Zuckerschock

Medizinisch lässt sich Diabetes gut behandeln. Trotzdem bekommen nicht alle Patient·innen die Behandlung, die sie brauchen. Das ist Teil eines größeren Problems – denn die Versorgung von Diabetiker·innen legt grundsätzliche Schwächen des Gesundheitssystems offen.

Text: Eja Kapeller; Artwork: Tom Linecker

Gesundheit25.3.2022 

Die Zahlen waren erschreckend. Mehr als die Hälfte aller Covid-19-Patient·innen, die von Anfang März bis Ende April 2020 an der Universitätsklinik in Innsbruck auf die Intensivstation verlegt werden mussten, war an Diabetes erkrankt. Weitere 36 Prozent litten an Prädiabetes, einer Vorstufe der Erkrankung. Die behandelnden Ärzt·innen schlugen Alarm. In einem Research Letter empfahlen sie Kolleg·innen, den Blutzucker bei hospitalisierten Covid-19-Patient·innen routinemäßig zu messen.

Der Grund dafür: Nur bei knapp 16 Prozent der Patient·innen war die Erkrankung zuvor schon dokumentiert worden. Der Befund aus Innsbruck spiegelte im Kleinen wider, was Fachgesellschaften schon lange befürchtet hatten.

»Wir gehen von einer sehr hohen Dunkelziffer an Betroffenen aus«, sagt Harald Sourij, stellvertretender Abteilungsleiter der Klinischen Abteilung für Endokrinologie an der Medizinischen Universität Graz. »Ein Viertel bis ein Drittel der Menschen mit Diabetes weiß nichts von ihrer Erkrankung. Bei Prädiabetes ist der Großteil undiagnostiziert.«

Das wird uns auch noch beschäftigen, wenn die Pandemie schon lange vorbei ist.

Diabetes ist eine Volkskrankheit. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht von einer globalen Epidemie. Seit dem Jahr 1980, so heißt es in einem aktuellen Bericht der Organisation, haben sich die Fallzahlen vervierfacht. Steigende Lebenserwartung, Bewegungsmangel und falsche Ernährung führen dazu, dass weltweit immer mehr Menschen an der häufigsten Form der Zuckerkrankheit, dem Typ-2-Diabetes, leiden.

Niemand zweifelt daran, dass die Zahl der Betroffenen in Zukunft wachsen wird. Österreich bleibt davon nicht verschont. Schätzungen der Österreichischen Diabetes-Gesellschaft (ÖDG), in deren Vorstand Harald Sourij ist, gehen von bis zu 700.000 Typ-2-Diabetiker·innen aus. Geschätzte ​350.000 Menschen leiden an der Vorstufe der Erkrankung: Prädiabetes. Das ist aber nur ein Teil eines größeren Problems. 

In der Wissenschaft gilt Diabetes als sogenannter »Tracer«, also ein Indikator, anhand dessen Gesundheitsökonom·innen und Public-Health-­Expert·innen versuchen, Schwächen innerhalb des Gesundheitssystems zu identifizieren. Dafür eignet sich Diabetes besonders gut.

Die Erkrankung gilt als Prototyp für eine der größten He­rausforderungen moderner Gesundheitssysteme: die Versorgung von chronisch kranken Menschen. Inzwischen sind 70 bis 90 Prozent der Patient·innenkontakte und Versorgungskosten auf chronische Erkrankungen wie Diabetes zurückzuführen. Und glaubt man internationalen Statistiken, schneidet Österreich bei ihrer Versorgung schlecht ab.

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