Schmerzen im Brustraum, Übelkeit, Schüttelfrost – ab dem dritten Tag ihres Reha-Aufenthalts plagen Michaela Renner diese Beschwerden. Regelmäßig absolviert sie Einheiten auf dem Ergometer, Gymnastik- und Walking-Programme und spürt schon währenddessen: Etwas stimmt nicht. Puls und Blutdruck der eigentlich sportlichen Frau schnellen ungewöhnlich in die Höhe, Renner fühlt sich krank, ähnlich einer Grippe. Trotzdem bricht sie das Reha-Programm nicht ab. »Ich habe die Therapien durchgezogen, weil ich dachte, die Ärzt·innen kennen sich aus«, sagt sie zu DOSSIER. Bald wird sich herausstellen: Ein Fehler.
Michaela Renner leidet an Long Covid. Nachdem sich die 49-Jährige im April 2022 erstmals mit dem Coronavirus infiziert hat, wird sie nicht mehr gesund.
Seit der Frühphase der Pandemie bezeichnet der Begriff Long Covid alle Langzeitfolgen der Infektion. Inzwischen unterscheiden Expert·innen grob drei Gruppen von Betroffenen. Bei manchen Menschen schädigt das Virus während der akuten Erkrankung Organe – es kommt etwa zu Lungenfibrosen und Herzmuskelentzündungen.
Bei anderen treten neue Erkrankungen auf, etwa Autoimmunerkrankungen, oder bereits bestehende Erkrankungen verschlimmern sich. Und dann gibt es eine dritte Gruppe von Betroffenen: Patient·innen wie Michaela Renner, die nach ihrer Infektion ein postakutes Infektionssyndrom entwickelten.
Dabei kommt es zu Dysfunktionen im autonomen Nervensystem, im Darmmikrobiom, in den Blutgefäßen, im Immunsystem, im Energiegewinnungssystem der Zellen und zu Störungen des Stoffwechsels und der Durchblutung von Geweben. Ein postakutes Infektionssyndrom kann auch nach anderen Infektionen auftreten, nach Covid dürfte es aber besonders häufig sein.
INFO
ME/CFS kann neben Viren auch durch bakterielle Infektionen ausgelöst werden und wurde bereits 1969 von der WHO als neurologische Krankheit klassifiziert, von Medizin und Forschung aber jahrzehntelang vernachlässigt. Bis heute wurde kein praktikabler Biomarker identifiziert, mit dessen Hilfe ME/CFS eindeutig diagnostiziert werden kann. Ebenso gibt es nach wie vor keine kausale Therapie für die Erkrankung. Laut aktuellen Studien leiden in Österreich zwischen 26.000 und 80.000 Menschen an ME/CFS. Expert·innen schätzen, dass sich diese Zahl durch die zahlreichen Covid-Infektionen in den nächsten Jahren verdoppeln könnte.
Durch die Covid-Pandemie und die unermüdliche Arbeit von Betroffenen-Initiativen rückte ME/CFS in den letzten Jahren zwar etwas in die Öffentlichkeit. Das Gesundheitsministerium kündigte im November 2023 ein Referenzzentrum für postvirale Erkrankungen als Anlaufstelle für Gesundheitspersonal und Forschung an. Wann es Anlaufstellen für Betroffene selbst geben wird, ist aber unklar. Zuletzt wurden viele Long-Covid-Ambulanzen geschlossen. »Es gibt aktuell nach wie vor keine medizinische Versorgung für einen Großteil der Betroffenen«, sagt Astrid Hainzl von der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS. »Wir haben eine Handvoll an Wahlärzt·innen, die sich auf ME/CFS spezialisiert haben – alle haben im Moment Aufnahmestopp.«
In der medizinischen Literatur spricht man in diesem Fall von Post Covid. Die schwerste Verlaufsform eines postakuten Infektionssyndroms ist ME/CFS, also die Myalgische Enzephalomyelitis beziehungsweise das Chronische Fatigue-Syndrom. Dabei handelt es sich um eine schwere Multisystemerkrankung, die schon lange vor der Pandemie bekannt war, von Medizin und Forschung aber vernachlässigt wurde.
Michaela Renner geht im Frühjahr 2023 auf Empfehlung ihres Hausarztes auf Reha. »Ich habe mir erhofft, dass dadurch alles wieder normal wird«, sagt sie heute. Doch nach 22 Tagen im Reha-Zentrum ist ihr Gesundheitszustand schlechter als zuvor. »Ich bin danach drei Wochen nur im Bett gelegen.«
Medizinische Rehabilitation soll die Folgen einer Krankheit lindern und Kranken dabei helfen, ein möglichst selbstständiges Leben zu führen. Renner verließ das Reha-Zentrum kränker als zuvor. Und sie ist damit nicht allein.
DOSSIER hat mit mehreren Patient·innen mit Post Covid und ME/CFS über ihre Erfahrungen mit medizinischer Reha gesprochen. Gegenüber DOSSIER beschreiben sie das Gleiche: Der Reha-Aufenthalt habe ihren Gesundheitszustand massiv verschlechtert. So sehr, dass sie Wochen oder Monate gebraucht hätten, um ihren gesundheitlichen Zustand von vor dem Aufenthalt wiederherzustellen. Einige sagen, sie hätten sich bis heute nicht davon erholt.
DOSSIER hat die Geschichten von drei Betroffenen rekonstruiert. Eine davon ist Michaela Renner. Wie alle Betroffenen will sie anonym bleiben. Manche, weil es hier um private Gesundheitsdaten geht. Andere aus Angst vor Anfeindungen und vor finanziellen und rechtlichen Konsequenzen. Ihre Namen und die Reha-Zentren, die in diesem Text vorkommen, sind deshalb anonymisiert. Um die Anonymität der Betroffenen zu gewährleisten, hat DOSSIER davon abgesehen, zu den konkreten Fällen Stellungnahmen von Betreibern der Reha-Einrichtungen und Versicherungsträgern einzuholen. Ihre Geschichten sind aber anhand von Dokumenten wie Reha-Berichten, Arztbriefen und Gerichtsakten belegbar.
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Anders als bei vielen anderen Erkrankungen können Aktivierungstherapien, bei denen es um die schrittweise Erhöhung der körperlichen Aktivität geht, Patient·innen mit ME/CFS schaden. Das hat mit dem Hauptsymptom der Krankheit zu tun: der Belastungsintoleranz, in der Fachsprache Post-Exertional Malaise (PEM). Konkret bedeutet das, dass Überanstrengung – körperlich, kognitiv oder emotional – zu einer bleibenden Verschlechterung des Gesundheitszustands führen kann.
Liegt PEM vor, raten Expert·innen deshalb zu Pacing. Dabei handelt es sich um ein therapeutisches Konzept, das Post Covid und ME/CFS zwar nicht heilen kann, aber dabei hilft, den Zustand der Patient·innen zu stabilisieren. Vereinfacht gesagt sieht es vor, dass Betroffene bei allen Aktivitäten stets unterhalb ihrer individuellen körperlichen und psychischen Belastungsgrenze bleiben sollen.
»Leiden Patient·innen an PEM, muss immer Pacing im Vordergrund stehen, auch wenn es aufgrund einer Begleiterkrankung gegenteilige Empfehlungen gibt«, sagt Kathryn Hoffmann. Sie ist Professorin für Primary Care Medicine an der Medizinischen Universität Wien und hat sich auf postakute Infektionssyndrome spezialisiert. Nur: Dafür muss erst einmal abgeklärt werden, ob jemand an PEM leidet.
Der Fall Renner: Unwissen führt zu Fehlbehandlung
Als es Michaela Renner einen Monat nach ihrer Infektion immer noch nicht besser geht, stellt ein Internist eine Entzündung des Herzbeutels und -muskels fest. Er verschreibt Renner Medikamente dagegen, trotzdem bessern sich ihre Symptome kaum. Nach kurzen Spaziergängen bekommt Renner ein Stechen im Brustraum, gefolgt von Übelkeit und Schüttelfrost. Zweimal sucht sie deshalb eine Notfallambulanz auf. Nach einer Operation am Auge verschlimmern sich die Symptome. Renner wird stationär in einem Krankenhaus aufgenommen. Dort diagnostizieren die Ärzt·innen acht Monate nach der Infektion neben einer abheilenden Herzbeutel- und Herzmuskelentzündung erstmals auch Post Covid.
Auf PEM spricht Renner aber niemand an, nicht die Ärzt·innen im Krankenhaus und auch nicht ihr Hausarzt, der ihr zu einer Reha rät. Später, im Reha-Zentrum, ist PEM ebenso kein Thema. Im Gegenteil. Renners Reha-Plan sieht zu einem großen Teil Training auf dem Ergometer, Walking sowie Kraft- und Muskeltraining vor, oft mehrmals täglich.
Als sie in der zweiten Woche ihres Aufenthalts mit starken Schmerzen in die Nachtambulanz kommt, verabreicht ihr der diensthabende Arzt ein Schmerzmittel, zwei Therapieeinheiten am folgenden Vormittag werden gestrichen, ansonsten heißt es auf Anweisung des Arztes: Weitermachen wie bisher!
Das sagen die Ärzt·innen auch, als Renner die Ambulanz zwei weitere Male in der Nacht aufsucht. Nach drei Wochen, am Ende der Reha, hat die schlanke Frau eineinhalb Kilo abgenommen, während der Zugfahrt nach Hause fühlt sich Renner so krank, dass sie glaubt, sich erneut infiziert zu haben. Sie sagt, in den Wochen danach sei sie bettlägerig gewesen, erst nach drei Monaten kompletter Schonung habe sie sich von ihrem Reha-Aufenthalt erholt. Das hält sie auch in einer Beschwerde an die Niederösterreichische Patienten- und Pflegeanwaltschaft fest, die DOSSIER vorliegt.
Nicht alle Patient·innen mit Long Covid machen schlechte Erfahrungen mit Reha-Einrichtungen. Betroffene ohne PEM können durchaus von einer Reha profitieren. Und auch Patient·innen mit PEM berichten nicht nur Negatives. »Es gibt Patient·innen, bei denen sich PEM auf einem hohen Niveau stabilisiert hat und denen dann einzelne Aspekte einer Reha guttun können«, sagt Hoffmann. »Grundsätzlich ist medizinische Reha bei PEM aber kontraindiziert, da es dabei grundsätzlich um stetige Aktivierung geht.«
Auch die Physiotherapeutin Verena Hackl, die sich in der Fachgruppe Komplexe Multisystemerkrankungen des Bundesverbands der Physiotherapeut·innen Österreichs engagiert und zu diesem Schwerpunkt lehrt, sagt: »Diese Maßnahmen haben sich bei anderen Erkrankungen bewährt, wir sehen aber, dass sie vielen Patient·innen mit PEM schaden.«
PEM stellt für die Therapieplanung eine enorme Herausforderung dar. Denn bei vielen Patient·innen setzt die Zustandsverschlechterung erst zeitverzögert ein, zwischen Auslöser der Überanstrengung und dem Einsetzen von PEM können bis zu 72 Stunden vergehen. »Das macht es sehr schwer, im Vorhinein abzuschätzen, wo die Grenzen der Patient·innen liegen, denn diese können auch bei einer Person im zeitlichen Verlauf fluktuieren«, sagt Hackl. Die Gefahr, bei schwerer Betroffenen auch durch leichte Übungen eine Zustandsverschlechterung auszulösen, sei deshalb sehr groß. Hackl sagt: »Ich würde Betroffenen mit PEM wirklich nur dann zu einer Reha raten, wenn sie kontinuierlich wieder über 50 Prozent ihres Leistungsniveaus erreicht haben. Besser, wenn sie bei 70 oder 80 Prozent liegen.«
In Deutschland geht eine im Dezember 2023 aktualisierte Leitlinie zu Rehabilitation und Covid in eine ähnliche Richtung: »Liegen starke Einschränkungen der Alltagsfunktion vor, wird oftmals für Rehabilitationsmaßnahmen keine ausreichende Belastbarkeit bestehen«, heißt es darin. Das könne unter anderem bei einer Reduzierung des funktionellen Zustandes auf 50 Prozent angenommen werden.
Die österreichische Behandlungsleitlinie für Post Covid, die im Auftrag des Gesundheitsministeriums erarbeitet wurde, verweist zwar auf die deutsche Leitlinie, sieht gleichzeitig aber eine grundsätzliche Empfehlung zur Reha vor. An einer anderen Stelle heißt es, dass Patient·innen mit PEM Einrichtungen zugewiesen werden sollen, die Pacing anbieten. Kathryn Hoffmann, Co-Autorin der Leitlinie, ist mit dieser Empfehlung nicht einverstanden, ihr Dissens ist im Dokument vermerkt.
»Es gibt in Österreich keine Reha-Einrichtungen, die auf die Bedürfnisse von Patient·innen mit PEM wirklich gut ausgerichtet sind«, sagt sie. »Auch wenn wenige Einrichtungen vielleicht Pacing bei den Therapien berücksichtigen, bedeutet schon das Setting eines Reha-Zentrums in sehr vielen Fällen zu viel Anstrengung: etwa die Wege zu den Therapien, die Geräuschkulisse im Speisesaal, die An- und Abreise. Ein Aufenthalt in einer Reha-Einrichtung geht für die meisten Patient·innen mit PEM deshalb mit dem großen Risiko einer Zustandsverschlechterung einher.«
DOSSIER-Recherchen scheinen genau das zu belegen. Dennoch werden Patient·innen auch zur Reha gedrängt, gegen ihren Willen und auf Kosten ihrer Gesundheit.
Der Fall Neuner: Angst vor Konsequenzen
Lisa Neuner infiziert sich im März 2022 mit dem Coronavirus, einen Monat später muss sie aufgrund von Post Covid in den Krankenstand gehen. Ihr sie damals behandelnder Neurologe rät zu einer Reha, das hält er auch in einem Arztbrief fest. Diesen Brief schickt Neuner an die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK), um ihren Krankenstand zu verlängern. Bald wird ihr das zum Verhängnis.
Im Juni 2022, Neuner ist da erst seit zwei Monaten krankgeschrieben, erhält sie ein Schreiben der ÖGK: Neben einem aktuellen Behandlungsnachweis und Facharztbefund fordert die ÖGK darin die Bekanntgabe eines Reha-Termins, um ihren Krankenstand prüfen zu können.
Neuner weiß zu diesem Zeitpunkt, dass sie an PEM leidet. Sie hat sich im Internet und in Selbsthilfegruppen über ihre Symptome informiert und ihren Arzt gewechselt. Damals kann sie sich für maximal 30 Minuten aufrichten und kleine Tätigkeiten im Haushalt erledigen, bevor sie so erschöpft ist, dass sie sich wieder hinlegen muss. Sie sagt: Auf Reha zu gehen, das habe sie sich damals überhaupt nicht vorstellen können. Trotzdem tritt sie im Oktober einen vierwöchigen stationären Aufenthalt an.
Neuner absolviert ihre Reha in einer Einrichtung, die laut Website auf Post Covid spezialisiert ist. In ihrem Aufnahmegespräch weist sie den Arzt auch auf die Post-Exertional Malaise hin. Auf ihren täglichen Reha-Plänen stehen später trotzdem regelmäßig Trainingsübungen. Neuners Zustand verschlechtert sich schnell. Nach drei Wochen hat sie keine Kraft mehr in den Beinen und schafft es nur gestützt auf ein Geländer zurück in ihr Zimmer. Sie lässt das Essen mehrfach ausfallen, weil sie es nicht mehr in den Speisesaal schafft. »Das waren die schlimmsten Wochen meines Lebens«, sagt Neuner. Nach der Reha muss sie zu ihren Eltern ziehen, den Haushalt kann sie nicht länger allein bewältigen.
Das alles erzählt Neuner in einem kurzen Telefonat, nicht länger als 30 Minuten. Ein Gespräch per Video ist nicht möglich, da Neuner die Reize eines Bildschirms nicht mehr erträgt. DOSSIER legt sie auch einen Arztbrief vor, der eine Zustandsverschlechterung nach der Reha festhält. Warum aber hat sie die Reha überhaupt angetreten, obwohl sie sich gesundheitlich so schlecht gefühlt hatte? Neuner sagt: Andernfalls hätte sie mit Konsequenzen rechnen müssen.
In ihrem Schreiben kündigt die ÖGK an, Neuners Krankenstand zu beenden, sollte sie keinen Termin, zu dem sie eine Reha antritt, bekanntgeben. Das bedeutet: Lisa Neuner hätte in diesem Fall ihren Anspruch auf Krankengeld verloren, ihr Fernbleiben von der Arbeit wäre nicht mehr gerechtfertigt.
Auszug aus dem Schreiben der ÖGK
Die ÖGK kann auf Anfrage von DOSSIER ohne genaue Kenntnis des Falls keine Stellungnahme abgeben. Rechtlich ist ihr Vorgehen in Ordnung: Sie darf den Bezug von Krankengeld einstellen, wenn Patient·innen ärztliche Anordnungen nicht befolgen. Lisa Neuner sagt heute: »Ich weiß, ich hätte mich wehren sollen. Ich hatte aber zu viel Angst.«
Die Geschichte von Lisa Neuner ist kein Einzelfall – und das Problem nicht auf Post-Covid-Erkrankte begrenzt.
Der Fall Hofer: Keine Reha, kein Reha-Geld
Auch Nina Hofer ist gegen ihren Willen auf Reha gegangen. DOSSIER konnte ihre Geschichte anhand von Gerichts- und Krankenakten überprüfen. Es ist eine Geschichte, die typisch ist für ME/CFS-Betroffene in Österreich.
Hofer erkrankte 2014 an einer Infektion, vermutlich dem Epstein-Barr-Virus, und hat sich davon bis heute nicht erholt. Nach der Akutphase der Erkrankung plagen die damals 21-Jährige immer wieder Fieberschübe. Anstatt nach einer körperlichen Ursache für die Symptome zu suchen, sagt Hofer, diagnostiziert ihre Hausärztin eine Depression und rät zu Sport. Damals studiert sie noch und arbeitet nebenbei als studentische Mitarbeiterin in einem Labor.
»Meine Gesundheit hat sich stetig verschlechtert«, sagt sie. Hofer muss die Reißleine ziehen: Im Sommer 2020 geht sie in Krankenstand, später bricht sie auch ihr Studium ab. Ein Spezialist diagnostiziert schließlich ME/CFS. Hofer leidet da seit fünf Jahren fast täglich an Fieber.
Im Alter von 26 Jahren sucht sie bei der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) um Berufsunfähigkeitspension an und erhält schließlich Reha-Geld, das befristet ausbezahlt wird. Im Sommer 2022 wird ihr die Leistung wieder entzogen, da laut Gutachter·innen der PVA eine Zustandsverbesserung eingetreten sei. Hofer zieht vor Gericht.
Laut einem Gutachten, das der Richter in Auftrag gibt, ist Hofer aufgrund ihrer täglichen Fieberschübe weiterhin nicht arbeitsfähig. Sie bekommt erneut Reha-Geld zugesprochen, das steht im Vergleich, den sie mit der PVA vor Gericht schließt. Dort findet sich aber auch ein Satz, der für Hofer fatale Folgen haben wird: »Die klagende Partei wird darauf hingewiesen, dass sie verpflichtet ist, bei der Durchführung von Rehabilitationsmaßnahmen mitzuwirken, da ansonsten keine Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit gebührt.«
Auszug aus dem Vergleich
Gesetzlich ist die PVA auch hier im Recht: Reha-Geld-Bezieher·innen müssen an Rehabilitationsmaßnahmen mitwirken. Wer sich weigert, dem kann das Reha-Geld für die Dauer der Weigerung entzogen werden.
Nur wenige Wochen nach dem Gerichtstermin erhält Hofer ein Schreiben, dass sie wegen ihres Übergewichts eine Stoffwechselrehabilitation zur Gewichtsabnahme antreten soll. Einen Antrag auf Reha hat Hofer zuvor nicht gestellt, auch das Reha-Zentrum wurde ohne sie festgelegt.
»Ich war total überfordert und schockiert«, sagt Hofer. »Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, wie ich das schaffen soll.« Für den Fall, dass sich ihr Gesundheitszustand aufgrund der Reha weiter verschlechtert, spricht sie damals mit ihrem Freund auch über Sterbehilfe.
Trotzdem wird Hofer schließlich drei Wochen auf Reha verbringen und sie nicht vorzeitig abbrechen. Sie sagt: aus Angst, sonst ihre Lebensgrundlage zu verlieren. »Ich habe mir nur gedacht: Ich muss irgendwie durchhalten. Ich muss es irgendwie schaffen, dass sie mich in Ruhe lassen.« Die PVA will dazu ohne Kenntnis der konkreten Umstände keine Stellungnahme abgeben, denn es sei zu beachten, »dass für jede Person eine individuelle Krankheitsgeschichte vorliegt«, heißt es gegenüber DOSSIER.
Falsche Diagnose, falsche Behandlung
Wie vielen Patient·innen es so ergeht wie Nina Hofer, ist schwer zu eruieren. 2023 wurde laut Auskunft der PVA 40 Personen das Reha-Geld entzogen, weil sie ihrer Pflicht, an medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen mitzuwirken, nicht nachkamen. Personen mit ME/CFS-Diagnose betraf das seit 2021 nur in einem Fall.
Das Problem mit den Zahlen: Erstens, die PVA erhebt für die Statistik nur die Hauptdiagnosen der Betroffenen. Patient·innen, die zwar an ME/CFS leiden, deren ME/CFS-Diagnose für die PVA aber lediglich eine Nebendiagnose darstellt, werden nicht erfasst. Zweitens: Wie viele Patient·innen aus Angst vor Konsequenzen mitwirken und damit eine Zustandsverschlechterung riskieren, kann eine solche Statistik erst gar nicht erfassen.
Ob und an welchen medizinischen Maßnahmen Betroffene teilnehmen müssen, wird von einem sogenannten Case-Management der Krankenkassen entschieden. Wirken Betroffene nicht mit, kann das Reha-Geld für die Dauer der Weigerung ausgesetzt oder auf Dauer entzogen werden.
Grundsätzlich müssen Kranken- und Pensionsversicherungsträger dabei aber berücksichtigen, inwiefern Patient·innen die Mitwirkung an medizinischen Maßnahmen zumutbar ist. Die Erfolgsaussichten einer Behandlung spielen dabei etwa eine Rolle, genauso wie Schmerzen und Beeinträchtigungen, die damit verbunden sind. Auch subjektive Kriterien wie familiäre oder wirtschaftliche Verhältnisse müssen in diese Entscheidung mit einfließen. Das Reha-Geld kann Patient·innen nur dann entzogen werden, wenn sie ihre Mitwirkungspflicht zumindest leicht fahrlässig verletzen.
Patient·innenorganisationen wie der Verein Chronisch krank kritisieren die Mitwirkungspflicht aber schon lange: »Die Beurteilung, inwieweit eine Mitwirkung an medizinischen Maßnahmen möglich ist, beinhaltet Spielraum für Willkür«, heißt es etwa in einem Handbuch des Vereins zur Berufsunfähigkeit. Vereinsobmann Jürgen Holzinger sagt: »Bei unseren Beratungen erleben wir immer wieder, dass sich das Case-Management auch über die Meinung der Fachärzt·innen, welche die Betroffenen eigentlich behandeln, hinwegsetzt. Und vielen Betroffenen bleibt in diesem Fall nichts anderes übrig, als mitzumachen, weil sie auf das Reha-Geld angewiesen sind.«
Im Fall von ME/CFS kommt noch ein Problem dazu: fehlendes Wissen. Weil sich die Erkrankung nicht mit einem einfachen Biomarker nachweisen lässt, wird sie oft als psychisch abgetan. Und weil sie als psychisch abgetan wird, wird gar nicht erst gründlich diagnostiziert, obwohl einzelne Symptome sehr wohl mit diagnostischen Tests nachgewiesen werden könnten.
»Es gibt in der Medizin leider eine gewisse Tradition, Symptome, für die man keinen schnellen Biomarker findet, vorschnell auf die Psyche zu schieben«, sagt Hoffmann. »Das führt zu Falschdiagnosen mit unpassenden Therapievorschlägen, die nicht helfen und den Leidensweg weiter verlängern.«
Österreichs größte Kranken- und Pensionsversicherungen scheinen dagegen auch nicht viel zu tun: Spezielle Schulungen zu ME/CFS gibt es für Mitarbeiter·innen der PVA und ÖGK nicht. Für Kranke, die auf Versicherungsleistungen angewiesen sind, hat das Folgen. »Wir kennen auch Fälle, in denen bettlägerige Personen auf psychiatrische Reha geschickt wurden, weil man ME/CFS nicht als körperliche Erkrankung ernst genommen hat«, sagt Astrid Hainzl von der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS.
Als Nina Hofer die Reha im Sommer 2023 antritt, ist in den Medien vermehrt über ME/CFS zu lesen. Auch die Politik scheint der Erkrankung Aufmerksamkeit zu widmen. Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) erklärte es bereits im April 2023 zum klaren Ziel, »die Situation von ME/CFS-Betroffenen zu verbessern«. Hofer bemerkt davon nichts.
Zwar kann sie die meisten Sporteinheiten absagen, ohne dass das Reha-Team deshalb eine Verletzung der Mitwirkungspflicht dokumentiert. Allein die Vorträge, an denen sie teilnehmen muss, und die täglichen Wege in der Einrichtung setzen ihr aber derart zu, dass sie am gesamten Körper Muskelschmerzen entwickelt. Sie sagt: »Die Schmerzen haben sich von Tag zu Tag gesteigert. Das habe ich während meiner gesamten Erkrankung noch nie erlebt.« Nach drei Wochen wird Hofer entlassen. Ihre Schmerzen sind geblieben.