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Update 16.01.2020
Am 7.1.2020 entschied das Landesverwaltungsgericht Wien, dass die Polizei bei der Festnahme von Rolf K. rechtswidrig handelte und zudem die Amtshandlung tatsachenwidrig protokollierte. Bereits zuvor hatte das Gericht weitere Amtshandlungen auf der Klimademo als rechtswidrig beurteilt. Die strafrechtlichen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen die Beamten sind noch im Gange – ermittelt wird unter anderem wegen des Verdachts der Körperverletzung und des Amtsmissbrauchs. Dienstrechtliche oder disziplinäre Konsequenzen gibt es bisher nicht.
Zwei Faustschläge sollen es gewesen sein. Ein Schlag »geringer Intensität«, ein Schlag »höherer Intensität«, beide »im Bereich der rechten Niere verabreicht«. So steht es im Amtsvermerk zur Festnahme von Rolf K. Darunter stehen die Namen von vier Polizisten. Gemeinsam mit 211 anderen Beamten lösen sie am 31. Mai 2019 eine unangemeldete Demonstration auf. Klimaschützer haben sich auf eine vielbefahrene Straße in Wien gesetzt und blockieren den Verkehr. »Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei«, warnt sie ein Beamter um 14.50 Uhr per Lautsprecherdurchsage. »Sie haben zwei Minuten Zeit, um den Versammlungsort zu verlassen.«
Rolf K. bleibt sitzen, kurz darauf liegt er bäuchlings auf dem Asphalt. Auf seinen Beinen kniet der 31-jährige Polizist Philipp D. und schlägt zu: Einmal, zweimal, dreimal … mindestens siebenmal trifft er den 50-Jährigen mit der Faust in die Nierengegend. So ist es auf dem Video zu sehen, das kurz darauf im Netz die Runde macht: »Schockvideo«, »Polizeigewalt in Wien« titeln die Zeitungen. Der Amtsvermerk sei »nicht ganz korrekt« gewesen, räumt einer der Polizisten ein, als man ihm das Video später vorspielt. Er habe sich geirrt. Und die anderen drei? Die haben sich anscheinend genau gleich geirrt.
Nicht nur dieser Fall von Polizeigewalt wird nach der Klimademo angezeigt. Einen anderen Mann legen die Polizisten mit dem Kopf unter einen Polizeibus. Als dieser plötzlich losfährt, ziehen sie ihn im letzten Moment unter dem Fahrzeug hervor. Es sind die jüngsten Einträge in einer langen Liste von Fällen: Misshandlungsvorwürfe, illegale Informationsweitergabe, Amtsmissbrauch – immer wieder kommen Polizisten mit dem Gesetz in Konflikt. Wird das öffentlich, ist die Aufregung groß, schließlich hängt der Rechtsstaat von der Sauberkeit der Behördenarbeit ab. Die Bürger vertrauen der Polizei das Gewaltmonopol an. Wenn sich Gesetzeshüter selbst nicht an die Regeln halten, wenn manche sogar die Seite wechseln und korrupt werden, ist das besonders heikel. Solche Fälle aufzuklären ist schwierig, ermittelt wird in den eigenen Reihen. Oft steht Aussage gegen Aussage, dazu kommt der Zusammenhalt der Truppe, der berüchtigte Korpsgeist. Besonders deutlich wird das bei Misshandlungsvorwürfen. In strittigen Fällen, die DOSSIER aufgearbeitet hat, zeigt sich ein Muster: Polizisten sagen dasselbe aus und entlasten sich gegenseitig – nur selten lässt sich das wie im Fall der Klimademo eindeutig durch ein Video widerlegen.
Wenn die Polizei gegen sich selbst ermittelt, dann ist das Ergebnis nicht wirklich objektiv. Das ist überall so, Österreich ist da keine Ausnahme. Das liegt in der Natur der Sache.
Menschenrechtsjurist Manfred Nowak
Polizeieinheiten auf der ganzen Welt haben Abteilungen, um Vorwürfe gegen Polizisten aufzuklären, in Film und Fernsehen oft »die Interne« genannt. Auch Österreichs Polizei verfügt über Einheiten zur Verfolgung von Amtsdelikten – das Bundesamt für Korruptionsprävention und -bekämpfung (BAK), das dem Innenministerium unterstellt ist, und das Referat für besondere Ermittlungen (RBE) der Landespolizeidirektion Wien. Das Problem liegt auf der Hand: Polizisten ermitteln gegen Polizisten. Von Experten kommt seit Jahren Kritik: Man zweifle daran, ob das BAK oder die Landespolizeikommandos gegen die eigenen Kollegen unabhängig und unparteiisch ermitteln, so das zuständige Komitee des Europarates.
Ob das System funktioniert, hängt davon ab, wen man fragt: Offiziell sind die Verantwortlichen bis hinauf zu Innenminister Wolfgang Peschorn zufrieden. Anonym erzählen Polizisten etwas anderes: Sie berichten von halbherzigen Ermittlungen, untätigen Staatsanwälten und einem Klima der Angst, in dem es nicht von Vorteil sei, Missstände aufzuzeigen. »Wenn du intern mit Misshandlungsvorwürfen oder mit Korruptionsvorwürfen kommst, dann frisst du Dreck, dann bist du lebendig begraben«, sagt ein hoher Beamter. »Du bekommst eine schlechte Diensteinteilung und so weiter. Selbst wenn du die Dienststelle wechselt, dann fragen die nach: ›Na, wie war der?‹ Und dann sagt man: ›Na ja, mit dem war es schwierig.‹ Und jeder weiß, was gemeint ist.«
Tausende haltlose Vorwürfe
In Wien ist für Fälle wie jenen bei der Klimademo das Referat für besondere Ermittlungen zuständig: 251 Misshandlungsvorwürfe untersuchten die drei Ermittlerinnen und sechs Ermittler 2018. Im Bundesländervergleich ist Wien Spitzenreiter: 35 Vorwürfe kamen auf 1.000 Beamte, fast sechsmal so viele wie im zweitplatzierten Tirol. Zusätzlich wurde das RBE im Jahr 2018 bei 118 Amtsdelikten tätig. Fälle, die zuletzt medial bekannt wurden: Eine Polizeibedienstete wurde wegen Amtsmissbrauchs in 4.993 Fällen zu drei Jahren Haft verurteilt. Sie hatte Gebühren für Strafregisterbescheinigungen in die eigene Tasche gesteckt. Ein Wiener Polizeibeamter wiederum soll Polizeidaten abgefragt und um 35.000 Euro verkauft haben – die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ermittelt. Wie oft sich der Verdacht gegen die Beamten bestätigt, ist unbekannt: Statistiken werden nicht geführt – »weil die Polizei nicht anklagt oder verurteilt«, so die Landespolizeidirektion Wien.
Zu Polizeigewalt gibt es Zahlen: Alle Ermittlungen des RBE wie auch jene der acht anderen Landespolizeidirektionen im Jahr 2018 führten bisher ins Leere. 328 Fälle hat die Polizei österreichweit untersucht und an die Staatsanwaltschaft berichtet. 297 Ermittlungen wurden eingestellt oder abgebrochen, 31 Fälle sind noch offen (Stand 16. Oktober 2019). Wenn es nach der mehrjährigen Statistik geht, wird die Staatsanwaltschaft auch fast alle davon einstellen. Das RBE und die Landespolizeidirektionen nehmen eine Schlüsselrolle ein: Ihre Ermittlungen sind Grundlage für jede Entscheidung, 48 Stunden haben sie dafür Zeit – dann muss an die Staatsanwaltschaft berichtet werden. Gibt es kein Video oder Geschädigte, die sich juristisch zur Wehr setzen, erfährt die Öffentlichkeit selten von den Fällen – wie etwa von den Ereignissen der Nacht des 16. Februar 2016, auf die DOSSIER bei der Recherche stößt: Damals erwischt eine Funkstreife einen 14-jährigen bulgarischen Buben in Wien beim Betteln und nimmt ihn mit. Der Bub gab später an, die Polizisten hätten ihn spätabends am Stadtrand im Wald bei eisigen Temperaturen ausgesetzt. Die Polizei wird erneut alarmiert, der Bub beschreibt die Beamten, offiziell einvernommen wird er nie. Das RBE ermittelt, doch der Bub sei nicht auffindbar gewesen. Dass er nur Tage später wegen einer anderen Amtshandlung auf einer Wiener Polizeiinspektion ist, erfährt das RBE zu spät. Die Polizei zeige wenig Interesse daran, Opfer oder Belastungszeugen zu finden, kritisiert ein Beamter mit Einblick in den Fall. Im Bericht an die Staatsanwaltschaft finden sich die übereinstimmenden Aussagen der Beamten. Sie hätten den Buben auf seinen Wunsch zu seinen Eltern gebracht. Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen ein. Wieder nichts dran gewesen an den Vorwürfen.
Blaulicht gegen Blaulicht
»Wenn die Polizei gegen sich selbst ermittelt, dann ist das Ergebnis nicht wirklich objektiv«, sagt Menschenrechtsjurist Manfred Nowak. »Das ist überall so, Österreich ist da keine Ausnahme.« International gebe es jedoch positive Vorbilder: etwa Großbritannien, wo das Independent Office for Police Conduct als unabhängige Behörde schwere Vergehen bei der Polizei untersucht und transparent darüber berichtet. Oder Nordirland, wo es einen Polizeiombudsmann gibt. In Österreich sieht
Nowak Handlungsbedarf: »Wenn man will, dass Misshandlungsvorwürfe aufgeklärt werden, muss man unabhängige Ermittlungs- und Anklageinstanzen schaffen, die die gleichen polizeilichen Befugnisse haben, aber nicht der Polizei oder dem Innenministerium unterstellt sind.« Das sei auch im Sinne der Polizei: »Ich bin der Meinung, dass der Großteil der Polizisten nicht misshandelt«, sagt Nowak.
Bislang hatten die Fälle praktisch nie Konsequenzen – das zeigt die größte Studie zu Polizeigewalt in Österreich: Im Auftrag des Justizministeriums untersuchte das Austrian Center for Law Enforcement Sciences 1.518 Vorwürfe, die zwischen 2012 und 2015 bei den Staatsanwaltschaften Wien und Salzburg eingegangen waren. Nur in sieben Fällen, 0,5 Prozent, kam es zu einer Anklage. Verurteilung gab es keine einzige. Die aktuelle Bilanz: 964 Vorwürfe im Zeitraum 1. Jänner 2017 bis 15. Oktober 2019, sechs disziplinäre Maßnahmen, eine Verurteilung. Die
Exekutive sieht sich dadurch bestätigt. »Ein Vorwurf muss ja nicht stimmen«, sagt Innenminister Wolfgang Peschorn im DOSSIER-Interview. Dennoch nehme er das Thema ernst: »Ich habe den Auftrag gegeben, dass wir die Frage des Umgangs mit disziplinärem Verhalten österreichweit evaluieren.« Herausgekommen ist dabei wenig: »Bei der durchgeführten Gesamtschau (...) wurde kein unmittelbarer landespolizeidirektionenübergreifender Handlungsbedarf erkannt«, sagt ein Sprecher des Innenministeriums auf DOSSIER-Anfrage. Es sei »festzuhalten, dass sich nahezu alle Vorwürfe als haltlos herausstellen«. Kurzum: Hier gibt es nichts zu sehen, bitte weitergehen.
Sieben Knochenbrüche, keiner schuld
Unter den »haltlosen« Vorwürfen verstecken sich Fälle wie jener von Mitat Ü. Im November 2012 wird er von der Polizei festgenommen, er war wohl betrunken in seinem Auto gesessen, hatte sich geweigert, sich einem Alkoholtest zu unterziehen und die Beamten provoziert. »Daher wurde er unter Anwendung von Körperkraft zu Boden gebracht und es wurden ihm Hand- und Fußfesseln angelegt. In Folge gingen die Aussagen der Exekutivbediensteten und des Betroffenen auseinander«, schreibt die Volksanwaltschaft, die den Fall im aktuellen Jahresbericht 2018 erneut thematisiert. Denn am nächsten Tag verlässt Ü. die Polizeistation schwerverletzt: Bruch des linken Oberarms, Verrenkungsbruch des linken Mittelfußes, Serienrippenbrüche und eine Schultergelenksluxation. Die Nacht musste Ü. mit sieben Knochenbrüchen in der Zelle verbringen, eine von der Polizei zugezogene Amtsärztin hatte »keine gröberen Verletzungen« feststellen können. Die Rettung muss sich Mitat Ü. am nächsten Tag selbst rufen.
Der Fall erregte schon 2013 Aufsehen: Heute und Falter berichteten ausführlich, die Antikorruptionsbehörde, das BAK, ermittelte und hielt in ihrem Bericht fest, dass es auffällig sei, dass die Stellungnahmen der Exekutivbediensteten in allen Punkten übereinstimmten und die jeweiligen Abläufe durchgehend und lückenlos dokumentiert gewesen seien. Wenn eine Person eine Polizeistation unverletzt betritt und schwerverletzt wieder verlässt, trifft den Staat die Beweislast. Das entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schon 1995 im ähnlich gelagerten Fall »Ribitsch gegen Österreich«. Erstritten hat das Urteil der Wiener Rechtsanwalt Herbert Pochieser – es habe jedoch zu keiner wirklichen Einsicht und Verbesserung der Situation geführt, sagt er zu DOSSIER. »Offenbar glaubt man, weil sie den Amtseid geleistet haben, können Beamte nicht lügen«, so Pochieser.
So auch im Fall Mitat Ü.: Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen zehn Beamte, darunter auch die Amtsärztin, wegen schwerer Körperverletzung, Amtsmissbrauchs und Unterlassung der Hilfeleistung. Am 22. Juli 2014 stellt sie die Ermittlungen ein. »Lediglich aufgrund der Art und Schwere der Verletzungen des Mitat Ü. lässt sich nicht ableiten, dass die bei seiner Festnahme angewendete Körperkraft unverhältnismäßig war«, so die Staatsanwältin. Letztlich wogen die übereinstimmenden Aussagen der Polizisten schwerer als jene des Opfers. Das Landesverwaltungsgericht Wien kommt zwar in einem parallelen Verfahren zu dem Schluss, dass die Handlungen der Exekutivbediensteten wegen überschießender Gewalt unverhältnismäßig waren. Die Disziplinarkommission der Polizei zieht aber nur die Entscheidung der Staatsanwaltschaft zur Beurteilung heran und nicht die belastenden Fakten des Landesverwaltungsgerichts.
Ein ähnlicher Fall ereignet sich im Dezember 2014: Sechs Polizisten betreten wegen einer Ruhestörung in der Nacht die Wohnung eines 23-jährigen Wieners, danach ist sein Oberarm gebrochen. Diesmal kommt der Fall vor Gericht: Der Mann habe sie durch »aggressives Ein- und Ausatmen« bedroht, sagen die Polizisten. Ihre Version passt zwar laut Sachverständigem nicht zu den Verletzungen des Mannes – trotzdem glaubt ihnen der Richter: Sollte er dem 23-Jährigen glauben, »müsste ich allen anderen Beamten eine Falschaussage unterstellen, was ich nicht kann und nicht machen werde«, zitiert die APA den Richter. »Im Fall Ribitsch gegen Österreich haben wir auch nur obsiegt, weil ein Journalist sofort Fotos von den Verletzungen gemacht hat«, sagt Anwalt Pochieser. Fotos oder Videos sind bei Fällen von Polizeigewalt entscheidend, sie entstehen meist zufällig. Bodycams, mit denen Amtshandlungen von Polizisten gefilmt werden, werden bisher nur getestet – 26 Stück in Wien, 140 österreichweit. Diese können von den Beamten aktiviert und deaktiviert werden, »dauerhaftes Mitfilmen« ist laut Polizei nicht geplant.
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BAK-Direktor: »Eine schräge Optik«
Dass sich wie im Fall von Mitat Ü. die Korruptionsjäger des BAK bei Misshandlungsvorwürfen einschalten, ist selten. Das BAK ist für Amtsdelikte wie Amtsmissbrauch oder Bestechung zuständig – für korrupte Polizisten oder Minister. Dazu kommt die Korruption im privaten Bereich, »die erlebt gerade einen Hype«, sagt BAK-Direktor Andreas Wieselthaler. Rund 130 Mitarbeiter stehen dem 54-jährigen Chefpolizisten und Juristen zur Verfügung, davon 60 bis 70 Ermittler. Aktuell ist Wieselthalers Truppe auf der Suche nach einer undichten Stelle: Es geht um eine Hausdurchsuchung bei dem Rechtsextremen Martin Sellner im März 2019 – um die Frage, ob er gewarnt wurde. Weil Sellner 41 Minuten bevor die Polizei vor seiner Tür stand brisante E-Mails gelöscht hatte, alarmierte die Staatsanwaltschaft Wien das BAK. Illegale Informationsweitergabe ist für Wieselthaler nichts Neues: »Wenn ich heute die Zeitung aufschlage, finde ich drei Amtsgeheimnisverletzungen.« Wie DOSSIER berichtete, funktioniert der Draht zur Kronen Zeitung besonders gut: 2015 fand sich ein Foto aus dem Inneren jenes Lkws, in dem 71 Flüchtlinge in der Nähe von Parndorf gestorben waren, am nächsten Tag in der Krone. Ein Polizist hat das Foto gemacht, so viel ist mittlerweile klar. Wer es an die Zeitung gespielt hatte, konnte nicht ermittelt werden. »Wenn ich alles im Innenministerium anzeige, wo ich glaube, dass es eine strafbare Handlung gibt, dann würde ich den ganzen Tag nur schreiben«, sagt Wieselthaler. »Das ist keine Kapitulation, sondern eine Abwägung. Das würde im Krieg aller gegen alle enden.« Für Polizeigewalt fühlt er sich nicht zuständig, das räumt der BAK-Direktor offen ein: »Das sind nicht unsere Standardermittlungen.« Polizeigewalt gehört zur erweiterten Zuständigkeit der Behörde. Das BAK kann, muss aber nicht ermitteln. 406 Fälle zählte die Behörde 2018 unter der erweiterten Zuständigkeit, nur in sechs Fällen wurde sie tätig. »Vom BAK bekommt man ein Standardschreiben: Danke für die Information, der Fall ist im jeweiligen Bereich zu bearbeiten«, sagt ein Wiener Polizist zu DOSSIER. »Und dann ermitteln wieder Kollegen gegen Kollegen.«
Unter Beobachtung
Das war nicht immer so. Der Vorläufer des BAK, das Büro für Interne Angelegenheiten (BIA), stammt aus einer Zeit, als der Kampf gegen Polizeigewalt höheren Stellenwert hatte. Das BIA wird, wie das RBE in Wien, 2001 gegründet. Die Exekutive ist damals im Umbruch: Mit Innenminister Ernst Strasser (ÖVP) hat das Ressort nach 30 Jahren die Farbe gewechselt, Schwarz statt Rot, eine große Polizeireform steht an. Kurz zuvor schockiert der Tod eines Mannes in Polizeigewahrsam die Republik. Am 1. Mai 1999 erstickt Marcus Omofuma, ein Asylwerber aus Nigeria, während der Abschiebung im Flugzeug nach Bulgarien. Drei Polizisten hatten ihm den Mund verklebt und die Sauerstoffzufuhr abgeschnitten. Sie werden wegen fahrlässiger Tötung verurteilt, erhalten bedingte Freiheitsstrafen im Ausmaß von acht Monaten und können weiter als Polizisten arbeiten.
Die Polizei bleibt vorübergehend unter Beobachtung: Im Juni 1999 wird der Menschenrechtsbeirat im Innenministerium gegründet. »Wo immer Befehls- und Zwangsgewalt ausgeübt wurde, durften wir dabei sein«, sagt Manfred Nowak, der eine der sechs Besuchskommissionen geleitet hat. 2001 nimmt das BIA unter der Leitung des ehemaligen Jagdkommando-Soldaten Martin Kreutner die Ermittlungen auf. Österreich hat erstmals eine eigene Antikorruptionsbehörde – im Innenministerium angesiedelt, aber außerhalb der Polizeistrukturen. »Wir haben mit sechs Mitarbeitern begonnen«, sagt Kreutner. Die Arbeit des BIA trägt dennoch bald Früchte. Kreutners spektakulärster Fall: die Sauna-Affäre, durch die die Wiener Polizei ab 2006 unter Druck gerät. Zwei hohe Beamte, Roland Horngacher, Wiener Landespolizeikommandant, und Ernst Geiger, Chef der Kriminalpolizei, beschuldigen sich gegenseitig des Amtsmissbrauchs. Einer der Schauplätze: der namensgebende FKK-Saunaclub Goldentime. Für das BIA wird der Fall zur Nagelprobe: »Wenn wir die Ermittlungen breit im Haus auf und ab hätten gehen lassen, hätten wir es gleich lassen können«, so Kreutner. Unter strenger Verschwiegenheit führt das BIA Hausdurchsuchungen durch – auch in der Wiener Polizeidirektion – und findet belastendes Material. Horngacher wird wegen Missbrauchs der Amtsgewalt und Verletzung des Amtsgeheimnisses schuldig gesprochen.
Telefonüberwachung bei Foltervorwürfen
Das BIA sieht sich auch für Polizeigewalt zuständig: »Dass der Fall Bakari J. überhaupt so gut untersucht wurde, ist nur dem BIA zu verdanken«, sagt Nowak. Auf Hinweis Kreutners untersucht er den Fall eines Mannes aus Gambia: Er gibt an, von Polizisten im Wiener Prater gefoltert worden zu sein. Die Beamten sprechen sich ab, decken sich gegenseitig. »Die Geschichte, die sie uns aufgetischt haben, hat aber nicht mit der Standortbestimmung der Handys übereingestimmt«, so Nowak. Die Polizisten werden zu mehrmonatigen bedingten Haftstrafen verurteilt und später aus dem Dienst entlassen. Der Spitze des Innenministeriums hätten die Aufdeckungen weniger imponiert, ist sich Nowak sicher. »Eine Antikorruptionsbehörde bekommt dann Probleme, wenn sie erfolgreich ist«, sagt Kreutner. Jedenfalls gibt es wenige Jahre später weder das BIA noch den Menschenrechtsbeirat in der damaligen Form. Ab Juli 2012 berichten die sechs Besuchskommissionen nicht mehr dem Innenministerium, sondern der Volksanwaltschaft. »Wir waren nicht mehr nur für die Polizei zuständig, sondern auch für die Justiz, das Militär, Altersheime und Kinder- und Jugendheime. Der Menschenrechtsbeirat im Innenministerium war effizienter als die Volksanwaltschaft«, so Nowak. »Es hat eine Phase der zwischenzeitigen Kritikfähigkeit gegeben, aber die scheint wiederverflogen zu sein«, sagt Anwalt Pochieser.
2010 wird aus dem BIA das BAK, die Behörde bekommt einen neuen Leiter: Er habe viele Mitarbeiter gehen lassen müssen, sie hätten nicht das nötige Sitzfleisch gehabt, sagt Wieselthaler. Die Ex-Ermittler sehen das anders. Sie unterstellen dem heutigen BAK mangelnde Schlagkraft bei internen Ermittlungen. Der Fokus liegt nicht mehr auf der Polizei, das sagt auch Wieselthaler: »Das BIA hat das ermittelt, wo wir jetzt nicht einmal ein Viertel der Ermittlungsressourcen investieren. Interne Ermittlungen, sonst nix.« Er will früher ansetzen: »Ermitteln ist mir zu spät. Prävention ist das Stichwort.« Dabei geht das BAK neue Wege: »fit 4 compliance – Finde deine Werte, Polizei-Edition« heißt das erste Brettspiel der Korruptionsjäger. Man spielt Dilemmata aus dem Polizeidienst durch: Ein Freund findet einen 500-Euro-Schein und gibt ihn nicht beim Fundamt ab. Eine Bekannte arbeitet als Geheimprostituierte. Was tun? Fragen, wie man sich verhalten soll, wenn Kollegen prügeln oder sich mit Falschaussagen decken, kommen in den 106 Szenarien nicht vor. Dazu gibt es vielleicht bald vor Gericht neue Hinweise: Im Fall der Klimademo ermittelt die Staatsanwaltschaft Wien – wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt gegen den Demonstranten und wegen Körperverletzung unter Ausnützung einer Amtsstellung gegen den schlagenden Beamten. Er wurde nach dem Vorfall in den Innendienst versetzt. Ob er nach wie vor dort ist oder wieder normalen Dienst versieht, darüber verweigert die Polizei gegenüber DOSSIER jede Auskunft. Das Verfahren ist offen.