Peter M. wohnt seit 66 Jahren in Amstetten. Der 67-jährige Pensionist hat in der Wohnung seines Bruders seinen Nebenwohnsitz gemeldet. Früher hatte er hier seinen Hauptwohnsitz, heute ist er nur noch „regelmäßig“ da, wie er sagt.
Ende Oktober 2017 kann er nicht glauben, was er in einem Brief seiner Stadtgemeinde liest: Wir müssen Sie aus der Wählerevidenz streichen, schreibt ihm Ursula Puchebner (SPÖ), seit 2011 ist sie Bürgermeisterin von Amstetten. Die Beurteilung seines ordentlichen Wohnsitzes sei negativ ausgefallen, Peter M. hätte sein Wahlrecht in Niederösterreich verloren, heißt es – zunächst.
M. geht per E-Mail der Entscheidung auf den Grund. Auf Nachfrage entdeckt er den Fehler: „Es hat leider unser Programm einige Personen falsch verknüpft (...), wahlberechtigt sind und bleiben Sie natürlich und dies wurde im Programm richtig erfasst“, antwortet ihm eine Mitarbeiterin der Gemeinde. Alles nur halb so wild?
Wahlrecht muss begründet werden
In Österreich gibt es mit dem Burgenland und Niederösterreich nur zwei Bundesländer, die Personen wie Peter M. ein Wahlrecht einräumen: Menschen mit Zweitwohnsitz. In Niederösterreich durften sie bisher bei Landtags- und Gemeinderatswahlen automatisch wählen. Wie vor jeder Wahl, müssen aktuelle Wählerverzeichnisse erstellt werden, das ist Aufgabe der einzelnen Gemeinden. Doch diesmal war alles anders.
Die Bürgermeister der 573 niederösterreichischen Gemeinden mussten erstmals entscheiden, ob Zweitwohnsitzer bei der kommenden Landtagswahl ihre Stimme abgeben dürfen – oder eben nicht. Per Gesetz wurde ihnen das vorgeschrieben: Personen mit einem Zweitwohnsitz sollen ihren ordentlichen Wohnsitz und ihr daran geknüpftes Wahlrecht mittels eines sogenannten „Wählerevidenzblattes“ begründen. Doch genau mit dieser Aufgabe hatten nicht nur die betroffenen Zweitwohnsitzer Probleme, auch die Bürgermeister hatten Schwierigkeiten bei der Entscheidung.
In Amstetten kam es dabei zu einem Irrtum, der Peter M. zumindest kurzfristig glauben ließ, sein Wahlrecht verloren zu haben; dieser Fehler sei bei der Erstellung eines Serienbriefes passiert, wie Beatrix Lehner, Stadtamtsdirektorin von Amstetten auf DOSSIER und Standard-Nachfrage schreibt: „Die irrtümliche Information wurde seitens der Mitarbeiterin unverzüglich nach Bekanntwerden korrigiert und die Betroffenen über den richtigen Sachverhalt informiert.“
„Vage“, „feig“ und „nicht sehr wertvoll“
Was die ÖVP-Abgeordneten des Landtages im Sommer 2017 den Ortschefs des Bundeslandes auferlegten, war freundlich gesagt: ambitioniert. Viele Amts- und Referatsleiter niederösterreichischer Gemeinden finden härtere Worte.
„Das ist das dümmste Gesetz, das ich in 34 Dienstjahren gesehen habe“, sagt Gerald Niederleithner, Leiter des Wahlamtes der Stadt Krems an der Donau. „Ein unendlicher Verwaltungsaufwand, vor allem für größere Gemeinden und Städte.“
Die Zeit wäre zu knapp gewesen, das Gesetz zu unbestimmt, sagen dutzende Bürgermeister, Stadtamtsdirektoren und Amtsleiter im Gespräch mit DOSSIER und Standard. Das sei ja alles auch mitten in den Vorbereitungen zur Nationalratswahl passiert, sagt Berndorfs Stadtamtsdirektor Franz Grill. „Es war wirklich nicht lustig.“
Tatsächlich gab Niederösterreichs Landtag den Gemeinden lediglich eine Frist von drei Monaten, von Juli bis Ende September 2017. Solange hatten sie Zeit, um ihre Nebenwohnsitzer zu befragen und über deren Wahlrecht zu entschieden – kurz das Gesetz zu vollziehen.
„Es waren insgesamt fünf Mitarbeiter mit der Umsetzung der Novelle beschäftigt. Sie haben die Arbeit in Form von Überstunden erledigt”, sagt Michael Duscher, Amtsleiter von Klosterneuburg. Wolfgang Strasser, Referatsleiter der Abteilung Wahlen in St. Pölten findet deutlichere Worte: „Man muss schon sagen, dass dieses Gesetz nicht sehr wertvoll ist. Das alles war eine Hauruck-Aktion und sehr anstrengend. Das Gesetz ist so vage und feig formuliert, dass man eigentlich alles darunter verstehen kann”, sagt er.
Peter Anerinhof, Leiter der Abteilung „Staatsbürgerschaft und Wahlen“ des Landes Niederösterreich, kann die Kritik nicht nachvollziehen: „Die Grundlagen und Kriterien für die Beurteilung des ordentlichen Wohnsitzes haben sich durch die Novelle nicht geändert. Die Gemeinden haben das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines ordentlichen Wohnsitzes so zu beurteilen, wie sie es bereits jahrelang nach den klaren Vorgaben der NÖ Landtagswahlordnung tun“, sagt er.
Wahlrecht als Ansichtssache
Was diesmal neu ist, ist die Verantwortung der Bürgermeister. Sie mussten entscheiden, ob das Wahlrecht wegen eines ordentlichen Wohnsitzes gegeben war. DOSSIER und Standard-Recherchen zeigen nicht nur ein Systemversagen auf Grund von Überlastung, wie es sich etwa in Amstetten zugetragen hat. Auf fast jeder Ebene gingen jene, die zu entscheiden hatten, unterschiedlich vor.
Wohin den Brief schicken? Wie oft den Brief schicken? Wie oft nachtelefonieren? Auch ohne Mitwirkung mehr zur betreffenden Person recherchieren? Und überhaupt, wie nur die letzte Entscheidung treffen: wählen oder nicht?
Kontaktierte Gemeinden
In der Stadtgemeinde Retz etwa wurde das Wahlrecht von 350 Personen von insgesamt 850 Nebenwohnsitzern gestrichen – der Großteil fiel aus der Wählerevidenz, weil sie das Wählerevidenzblatt nicht retourniert hatten; genauso beispielsweise in den Gemeinden Annaberg, Berndorf, Krems an der Donau und Semmering.
In Puchenstuben und St. Anton an der Jessnitz war das jedoch kein Ausschlussgrund, auch nicht in St. Pölten. In Niederösterreichs Hauptstadt wurde kein einziger Zweitwohnsitzer aus dem Wählerverzeichnis entfernt. „Wir haben niemanden gestrichen, den wir nicht erreicht haben. Solange keine 100-prozentige Sicherheit oder ein Kontakt zu der Person hergestellt war, haben wir sie in der Evidenz gelassen”, sagt Wolfgang Strasser, zuständiger Referatsleiter.
Wer gehört zur Gemeinde?
Unübersichtlich wurde es vor allem dann, wenn die Gemeinden versuchten, anhand der versandten Fragebögen die Grenze zu ziehen: Reicht es eine Wohnung zu mieten, muss man am Feuerwehrball teilgenommen haben, müssen die Kinder in der Gemeinde zur Schule gehen? In Mitterbach am Erlaufsee im Bezirk Lilienfeld reichte es etwa nicht, ein Büro in der Gemeinde zu haben, in der Stadtgemeinde Retz hingegen schon.
In Niederhollabrunn bittet der Amtsleiter um Verständnis: „Was da an Antworten zurückgekommen ist, war oft sehr unkonkret. Die Entscheidung des Bürgermeisters konnte nicht immer eindeutig und leicht getroffen werden,“ sagt Christian Lachmann. Er sieht die Verantwortung beim Gesetzgeber: „Das ist alles so vage formuliert, da kann man vieles darunter verstehen. Ein konkreter Kriterienkatalog für die Beurteilung wäre wünschenswert gewesen.” Doch nicht nur Gemeindebedienstete waren überfordert, auch unter den betreffenden Zweitwohnsitzer herrschte Unsicherheit.
In Krems an der Donau mit rund 4.300 Nebenwohnsitzern gab es gleich „mehrere hundert Anrufe von verwirrten Bürgern“, sagt Gerald Niederleithner, Leiter des Wahlamtes der Stadt. „Wir haben dazu eine eigene Hotline eingerichtet, die zwei Mitarbeiter vier Wochen betreut haben. Die Leute hatten keine Ahnung, was das Wählerevidenzblatt überhaupt ist. Die Aufklärung ist durch uns erfolgt“, sagt er.
Das Resultat: 18.111 weniger Wahlberechtigte
Was am 22. Juni 2017 im niederösterreichischen Landtag begann, fand am 22. Dezember 2017 sein vorübergehendes Ende. Um 17 Uhr, am Freitagnachmittag kurz vor Weihnachten, präsentierten die Verantwortlichen das Ergebnis im Landhaus: Im Vergleich zu 2013 werden bei der Landtagswahl am 28. Jänner insgesamt 18.111 Personen weniger wahlberechtigt sein.
Wie viele Zweitwohnsitzer darunter sind, weiß hingegen niemand. Eine Erhebung dieser Zahlen hat die Landesregierung den einzelnen Gemeinden nicht verordnet. Daher haben viele keine Statistiken darüber geführt, wie viele Personen und aus welchen Gründen aus der Evidenz gestrichen wurden.
Keine Zahlen bedeutet auch keine Nachvollziehbarkeit. Peter Anerinhof sagt dazu: „Der eigene Wirkungsbereich der Gemeinden erfolgt völlig weisungsfrei. Die Anordnung der Führung von Statistiken wäre daher nicht zulässig gewesen.“
Teaserbild: Bauer Karl, DerHHO, Bwag, AleXXw, GFreihalter, Harke, Dru Bloomfield (Wikimedia Commons: CC BY-SA 3.0); Montage: DOSSIER