Eigentlich gehört das nicht zu Ferdinand Breitschopfs Aufgaben. Seit zehn Jahren ist er Fachinspektor im Wiener Stadtschulrat und für die Kontrolle von Musikschulen und Konservatorien verantwortlich.
Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Akten: Zeugnisse, Klassenbücher, Prüfungsprotokolle, Namenslisten von Studierenden. Immer wieder stößt er bei seiner Arbeit auf Widersprüche, für die er kraft seines Amtes nicht zuständig ist: mögliche Missbrauchsfälle von Studentenvisa.
Nicht-EU-Bürger benötigen für die Dauer ihres Studiums in Österreich ein Visum. Für diesen Aufenthaltstitel müssen sie einen Studienplatz an einer staatlich anerkannten Hochschule vorweisen. Im Fall von privaten Konservatorien ist der Weg zum Visum im Gegensatz zu Musikuniversitäten einfach.
Eine bestandene Aufnahmeprüfung reicht, um dieses zu erhalten. Häufig werden die Prüfungen im Ausland abgehalten. Für Fachinspektor Breitschopf liegen sie außerhalb seiner Reichweite, wie er sagt.
Genommen werde zudem so gut wie jeder, sogar die „Talentfreien“, sagt ein Lehrer, der selbst bei Aufnahmeprüfungen dabei war.
Visaservice für 3.000 Euro
Es ist ein missbrauchsanfälliges System, von dem zwei Seiten profitieren: Studierende, weil sie ein Visum bekommen, und die Konservatorien, weil sie Studiengebühren erhalten – ihre wichtigste Einnahmequelle.
Es hat sich ein eigener Geschäftszweig gebildet, der „Overseas Student Market“. Visa-Agenturen und Privatschulen arbeiten dabei eng zusammen, sogenannte Agents dienen als Kontaktpersonen, die Studierende aus dem Ausland vermitteln und bei der Beschaffung der Aufenthaltstitel helfen – rund 3.000 Euro kostet ihr Service.
Am Prayner-Konservatorium, dem größten privaten Musikkonservatorium in Wien, sind neun von zehn Studierenden aus dem Ausland. Am Vienna-Konservatorium, dem zweitgrößten Wiener Konservatorium, sind es rund zwei Drittel der Studierenden. Beide Musikschulen werden von dem Ehepaar Josef und Eva Maria Schmid geleitet, gemeinsam bilden sie rund 1.000 Studierende aus.
Fehlendes Interesse an Musik
Im Gespräch mit DOSSIER schildern Studierende, Lehrende, ehemalige wie aktive Mitarbeiter von Wiener Konservatorien unabhängig voneinander ihre Erfahrungen mit anderen Studenten. Diese kämen vorwiegend aus China und dem Iran, ihre Motivation für die musikalische Ausbildung in Wien wird von ihnen angezweifelt.
DOSSIER musste den Gesprächspartnern Anonymität zusichern. Zum Teil unterrichten die Lehrenden noch an den Schulen und wollen ihre Jobs nicht riskieren; die Studierenden befürchten rechtliche Konsequenzen.
Manche würden ihr Instrument nicht beherrschen, andere nicht Noten lesen können, sagt eine Lehrerin. Ein anderer Lehrer bemängelt das fehlende Interesse an der Musik. Es sei schwierig, diesen Studierenden den Lehrplan zu vermitteln.
Ein Dritter sagt offen, dass für ihn nicht nur musikalisches Talent und Können zählen: Ob er einen Prüfling bestehen lasse, werde für ihn zu einer „rein menschlichen Frage“ – damit dieser nicht zurück nach China müsse.
Auch Studierende berichten, dass manche ihrer Kolleginnen und Kollegen auffällig ungeübt seien. Manche würden erst seit zwei oder drei Jahre singen oder ihr Instrument spielen. „Ich denke, dass sie hauptsächlich hier sind, um in Österreich zu sein“, sagt eine Studentin.
Falsche Angaben
Zwischen zehn und zwanzig Fälle von möglichen Visumsmissbrauch entdeckt Fachinspektor Breitschopf im Jahr. Einmal fiel Breitschopf etwa auf, dass ein Student seit drei Jahren in der gleichen Schulstufe verharrt war. Oder er stieß auf Studierende, die im Klassenbuch aufgelistet, aber von der Schule nicht gemeldet worden waren.
Immer wieder hat er es mit falschen Angaben zu tun: Studierende hätten behauptet, bei einem gewissen Lehrer zu studieren. Bei Rückfragen habe sich aber herausgestellt, dass dieser noch nie etwas von ihnen gehört habe, sagt Breitschopf. Der Fachinspektor meldet Fälle wie diese an die zuständige Behörde, das Innenministerium.
Die Ermittlungen gegen beide Konservatorien werden im März 2018 erstmals durch parlamentarische Anfragen öffentlich bekannt. David Stögmüller, Bundesrat der Grünen, brachte die Anfragen an Innen- und Justizminister ein, nachdem DOSSIER Ende 2017 über einen anderen Fall von möglichem Missbrauch von Studentenvisa am Richard-Wagner-Konservatorium berichtet hatte.
Am 10. August 2016 langte bei der Wiener Staatsanwaltschaft ein „kriminalpolizeilicher Anlassbericht“ ein, „demzufolge unbekannte Täter verdächtig seien, das Verbrechen der Schlepperei begangen zu haben“, schreibt Justizminister Josef Moser (ÖVP) in seiner Anfragebeantwortung. Im Fokus der Ermittlungen stehen einmal mehr das Vienna- und das Prayner-Konservatorium.
Laut Anzeige sollen die Musikinstitute die illegale Einreise von iranischen Staatsbürgern nach Österreich gefördert haben, „indem sie diesen für ein nicht unerhebliches Entgelt einen Aufenthaltstitel für Studierende beschaffen, ohne dass die iranischen Staatsbürger tatsächlich in Österreich studieren“, heißt es in der Beantwortung.
Zur Aufnahme von Wien nach Teheran
Im Iran bietet das Prayner-Konservatorium Aufnahmeprüfungen vor Ort an: In den Räumen des Österreichischen Kulturforums in Teheran, einer untergeordneten Einrichtung des österreichischen Außenministeriums, können iranische Bewerber vorspielen und vorsingen. Auch Schulbetreiber Josef Schmid reist dazu oftmals nach Teheran und sitzt in der Jury.
Wie viele Bewerbungen in Teheran einlangen und wie viele Studierende aufgenommen werden, will Schmid nicht verraten: „Zahlen gebe ich keine bekannt. Es gibt natürlich Konkurrenz, und die machen das auch. Das ist der Grund, warum ich das nicht freigebe.“
Am 12. August 2016, zwei Tage nachdem der Anlassbericht eingelangt ist, bricht die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren „mangels weiterer Ermittlungsansätze“ ab. „Erkenntnisse, ob die genannten Musikinstitute an diesen Vorgängen aktiv beteiligt sind, liegen nicht vor“, heißt es in der Anfragebeantwortung des Justizministers.
Viele Fragen, keine Antworten
Erstaunlich daran: Die Betreiber der betroffenen Musikinstitute sagen, sie hätten erstmals im März 2018 von den Ermittlungen erfahren – infolge der parlamentarischen Anfragen des Bundesrats Stögmüller. „Weder die Staatsanwaltschaft noch das Landes- oder das Bundeskriminalamt haben sich je bei mir gemeldet. Ich weiß überhaupt nicht, worum es geht“, sagt Schulleiter Josef Schmid zu DOSSIER.
Auch Ferdinand Breitschopf, zuständiger Fachinspektor und Initiator der Anzeige, sagt, dass ihn keine Beamten des Landes- oder Bundeskriminalamts kontaktiert hätten – und das obwohl beide Stellen in die Ermittlungen involviert waren.
Auf Nachfrage bei beiden Polizeistellen, wie lange die Ermittlungen gedauert haben und warum zentrale Personen nicht befragt wurden, schreibt Silvia Kahn, Sprecherin des Bundeskriminalamts: „Die Polizei gibt dazu keine Auskünfte.“
Harald Sörös, Pressesprecher der Landespolizei Wien, schreibt: „Die Zuständigkeit ist nicht mehr gegeben“ – und verweist auf die Wiener Staatsanwaltschaft. Die Ermittlungen hätten bereits einige Zeit gedauert und zu keinen weiterführenden Erkenntnissen geführt, sagt Nina Bussek, Sprecherin der Staatsanwaltschaft Wien. Weitere Informationen zum Ermittlungsverfahren könnten nur die ermittelnden Behörden selbst geben, sagt sie.
Die Schulleiter weisen die Vorwürfe kategorisch zurück. „Es gibt keinen Missbrauch, den gibt es nicht. Es wird die Anwesenheit der Studierenden kontrolliert. Es werden die Leistungen ständig kontrolliert. Und wenn jemand die notwendigen Leistungen nicht erbringt, dann kann er das Studium nicht fortsetzen“, sagt Josef Schmid.
Auf Ferdinand Breitschopfs Schreibtisch werden sich einstweilen weiterhin die Akten stapeln, und wenn er bei seiner Arbeit auf Widersprüche stößt, wird er sie weiterhin melden. Aber eigentlich, sagt er, „kann ich nicht Dinge überprüfen, für die ich nicht zuständig bin.“