Warum wir berichten

Warum wir über die Akte Toni Sailer berichten

ÖSV17.1.2018 

Soll man über ein mutmaßliches Verbrechen berichten, das Jahrzehnte zurückliegt und von einem österreichischen Sportidol begangen worden sein soll; über jemand, der verstorben ist? Wir haben das Für und Wider abgewogen: die Totenruhe des Beschuldigten, die strafrechtliche Verjährung, die oft nebulöse Faktenlage angesichts eines Systems, in dem die hohe Politik, die Justiz und mächtige Sportfunktionäre für sich und die Republik unangenehme Vorfälle eiskalt vertuschen. Die öffentliche Rolle des Nationalhelden, die öffentliche Relevanz einer politischen Intervention. Wir haben eine Entscheidung getroffen.

Vor 43 Jahren, in der Nacht des 4. März 1974, soll Anton „Toni“ Sailer in Polen eine Prostituierte vergewaltigt und misshandelt haben. Für viele im alpinen Skizirkus, in der öffentlichen Verwaltung und der hohen Politik war das seither ein offenes Geheimnis. Auch einzelne Medien berichteten über den Vorfall. Sailers Mythos wurde trotz aller offenen Fragen stets aufrechterhalten.

Was in jener Nacht genau passiert ist, lässt sich bis heute nicht restlos klären. Toni Sailer ist 2009 verstorben. Stets hatte er behauptet, dass er damals in eine Falle gelockt worden sein soll. Doch warum und von wem? Nie unterlegte Sailer seine Version mit Fakten. Er musste es nie wirklich.

Der Österreichische Skiverband (ÖSV) hatte kein Interesse an einer juristischen Aufklärung der Causa. Und Österreichs Regierung setzte alle Hebel in Bewegung, um die Sache still und heimlich aus der Welt zu schaffen, wie wir gemeinsam mit unseren Medienpartnern Der Standard und Ö1 erstmals zeigen.

Uns ist klar, dass unsere Recherche für viele schmerzhaft ist. Für Hinterbliebene, Freunde und Fans von Toni Sailer. Er kann sich heute nicht mehr wehren. Doch wie unsere Recherchen zeigen, hatte das damalige Opfer auch keine faire Chance. Dazu trug Österreichs Regierung massiv bei.

Dass das Thema bis heute aktuell ist, zeigt die kontrovers geführte Debatte um Nicola Werdeniggs Bericht über die Vergewaltigung durch einen ÖSV-Rennfahrerkollegen in den 1970er-Jahren. Bis heute ist es in unserer Gesellschaft schwer, einen offenen und schonungslosen Diskurs über sexuellen Missbrauch zu führen. Auch dazu möchten wir mit unserer Recherche einen Beitrag leisten.