Der Akt Toni Sailer

Im März 1974 soll Toni Sailer in Zakopane eine 28-jährige Polin misshandelt haben. Ein Akt des Justizministeriums zeigt, wie die Regierung Kreisky interveniert hat, um die Sache aus der Welt zu schaffen.

ÖSV17.1.2018 

Am 6. März 1974, kurz nach Mittag, läutet in der österreichischen Botschaft in Warschau das Telefon. Toni Sailer bittet um Hilfe. Eine polnische Staatsbürgerin habe ihn angezeigt, ihm sei „der Dienstpass abgenommen worden“.

So steht es in einem Bericht der Botschaft vom 11. März 1974 an das Außenministerium in Wien. Nur gegen „Hinterlegung einer Kaution von 15.000 US-Dollar“ werde ihm die Ausreise gestattet werden. Sailer, zu dieser Zeit ÖSV-Direktor, also Alpinchef, ersucht „unter Hinweis auf seine offiziellen Funktionen im Skisport um Überweisung dieser Summe an die Staatsanwaltschaft, da er am folgenden Tag dringend abreisen“ müsse.

Es ist das erste Schreiben in einem bisher unbekannten Akt des Justizministeriums (BMJ), der von einem Recherchekollektiv von DOSSIER, Der Standard und Ö1 ausgewertet wurde. 84 Seiten ist er dick und umfasst die Jahre 1974 bis 1976: Korrespondenzen und Berichte von Österreichs Justizbehörden finden sich darin, teilweise auch Übersetzungen von Gerichtsbeschlüssen aus Polen, die von der österreichischen Botschaft in Warschau an das Außenamt übermittelt wurden.

Der Akt zeichnet das Bild eines ungeklärten Kriminalfalls samt Interventionen auf höchster politischer Ebene. Österreichs Regierung, Diplomatie und der Justizapparat der Volksrepublik Polen bemühten sich gemeinsam und, wie es aussieht erfolgreich, Toni Sailer (1935–2009), den dreifachen Olympiasieger von Cortina d’Ampezzo (1956), Jahrhundertsportler, Volksheld, Filmstar und Mädchenschwarm vor den Folgen der Geschehnisse jener Nacht in Zakopane zu bewahren.

Was war in Zakopane passiert?

In der Nacht des 4. März laden zwei für eine italienische Skischuhfirma arbeitende Jugoslawen den bereits alkoholisierten Toni Sailer auf ihr Zimmer ein. Sie hatten sich die 28-jährige Janina S. dorthin bestellt, eine Nebenerwerbsprostituierte. L. (Name der Redaktion bekannt) war einer der beiden, er bestreitet seine Anwesenheit nicht.

„Es kann stimmen“, sagt er am Telefon, „aber in diesen Zeiten war alles anders.“ Viele Prostituierte wären im Hotel gewesen, und Sailers Liebe zum Alkohol, die war allgemein bekannt. „Ganz Österreich weiß, dass er getrunken hat. Zum Sexuellen werde ich nichts sagen.“ Den Akt werde er nicht kommentieren, sagt L. noch am Telefon. Auf weitere Gespräche legt er keinen Wert.

Toni Sailer sei unschuldig, sagt der andere, M. (Name der Redaktion bekannt): „Es war ein schlechter Scherz, eine Falle.“ Juristisch ist die Sache verjährt. Sailer selbst wies die Vorwürfe stets zurück und behauptete, ihm sei eine Falle gestellt worden. Anhaltspunkte dafür finden sich im Akt nicht.

Beim Österreichischen Skiverband kann man Sailers Version nicht mit Dokumenten untermauern. Teile der ÖSV-Akten seien wegen eines Wasserrohrbruchs nicht mehr verfügbar, sagt ÖSV-Generalsekretär Klaus Leistner.

Leistner war bereits zum Zeitpunkt des Vorfalls im Jahr 1974 als Funktionär im ÖSV aktiv: „Ich habe Notizen gefunden, wonach der Toni dem damaligen ÖSV-Präsidenten Kurt Schlick, der ja auch schon verstorben ist, gesagt hat, er könne ihm versichern, dass nichts vorgefallen wäre, was strafbar wäre.“

Die Festnahme

Am Morgen des 5. März 1974 nimmt die Polizei Toni Sailer im Hotel fest. Der Vorwurf: „Notzucht“. Janusz Szymonski war damals junger Polizist in Zakopane, er hatte Dienst, als Sailer verhaftet wurde. Szymonski dazu heute:

„Eine Prostituierte beschuldigte ihn, sie vergewaltigt zu haben. Sailer wurde nur kurz angehalten und wieder freigelassen.“

Edward Nadarkiewicz half 1974 bei der Organisation des Rennens, das der Spanier Francisco Fernández Ochoa vor Gustav Thöni aus Italien und Hansi Hinterseer gewinnen wird. Er erinnert sich an den Moment, als die Polizei Sailer am selben Tag am Wettkampfort abgesetzt hat:

„Sailer trug eine schwarze Jacke, war unrasiert, stieg aus dem Polizeiauto aus, und alle grüßten ihn. Er war wie am Boden zerstört. Es war offensichtlich, dass die Sache ihn mitnahm.“

Wenig später ruft ÖSV-Direktor Sailer die Botschaft in Warschau an – die diplomatische Maschine kommt in Gang. Auf Weisung von Außenminister Rudolf Kirchschläger interveniert die Botschaft „mit großem Nachdruck bei der Staatsanwaltschaft in Zakopane und im polnischen Außenministerium“.

Der erste Erfolg: Die Polen senken die „in keiner Relation zu den üblichen Kautionen“ stehende Forderung von 15.000 auf 5.000 US-Dollar. Sailer erhält seinen Dienstpass zurück, am nächsten Tag darf er Polen verlassen.

Die Nachricht über seine Festnahme verbreitet sich. Am 8. März titelt die FAZ „15.000 Dollar Kaution für Toni Sailer“, die Bild legt  am Tag darauf nach: „Eine junge Polin behauptet: Toni Sailer hat mich vergewaltigt“.

In Österreich geht alles weiter, als wäre nichts geschehen. Am 11. März ehrt Fred Sinowatz, Unterrichtsminister mit Sportagenden, Sailer und das erfolgreiche Ski-WM-Team von St. Moritz.

Am Rande des Events spricht ein Journalist der Arbeiterzeitung ÖSV-Direktor Sailer auf den „Fall Zakopane“ an: „Da wird nichts rauskommen, weil nichts gewesen ist. Und die Kaution werden wir, da bin ich mir sicher, zurückbekommen“, sagt er – und wird recht behalten. Neun Monate, einen Staatsbesuch und etliche Interventionen später.

Bereit zur Anklage

Im Mai will die Staatsanwaltschaft Zakopane Toni Sailer wegen Vergewaltigung anklagen. Die Frau soll schwere Verletzungen davongetragen haben. Die Anklageschrift liegt dem Bezirksgericht vor. Dieses sieht einen inhaltlichen Fehler: Nicht Toni Sailer allein soll wegen Vergewaltigung angeklagt werden.

Auch die beiden Jugoslawen, die ihm in jener Nacht geholfen hätten, die Frau zu fixieren, sollten deswegen, und nicht wie vorgesehen, nur wegen Beihilfe angeklagt werden. Weil es sich dadurch aber um eine Gruppenvergewaltigung mit höherer Strafdrohung gehandelt hätte, erklärt sich das Bezirksgericht als nicht zuständig und gibt den Fall an die höhere Instanz ab, das Wojwodschaftsgericht in Krakau.

Nicht nur in Polen, auch in Österreich wird die Justiz tätig. 1974 galt in Österreich noch das Strafgesetz von 1852. Das neue Strafgesetzbuch (StGB) war zwar schon beschlossen und verkündet, in Kraft trat es erst mit 1. Jänner 1975. Die Justiz prüfte den Fall, da sie nach Paragraf 36 des kaiserlichen Strafgesetzes (StG) „Verbrechen der Unterthanen im Auslande“ ebenfalls zuständig sei. „Übernahme Strafverfolgung?“ ist handschriftlich auf einem Aktenumschlag vermerkt.

In Österreich die Sache „völlig auf sich beruhen zu lassen“, was die Oberstaatsanwaltschaft Innsbruck als eine von mehreren Möglichkeiten ins Auge gefasst hat, scheint im Juli 1974 nicht mehr so einfach möglich.

Also überlegt man, wie man Polen um Rechtshilfe ersucht: Würden die Kollegen den Akt rausrücken? Und wenn ja, wie lange würde das dauern? In der Justiz kommt man zur Ansicht: Der diplomatische Weg sei der beste.

Tatsächlich wird die Diplomatie siegen – und der polnische Akt trotzdem nie seinen Weg nach Österreich finden. Einzig der gebürtige Vorarlberger Bernd Dörler, damals Redakteur beim deutschen Nachrichtenmagazin Stern, bekommt diesen ein halbes Jahr später zu Gesicht und kann ihn fotografieren. 

Für den diensthabenden Arzt im Spital, der die Frau im Spital behandeln muss, waren „die Spuren der Nacht so evident, dass er Anzeige erstatten musste“, schreibt Dörler später im Stern.

Eine höhere Macht

Wie eng es für den ÖSV-Direktor Anfang Juni 1974 zu werden droht, zeigt ein Schreiben, das Sailers zugeteilter polnischer Militärverteidiger damals verfasst:

„Ich beabsichtige mich an das Gericht mit der Bitte zu wenden, den Termin der Gerichtsverhandlung nicht früher als Juli festzulegen.“

Im August reisen ein Verwaltungsattaché der österreichischen Botschaft und Sailers österreichischer Anwalt Karl-Heinz Klee nach Krakau, wo das Verfahren inzwischen anhängig ist. Die beiden sprechen beim Generalprokurator in Krakau vor und essen gemeinsam zu Abend.

Am 3. September berichtet die Botschaft nach Wien: Der „1. Parteisekretär der Wojwodschaft“ habe dem Vorhaben des Krakauer Staatsanwaltes zugestimmt, „die Angelegenheit einvernehmlich aus der Welt zu schaffen“. Die Einstellung des Strafverfahrens gegen Sailer sei, „auf den bevorstehenden Besuch des polnischen Ministerpräsidenten in Österreich“ und die Kontakte mit der Botschaft zurückzuführen.

Anfang Oktober 1974 reist Polens Ministerpräsident Piotr Jaroszewicz, die Nummer zwei im Staat, nach Wien. Umfangreiche Wirtschaftsgespräche stehen auf der Agenda. Österreich ist ein wichtiger Kreditgeber der Volksrepublik. Ein Strafverfahren gegen den Sportstar des Handelspartners wäre da ungelegen gekommen, ebenso wie ein solches Verfahren in Österreich führen zu müssen.

Am Nationalfeiertag erklärt der damalige ÖSV-Präsident Kurt Schlick im Kurier, das Verfahren gegen Sailer sei eingestellt worden. Offiziell fasst die polnische Staatsanwaltschaft diesen Beschluss erst zwei Monate später.

Im Dezember stellt sie das Verfahren „aus Rücksicht auf Mangel an gesellschaftlichem Interesse“ ein. Der Kunstgriff der polnischen Justiz: Sie stuft den Vorwurf von „Notzucht“ auf „Körperverletzung“ herab. Das mindere Delikt rechtfertigt für die Staatsanwaltschaft die Nichtverfolgung von Amts wegen.

Der Geschädigten stünde trotzdem das Recht auf eine „Privatanklage“ zu. Janina S. wird das nie tun - warum nicht, muss und kann man sich denken. Sie konnte bei der Recherche nicht ausfindig gemacht werden.

ÖSV-Direktor Toni Sailer hatte zu diesem Zeitpunkt ohnehin nichts mehr zu befürchten. Die Strafe würde voraussichtlich, hält Österreichs Botschafter in Warschau fest, „der im Vorjahr gewährten Amnestie anlässlich des dreißigjährigen Bestehens der VR (Volksrepublik, Anm.) Polen erlassen, weil der angedrohte Freiheitsentzug nicht höher als drei Jahre ist.“

Dann blieb noch die Kaution. Nach der Einstellung des Verfahrens erhält Österreich das Geld zurück. Sailer wird bis Ende 1975 ÖSV-Direktor bleiben und weiter im Skizirkus aktiv sein, etwa als Rennleiter der Hahnenkammrennen in Kitzbühel.

Die Intervention der Republik Österreich wurde bisher nur einmal öffentlich thematisiert. Im März 1975 als Bernd Dörler im Stern von Eingriffen der Politik berichtet und ein Schreiben des Skifabrikanten Josef Fischer vom 24. April 1974 zitiert. 

„Ich glaube, dass es sowohl für den Österreichischen Skiverband als auch für die Skination Österreich sehr wichtig wäre, wenn diese Angelegenheit in irgendeiner Form bereinigt werden könnte, und darf Sie nochmals bitten, sich dieser Sache anzunehmen.“ Der Adressat von Fischers Schreiben: Bundeskanzler Bruno Kreisky.

Rund neun Wochen lang haben wir in Österreich, Polen und Slowenien recherchiert; wir haben Archive durchstöbert, Akten gelesen und mit Zeitzeugen wie Historikern gesprochen. Es recherchierten Siegfried Lützow, Fritz Neumann, Philip Bauer (alle Der Standard), Johann Skocek, Florian Skrabal (beide DOSSIER), Bernt Koschuh (Ö1), Wojciech Cieśla (Newsweek.pl, Polen), Jurek Jurecki (Tygodnik Podhalanski, Polen) und Anuška Delić (Delo, Slowenien). Besonderer Dank gilt der Rechtsanwältin Eva Plaz, die geholfen hat, den Akt zu verstehen, und der Medienrechtsexpertin Maria Windhager.