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Wie „Österreich“ auf der Jagd nach Schlagzeilen eine Minderjährige öffentlich bloßstellt. Die Geschichte einer Betroffenen.

»Österreich«1.9.2016 

Selina hat nicht gut geschlafen. Es ist die Aufregung vor dem ersten Tag an der neuen Schule, die die 16-Jährige lang wachgehalten hat. Doch nichts wird kommen, wie sie es sich vorgestellt hat. Beim Frühstück überbringt ihre Mutter die Nachricht: Selina, du stehst in der Zeitung. Ein Foto von ihr ist groß auf der Titelseite, daneben die Schlagzeile: „Wegen einer Ratte: Kanzler-Tochter fliegt von der Schule.” Das Foto zeigt Selina auf ihrem ersten Schulball, eine Ratte wurde durch Fotomontage auf ihre Schulter gesetzt – doch nicht nur das Foto, auch die Meldung ist falsch. Es ist der Höhepunkt der medialen Bloßstellung, die sie seit mehr als einem Jahr erfährt.

Heute ist Selina Gusenbauer 24 Jahre alt. Von Jänner 2007 bis Dezember 2008 war ihr Vater Bundeskanzler der Republik Österreich. Im selben Zeitraum ist Selina regelmäßig auf den Klatschseiten von Boulevardzeitungen wie Österreich zu sehen. Die Demütigung, die sie damals ertragen musste, ist für sie noch immer gegenwärtig.

Selina ist nicht die Einzige, die in den vergangenen zehn Jahren der Berichterstattung von Wolfgang Fellners Gratiszeitung zum Opfer gefallen ist. Für die Story ist so gut wie jedes Mittel recht: Etwa ein Liveticker von einem Kinderbegräbnis, den Österreich einrichtet – ein siebenjähriger Bub war vom eigenen Vater erschossen worden. Manchmal ist die Berichterstattung nicht nur grausam, sondern auch falsch: Als ein 80-jähriger Mann verdächtigt wird, seine Töchter missbraucht zu haben, führt Österreich drei Tage lang eine mediale Offensive an, veröffentlicht unverpixelte Fotos des Mannes und bezeichnet ihn als „neuen Fritzl" und „Inzest-Opa“. Wenige Wochen später wird der Mann aus der U-Haft entlassen, laut Polizei ist er unschuldig. Darüber, was es heißt, medial verurteilt zu werden, kann er nicht mehr sprechen – er ist knapp ein Jahr darauf verstorben.

DOSSIER hat mehrere Betroffene, deren Intimsphäre für schnelle Schlagzeilen geopfert wurden, kontaktiert, doch fast alle wollen das Vergangene ruhen lassen. Sie nennen Gründe: Eine Frau erzählt, sie habe wegen der Berichte ihren Job verloren, nun wolle sie ihre neue Stelle nicht riskieren. Sein Vertrauen in die Medien sei gebrochen, sagt ein anderer. Mit Journalisten zu sprechen, das mache nur Schwierigkeiten. Alle haben Angst, erneut Aufmerksamkeit zu erregen. Nicht aber Selina Gusenbauer: „Wenn es darum geht, die journalistische Fahrlässigkeit von Österreich aufzuzeigen, bin ich gerne ein Teil davon“, sagt sie.

Am Boulevard machen alle mit

Lange ist es her, dass die ersten Berichte über Selina erschienen sind. Noch heute hat sie Tränen in den Augen, wenn sie über die Ereignisse von damals spricht. Die Medien treffen sie an einer für Jugendliche ganz besonders verletzlichen Stelle: ihrem Aussehen. Boulevardmedien mustern sie von Kopf bis Fuß, machen sie zum nationalen Gesprächsthema. „Kanzler-Tochter im Kelly-Osbourne-Look“ titelt Österreich im September 2007 und enthüllt, dass sich Selina im Griechenlandurlaub zwei Piercings in die Unterlippe stechen ließ. Einen Monat später fachsimpelt das Blatt über ihren „Emo-Style“: „Sie ist bekennender Emocore-Fan und steht auf Totenköpfe, Converse-Schuhe, die Farbe Schwarz (auch um die Augen) und Piercings.“ Michael Jeannée, Kolumnist der Kronen Zeitung, bezeichnet Selina als „Gusenbauers Piercing-Töchterl“, die „die abscheulich-löchrige Modetorheit gewissermaßen salonfähig gemacht“ hätte. Auch News moniert Selinas Schminke: „Ein Kajalstrich so dick, dass man damit Straßen absperren könnte“. Man fragt sich: „Wie schwarz sind die Gedanken der Tochter des roten Kanzlers wirklich?“

Die Botschaft, die bei ihr angekommen sei, war „Du bist hässlich, du bist nicht feminin. Ich merke erst jetzt, wie sehr ich das verinnerlicht und tatsächlich geglaubt habe, dass ich nicht gut aussehe“, sagt Selina. Für Gerald Kral, Psychologe für Kinder und Jugendliche, erfüllt diese Art der Berichterstattung viele Aspekte von Mobbing. „Sie wurde als Person definitiv psychisch beschädigt. Wenn das noch vor einem landesweiten Publikum passiert, kann es weitreichende Folgen haben.“ Einmal nimmt Selina ihren Mut zusammen und konfrontiert zwei Österreich-Reporter mit der Tonalität der Berichte: „Ich habe sie gefragt, warum sie so gemeine Sachen über mich schreiben, aber die Journalisten haben sehr offensiv reagiert und meine Sicht der Dinge als übertrieben dargestellt.“ Sie suche absichtlich die Aufmerksamkeit und lasse sich deswegen so oft fotografieren. Selina war in der Tat gemeinsam mit ihren Eltern öfters bei öffentlichen Veranstaltungen. Sie ist nicht schüchtern, kommt mit anderen schnell ins Gespräch; sie ist selbstbewusst und eloquent, vielleicht mehr als manche es von einem 15-jährigen Mädchen erwarten. „Ich habe einfach nicht in das Bild hineingepasst, das Leute bei Kindern von Politikern sehen wollen. Sie konnten mich gut ausnutzen, um meinen Vater zu schädigen. Das hat ja so ausgesehen, als ob er keine Kontrolle über mich hätte.“

Vor dem Tag im September 2008, als Selina die Schule wechselt, waren bereits vielfach journalistisch ethische Grenzen überschritten worden. Nun hatte Österreich das „Thema des Tages“ draufgelegt: eine Falschmeldung über Selinas angeblichen Rauswurf aus einer Privatschule. „Die überzeugte Emo-Anhängerin kann einem wirklich leidtun“, schreibt das Blatt. Dreimal sei sie schon durchgefallen und müsse nun wegen einer Ratte im Spind die Schule verlassen. Am selben Tag dementiert Schuldirektor Jean Bastianelli via Aussendung den Bericht und stellt darin klar, „dass die Schülerin Selina Gusenbauer nicht – wie leider fälschlicherweise behauptet – von der Schule verwiesen wurde. Ferner ist unrichtig, dass sie das vergangene Schuljahr ‚hätte wiederholen müssen’.“ Trotzdem dreht Österreich die Geschichte am nächsten Tag weiter: Süffisant wird über Selinas berufliche Laufbahn spekuliert und in einem Bekleidungsgeschäft, in dem sie ein Ferialpraktikum absolviert hat, nachgefragt, ob eine Stelle für sie frei wäre.

Täter Wolfgang Fellner?

Warum ignorieren erfahrene Journalisten, die auch bei Österreich am Werk sind, fast jedes journalistische Minimum und attackieren eine Minderjährige auf diese Weise? Claus Reitan und Christian Nusser waren damals Chefredakteure der Tageszeitung. „Das war falsch, vor allem menschlich. Ich will mich gar nicht herausreden, ich war dafür – so wie Wolfgang Fellner – mitverantwortlich, ich habe es nicht gestoppt, und das tut mir heute noch leid“, sagt Nusser, der seit Sommer 2012 die Redaktion der Gratiszeitung Heute leitet. Die Geschichte sei unter Druck entstanden, und dieser Druck zu liefern, der gehe bei Österreich von ganz oben aus. Reitan, von 2006 bis 2008 Chefredakteur bei Österreich, verortet den Fehler an ähnlicher Stelle wie sein einstiger Kollege: „Meiner Erinnerung nach hat sie der Wolfgang Fellner gebaut.“ Das Motiv, über Selina Gusenbauer massenwirksam zu berichten, habe nicht in der Sache selbst liegen können. „Also lag es möglicherweise außerhalb der Sache“, sagt Reitan – spielt er hier auf etwas an, was mit Journalismus nichts mehr zu tun hat; auf etwas, das Journalismus gar zur Waffe werden lässt? Auch Wolfgang Fellner gibt sich heute selbstkritisch: „Diese Geschichte zählt zu unseren Fehlern. Wir arbeiten heute viel genauer und passen besser auf. Mittlerweile ist es unser Prinzip, keine Geschichten zu machen, die gegen den Kodex des Presserats verstoßen könnten“, sagt er.

Ich würde die Geschichte heute nicht mehr so machen, weil ich der Meinung bin, man sollte so etwas über eine Minderjährige nicht schreiben, auch wenn sie das Kind eines Prominenten ist.

Kein Einzelfall

Der Fall hatte für seine Zeitung auch ein juristisches Nachspiel: Selinas Eltern schalten einen Anwalt ein und klagen Österreich. Nur wenige Monate später, im Jänner 2009, zieht das Wiener Straflandesgericht laut Medienberichten den Schluss, dass sich die Boulevardzeitung „dubioser Informanten“ bedient und „ohne großartige Recherche grobe Unwahrheiten“ verbreitet hat. Österreich kommt trotzdem glimpflich davon: Die Zeitung muss eine Gegendarstellung abdrucken und 2.000 Euro Entschädigung bezahlen. „Das ist nicht viel, in Amerika müssten Sie in solchen Fällen ein paar Nullen dranhängen“, sagt Medienanwalt Gottfried Korn im Gespräch mit DOSSIER. Korn ist Lehrbeauftragter für Kommunikationsrecht am Institut für Publizistik der Uni Wien, und er vertritt als Rechtsanwalt auch die Konkurrenz, die Mediaprint, allen voran die Kronen Zeitung – die selbst nicht gerade die Hüterin der publizistischen Moral ist, wie Zahlen zu den Verstößen gegen den Ehrenkodex der Österreichischen Presse zeigen.

Quelle: Statistik des Österreichischen Presserates

*Aktiv Zeitung (1), Bezirksblätter (2), Der Österreichische Journalist (1), Der Standard (3), DFZ (1), Die ganze Woche (1), Die Presse (1), Echo (1), Falter (2), Gailtal Journal (1), Kassenarzt (1), Klasse (1), Kleine Zeitung (1), KTZ Bezirksjournal (1), Kurier (2), Meine Südsteirische (1), News (2), OÖN (2), profil (1), Journal Graz (1), SN (1), Vice (1), Weekend (1), Wiener Zeitung (1), Zur Zeit (4)

Abseits von Moral und Anstand sieht das Gesetz bei Verstößen gegen das Persönlichkeitsrecht Höchststrafen von bis zu 50.000 Euro vor. Jedoch entscheiden die Gerichte „in den meisten Fällen nur bis zu zehn oder 20 Prozent der Höchstsummen“, sagt Korn, der bereits mehr als 100 Verfahren gegen die Zeitung Österreich geführt hat. „Für eine gute, knallige Schlagzeile wird eine Entschädigung in Kauf genommen“, sagt er, denn „die Höhe der Entschädigung ist eine Sache der Gerichte und nicht des Gesetzgebers.“ Würde man in allen Fällen die Höchststrafe verhängen, dann käme „ein beträchtlicher Betrag zusammen. Ich denke, das wäre ausreichend, um Verleger abzuschrecken“, sagt Korn.   

Für Selina ist der Sieg vor Gericht kein Triumph. Sie sagt, sie habe sich Vorwürfe gemacht und die Schuld bei sich gesucht: „Als mein Vater nicht mehr Bundeskanzler war, habe ich mir das stark vorgehalten. Ich dachte, ich hätte seine Karriere ruiniert, weil ich es nicht geschafft habe, mit Medien umzugehen.“ Nicht einmal im Gerichtssaal habe sie damals zugeben wollen, wie schlimm das war. „Heute würde ich mir erlauben, ein Mensch zu sein, den man auch verletzen kann.“