»Die Zustände sind wahnsinnig erschreckend und frustrierend, für ein Land wie Österreich eigentlich beschämend« – mit diesen drastischen Worten wendet sich eine Pflegeperson an DOSSIER.
Sie benennt schwere Missstände in Spitälern, die DOSSIER im Zuge der Recherche vielfach beschrieben werden: Krankenpfleger·innen, die überlastet sind und ihre Patient·innen deshalb gefährlich vernachlässigen.
Infolgedessen bekommen sie Gewissensbisse, manche können nicht mehr schlafen. Sie rufen bei Vorgesetzten um Hilfe, doch die helfen nicht, sondern mobben sie und bedrohen sie mit Kündigung. Viele kündigen ohnehin freiwillig, was die Personalnot noch verstärkt.
All das ist traurige Realität in Österreichs Krankenhäusern und Pflegeheimen – es sind »Zustände, die glaubt einem fast keiner«, wie es die Pflegeperson ausdrückt (siehe Brief weiter unten).
DOSSIER hat für das neue Magazin »Gesundheit – Woran das System krankt« erstmals systematisch Gefährdungsmeldungen von Pflegepersonal in Österreichs Krankenhäusern erhoben – bislang schauen die Verantwortlichen weg. Hunderte solcher Anzeigen zeugen von Missständen, die längst die Sicherheit der Patient·innen bedrohen.
Man muss sich dabei bewusst machen – es trifft nicht nur »die anderen«, etwa die Bewohner·innen von Pflegeheimen: Jede·r, die oder der im Krankenhaus landet, kann zum Opfer des Personalmangels und dessen Folgen werden. Etwa dann, wenn wichtige Therapien weggelassen werden müssen und deshalb bleibende Schäden entstehen. Das kann sogar bis hin zum Tod führen.
DOSSIER hat den Fall einer Diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegerin (DGKP) aufgearbeitet. Bis heute hält sie den Tod einer jungen Patientin für vermeidbar, wäre die Überlastung nicht so groß gewesen.
Die Pflegerin schrieb eine Gefährdungsmeldung an ihre Vorgesetzten, doch diese drohten ihr mit Kündigung. Immer noch hat sie Angst vor ihren ehemaligen Vorgesetzten – DOSSIER konnte den Fall anhand von Dokumenten detailliert nachprüfen.
Expert·innen kennen die Zustände: »Wir haben in der Pflege teilweise noch ein Managementverständnis aus den 1970er-, 1980er-Jahren. Mit Druck und Manipulation wird geführt. Da ist nicht vorgesehen, dass jemand ausschert«, sagt Elisabeth Potzmann, die Präsidentin des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbands.
Ein Hilferuf im Wortlaut
Dass DOSSIER in der Pflege recherchiert, hat sich über die vergangenen Monate herumgesprochen – kurz vor Redaktionsschluss traf noch ein anonymer Brief in der Redaktion ein. Ein Pflegeperson wendet sich darin eindrücklich an uns. Wir wollen Ihnen die Botschaft nicht vorenthalten (Hinweis: Informationen, die auf die Identität des/der Urheber·in zurückführen könnten, haben wir anonymisiert):
Liebes Dossier-Team!
Ich arbeite seit (...) Jahren als DGKP in (...). Davor habe ich das Bachelorstudium gemacht. Die Zustände sind wahnsinnig erschreckend und frustrierend, für ein Land wie Österreich eigentlich beschämend.
Ich traue mich nicht, Sie direkt zu kontaktieren, weil ich nicht haben will, dass jemand herausfinden könnte, dass ich mit Ihnen gesprochen hab. Daher melde ich mich auch erst jetzt … ich musste lange überlegen.
Die Patientenversorgung nimmt Zustände an, die glaubt einem ja fast keiner, wenn man nicht selbst dabei ist oder in diesem Beruf arbeitet und es weiß – doch das gibt es. Das System ist so kaputtgespart und die letzten Verbleibenden überlegen schon alle, wie lange sie das mit ihrem eigenen Gewissen vereinbaren können. Es gibt die ethischen Prinzipien, und die Würde ist unantastbar, in Wirklichkeit ist sie faktisch nicht mehr vorhanden. Privatsphäre, Datenschutz gibt es nicht, die Betreuung ist fahrlässig und gefährlich. Das Personal bekommt immer nur noch mehr Aufgaben, aber keiner sagt, wie man das schaffen soll. Wie kann ich an so vielen Orten gleichzeitig sein? Jeder braucht etwas von mir, ich versuche alles, aber scheitere in jedem Dienst.
Das häufige Einspringen und der permanente Druck und Stress im Dienst sind zu viel und rufen gefährliche Situationen hervor. Ich werde keinem mehr gerecht, jeder ist unzufrieden und lässt es an den Pflegepersonen aus. Ein Patient ist in einem Aufenthalt dreimal gestürzt, weil jedes Mal keiner schnell genug bei der Glocke war, um ihm zu helfen. Es wird jedes Mal eine Sturzmeldung geschrieben, für Maßnahmen, damit das nicht wieder vorkommt, ist keine Zeit. Es ist schneller, den Patienten vom Boden aufzuheben, als Sturzprophylaxe durchzuführen. Was es für den Patienten bedeutet und dass es hier viele Folgeverletzungen und damit verlängerten Aufenthalt, zusätzliche Behandlung gibt und damit am Ende teurer ist, das interessiert keinen. Nur ich als Pflegeperson geh mit schlechtem Gewissen außer Dienst.
Wir brauchen mehr Personal und Löhne, die auch dem gerecht werden, was wir leisten! Wir werden ausgenutzt, und einige glauben wohl auch noch, dass sich Pflegepersonen selbst aufopfern. Das war vielleicht früher so, heute nicht mehr. Denn wie soll ich die Geduld, Empathie, Aufmerksamkeit und mein fachliches Wissen tagtäglich zum vollen Einsatz bringen, wenn es mir selbst nicht mehr gut geht?
Als ich von meiner Stationsleitung angesprochen wurde, warum die Mitarbeiter ›schlecht drauf‹ sind und mit ihr kaum mehr reden, habe ich ihr gesagt, dass viele über Monate hinweg über 200 Stunden arbeiten mussten. Und dass, seit ich da bin immer (...) Vollzeitstellen frei waren, die wir nicht besetzen konnten. Das heißt, es muss die gleiche Anzahl von Diensten durch weniger Leute besetzt werden. Auf Dauer geht das nicht, und jetzt hat noch jemand gekündigt.
Eine Bettensperre wurde mehrmals abgelehnt, und auch die Arbeit mit Pooldienstfirmen gibt es nicht. Daher war die Frage, ob wir eventuell von einer anderen Station Hilfe bekommen könnten. Aber mir wurde gesagt, dass es keine (!) einzige Station in diesem Spital gibt, wo alle Posten besetzt sind.
Dann habe ich gesagt, dass es, egal wie, so nicht weitergehen kann. Es muss gehandelt werden, weil sonst wird es bald nicht nur Sturzschäden geben, sondern womöglich Patienten versterben, und damit könnte ich nicht leben.
Sie hat zugehört und sich sehr verständnisvoll gezeigt, aber in Wirklichkeit muss ›irgendetwas‹ passiert sein. In meinem nächsten Dienst hat sie mich zu einem Gespräch gebeten, und sie hat mir gesagt, dass sie sich nicht von mir bedrohen lassen und mich daher kündigen.
Ich hatte im Studium Bestnoten, und alle Praktika wurden mit ausgezeichnet beurteilt! Ich weiß, dass ich keine schlechte Pflegeperson bin, sondern immer das Beste für meine Patienten gegeben habe und auch für diesen Beruf geeignet bin. Auch meine Kollegen haben mich darin bestärkt. Da ich aber selbst erst (...) Jahre bin, habe ich beschlossen, nochmal zu studieren und komplett neu anzufangen.
Ich möchte nicht in der Pflege arbeiten und mich so behandeln lassen müssen oder jeden Tag Angst haben müssen, einem Patienten womöglich sogar Leid anzutun. Kollegen sagen auch, dass es viele Probleme seit Ewigkeiten gibt und sich nichts ändert, sondern maximal schlimmer und schlimmer wird.
Es gibt auch in der Pflege ethische Prinzipien. Leider mittlerweile nur noch in der Theorie, sodass ich die Verantwortung für die mir anvertrauten Patienten unter solchen Umständen nicht übernehmen kann, und ich möchte nicht fahrlässig sein.
Danke, dass Sie sich diesem Thema widmen!