Beschämend, einen Toten so anzuschwärzen“, titelt die Krone. Stars wie Annemarie Moser-Pröll, Franz Klammer und Karl Schranz geben Zeugen der Gegenaufklärung. Vizekanzler und Sportminister Heinz-Christian Strache (FPÖ) spricht in einer Aussendung von einer „miesen Kampagne“.

Als wäre die Zeit stehen geblieben, wird das Vaterland gegen die Anmaßung verteidigt, einen ungeklärten Vorfall mithilfe neu aufgetauchter Dokumente verständlicher zu machen. Die Kurier-Kolumne von 1975 könnte da und dort noch heute erscheinen. Darin heißt es, in Sailer sei damals die „Bestie Weltcup“ gefahren. 

Rund neun Wochen lang haben wir in Österreich, Polen und Slowenien recherchiert; wir haben Archive durchstöbert, Akten gelesen und mit Zeitzeugen wie Historikern gesprochen. Es recherchierten Siegfried Lützow, Fritz Neumann, Philip Bauer (alle Der Standard), Johann Skocek, Florian Skrabal (beide DOSSIER), Bernt Koschuh (Ö1), Wojciech Cieśla (Newsweek.pl, Polen), Jurek Jurecki (Tygodnik Podhalanski, Polen) und Anuška Delić (Delo, Slowenien). Besonderer Dank gilt der Rechtsanwältin Eva Plaz, die geholfen hat, den Akt zu verstehen, und der Medienrechtsexpertin Maria Windhager.