Hohe Schulden, gute Freunde

Niederösterreichs Gemeinden sind verschuldet. Dafür ist auch die Gemeindeaufsicht verantwortlich – Das zeigt das Beispiel Guntramsdorf.

Sebastian Fellner, Theresa Haager, Mashiah Sheikh, Peter Sim und Milos Vojinovic

Niederösterreich15.1.2018, aktualisiert: 5.3.2018

Albert S. ist nervös. Er kratzt sich im Gesicht, am Kinn, schaut alle paar Minuten nachdenklich an die Decke des Raums 1713. Er sitzt neben seinem Anwalt im siebzehnten Stock des Wiener Handelsgerichts. Für den Finanzberater geht es um viel.

Verliert er das Gerichtsverfahren könnten Schadensersatzzahlungen in Millionenhöhe fällig werden. Der Vorwurf, der gegen ihn erhoben wird: Er habe als Geschäftsführer der WT 80 Realwerte Gmbh die niederösterreichische Gemeinde Guntramsdorf falsch beraten.

Es ist der 17. Oktober 2017. Die Hoffnung auf eine außergerichtliche Einigung muss Albert S. abschreiben. Ein gemeinsamer Termin der Streitparteien macht hier keinen Sinn, sagt der von der Richterin beigezogene Mediator. Den Fall muss das Gericht klären. Dazu muss man fünf Jahre zurück in die Vergangenheit.

Damals, im Herbst 2012, fuhr Albert S. durch Österreich und klapperte Gemeinden ab, die in finanzieller Not waren. Je verschuldeter eine Gemeinde, je verzweifelter, desto besser. Im Gepäck hatte er ein fast unwiderstehliches Angebot: Schnell und unkompliziert sollte sein Modell Geld in die leeren Gemeindekassen spülen.

Manchen Gemeinden kam das gelegen. Gemeindevertreter aus dem steirischen Zeltweg, aus Hart bei Graz, Oberwart im Burgenland und einer Gemeinde in Salzburg lauschten dem Heilsversprechen.

Grünes Licht von Niederösterreichs Aufsicht

Trotzdem wurde das Modell in den folgenden Monaten immer wieder verhindert. Im Burgenland berichteten Medien darüber, dass gemeindeeigene Grundstücke verkauft werden sollten, die Bevölkerung stieg daraufhin auf die Barrikaden.

In Salzburg und der Steiermark verbot die Landesregierung dessen Umsetzung. Nur die niederösterreichische Gemeinde Guntramsdorf ließ sich auf das Geschäft ein und unterzeichnete schließlich einen Vertrag – was man dort heute bereut.

Guntramsdorf fragte bei der Gemeindeaufsicht, einer Abteilung der Landesregierung, nach. Denn nach Paragraf 90 der niederösterreichischen Gemeindeordnung sind Modelle wie das der WT 80 genehmigungspflichtig, die Landesregierung muss ihnen also zustimmen.

Während die Landesregierung in der Steiermark das Modell per Landtagsbeschluss verbot und die Salzburger es als rechtswidrig einstufte, winkte es die niederösterreichische Landesregierung durch wie 280 andere Darlehens-, Haftungs- und Leasingverfahren von niederösterreichischen Gemeinden, pro Jahr.

Im Oktober 2016 kam scharfe Kritik vom Rechnungshof. Die Hauptschuld sieht er nicht bei der Gemeinde Guntramsdorf: Die Gemeindeaufsicht habe versagt. Zwischen 2010 und 2014 wurde keiner der Anträge abgelehnt. Die Parteizugehörigkeit der jeweiligen Bürgermeister spielte laut Rechnungshof eine entscheidende Rolle.

„Neun Vorteile, drei Nachteile“

Bereits 2010 war die finanzielle Lage der Gemeinde Guntramsdorf desolat. Pro Kopf mussten die knapp 9.000 Guntramsdorfer für Schulden und Haftungen in der Höhe von 4.163 Euro geradestehen – um 43 Prozent mehr als der ohnehin schon stark belastete Durchschnittsniederösterreicher.

Schon im Jahr zuvor versuchte der damalige Bürgermeister deshalb verzweifelt Geld aufzutreiben und verkaufte große Teile des Rathausplatzes.

In dieser verzwickten Situation musste der Besuch von Finanzberater Albert S. am 29. November 2012 wie die Ankunft eines monetären Messias gewirkt haben. Im Gepäck hatte Albert S. eine auf die Gemeinde zugeschnittene Powerpoint-Präsentation, samt Analyse der damaligen finanziellen Situation, der Diagnose und der Lösung.

Einerseits schmeichelte er der Gemeinde: Die „zukünftige Ertragskraft sei gut abgesichert“, die Schulden nur aufgrund umgesetzter Investitionsvorhaben entstanden. Andererseits habe die Gemeinde ein Liquiditätsproblem“ und ein Refinanzierungsrisiko. Das Baurechtsmodell sei die ideale Lösung: Auf der vorletzten Seite finden sich neun Vorteile und nur drei Nachteile. In vier einfachen Schritten sollte die Gemeinde sofort zu Geld kommen.

 

Erstens: Guntramsdorf gründet eine Gesellschaft. Zweitens: Die Gesellschaft gibt eine Anleihe aus, und holt sich 30,6 Millionen Euro von Investoren, verzinst wird die Anleihe mit 3,9 Prozent im Jahr. Drittens: Mit dem eingenommenen Geld kauft die Gesellschaft der Gemeinde Grundstücke ab, bezahlt dafür 28,72 Millionen Euro. 1,88 Millionen Euro fallen an Nebenkosten, zum Beispiel das Beraterhonorar für die WT 80 an. Viertens: In den nächsten 30 Jahren zahlt die Gemeinde 1,74 Millionen Euro im Jahr an das gemeindeeigene Unternehmen, das damit die Anleihe abstottert.

Das Ergebnis für die Gemeinde: Soforteinnahmen von 28,72 Millionen Euro, mit denen laufende Kredite getilgt wurden. Über die gesamte Laufzeit von 30 Jahren wird die Gemeinde für dieses kurze Durchatmen 52,24 Millionen Euro zurückbezahlen.

Auf die Farbe kommt es an

„Ich bin mir nicht sicher, warum so ein Millionengeschäft durchgewunken wird“, sagt Florian Streb, seit 2015 für die Neos im Guntramsdorfer Gemeinderat, „wenn die Gemeindeaufsicht beanstandet, dass bei Müllsäcken 50 Cent zu wenig verrechnet werden und so 300 Euro im Jahr entgehen könnten.“

Das könnte an einem Spezifikum der niederösterreichischen Gemeindeabteilung liegen, die der Rechnungshof in seinem Bericht vom September 2016 ungewöhnlich scharf kritisiert:

Die Zuständigkeitsverteilung zwischen den beiden Regierungsmitgliedern orientierte sich jedoch nicht an sachlichen Gesichtspunkten, sondern folgte einer langjährigen politischen Tradition. Die Zuständigkeit eines Regierungsmitglieds für eine bestimmte Gemeinde war lediglich von der Parteizugehörigkeit des jeweiligen Bürgermeisters bzw. Verbandsobmanns abhängig.

Bürgermeister der ÖVP ließen sich Darlehen vom ÖVP-Landesrat genehmigen, Bürgermeister der SPÖ bei SPÖ-Landesräten.

201,14 Millionen Euro abgesegnet

„In Niederösterreich gibt es ein SPÖ-Regierungsmitglied, das für die Gemeinden mit SPÖ-BürgermeisterIn zuständig ist und ein ÖVP Regierungsmitglied, ist für die ÖVP-Gemeinden zuständig“, schreibt Helga Krismer, Landtagsabgeordnete der niederösterreichischen Grünen und Spitzenkandidatin bei der kommenden Landtagswahl.

In 23 vom Rechnungshof in den Jahren 2010 bis 2014 untersuchten Fällen, wurden so Finanzierungsmaßnahmen von 201,4 Millionen Euro genehmigt. In jedem Fall hätte die Gemeindeaufsicht ein Veto einlegen können   und in vielen Fällen müssen, schreibt der Rechnungshof.

Rund 90 Prozent der erstmalig eingereichten Genehmigungsanträge seien nicht entscheidungsreif aufbereitet worden. Das hinderte die Landesregierung nicht daran, der Einschätzung des jeweils zuständigen, nach Parteizugehörigkeit ausgewählten Regierungsmitglieds „weitestgehend unreflektiert“ zu folgen.

Seit der Kritik des Rechnungshofes hat sich an dieser Praxis offenbar nichts geändert. „Das ist die Realität in der Landesregierung seit Jahrzehnten.“, schreibt Krismer. Für die Gemeinden hat das teilweise dramatischen Folgen.

Wurden den Gemeinden Genehmigungen für deren Anträge aufgrund der Parteifarbe der Bürgermeister erteilt ohne dass diese ausreichend inhaltlich geprüft wurden? Auf diesen Vorwurf geht die niederösterreichische Gemeindeabteilung auf Anfrage vom Standard und DOSSIER nicht ein. Gesetzliche Bestimmungen seien stets eingehalten worden.

Dass der Rechnungshof bei der Bewertung einzelner Rechtsgeschäfte zu anderen Ergebnissen kam als die Gemeindeaufsicht, läge auch daran, dass dieser einen anderen Informationsstand hatte und die Anträge erst aus „mehrjähriger Distanz“ beurteilte. „Die vom Rechnungshof geprüften 23 Fälle, bezogen auf den Zeitraum 2010 bis 2014, stellen nur rund 1,6 Prozent der in diesem Sachbereich bearbeiteten Aktenvorgänge dar.“, heißt es in der Anfragebeantwortung weiter.

Schulden konstant, explodierende Haftungen

Auch die Rechnungshof-Bewertung des Modells der WT 80 fiel desaströs aus: Es verschiebe Liquiditätsengpässe zulasten künftiger Generationen in die Zukunft, die Kosten seien gegenüber Darlehen höher, und es führe zur Intransparenz, da die Schulden der Gemeinde in einer Gesellschaft ausgelagert sind, fassen die Prüfer ihre Kritik zusammen. Aktuelle Zahlen zeigen, dass sich die finanzielle Lage Guntramsdorfs keinesfalls verbessert hat.

Die Gesamtverpflichtungen, also Schulden plus Haftungen, verdoppelten sich von fast 35 Millionen Euro im Jahr 2010 auf 72 Millionen Euro im Jahr 2016. Musste im Jahr 2012 jeder Guntramsdorfer für 3.993 Euro geradestehen, sind es heute, keine fünf Jahre später, bereits 7.814 Euro. Mit dieser prekären finanziellen Lage steht Guntramsdorf in Niederösterreich nicht alleine da.

Schulden auf mehreren Ebenen

Sowohl auf Gemeindeebene als auch auf Landesebene liegt Niederösterreich bei den Schulden im österreichischen Spitzenfeld. Das zeigen die aktuellsten Zahlen der Statistik Austria für das Jahr 2016.

Niederösterreicher haben im Bundesländervergleich mit 4.886 Euro pro Kopf die zweithöchsten Schulden. Nur in Kärnten, vor allem durch das Debakel mit der Hypo Alpe Adria, liegen die Schulden mit 7.434 Euro pro Einwohner noch deutlich darüber.

Auch bei den Schulden auf Gemeindeebene belegt Niederösterreich den unrühmlichen zweiten Platz. Eine durchschnittliche niederösterreichische Gemeinde ist im Jahr 2016 pro Einwohner mit 2.187 Euro verschuldet – mehr als doppelt so hoch wie Gemeinden in Salzburg oder dem Burgenland. Nur in Vorarlberg liegt die durchschnittliche Pro-Kopf-Verschuldung der Gemeinden mit 2.927 Euro noch einmal deutlich höher.

Gerichtliches Nachspiel

Im Fall Guntramsdorf ist sich die niederösterreichische Gemeindeaufsicht bis heute keiner Schuld bewusst, man habe das Modell anders bewertet als der Rechnungshof:

Der Rechnungshof ist zwar bei der nachträglichen Bewertung einzelner Rechtsgeschäfte zu anderen Ergebnissen als die Aufsichtsbehörde gelangt, allerdings hat der Rechnungshof eine nicht im Gesetz definierte mathematische Beurteilungsmethodik angewendet.

Mit der Entscheidung leben müssen heute, und für die nächsten fast drei Jahrzehnte, die Guntramsdorfer. Robert Weber (SPÖ), heute Bürgermeister der Gemeinde, sagt auf Anfrage von DOSSIER: „Das Baurechtsmodell der WT 80 würden wir aus heutiger Sicht keinesfalls mehr anwenden.“

Albert S. und sein Geschäftspartner Friedrich S. reagierten auf Anfragen von DOSSIER nicht. Zu ihrem Modell und der Beratung in Guntramsdorf Stellung nehmen müssen sie jedoch am 5. Mai* dieses Jahres trotzdem. Vor dem Wiener Handelsgericht wird dann die Frage geklärt, ob die WT 80 Realwerte GmbH Guntramsdorf falsch beraten hat.

*Update am 05.03.2018: Der nächste Verhandlungstag am Wiener Handelsgericht ist am 13. März dieses Jahres, nicht wie hier irrtümlich behauptet am 5. Mai. 

Teaserbild: Karl Gruber (Wikimedia Commons: CC BY-SA 3.0); Montage: DOSSIER