Verdacht statt Versorgung

Eine gemeinsame Recherche von DOSSIER, ORF und APA zeigt erstmals, wie die Pensionsversicherungsanstalt mit Anträgen von Patient·innen mit Post Covid und ME/CFS umgeht – und deutet auf Missstände in der Begutachtung hin.

Text: Eja Kapeller; Datenauswertung: Markus Hametner; Illustration: Amy Lauren

Gesundheit8.5.2025 

Am dritten Tag ihres AMS-Kurses bricht Michaela Berger zusammen. Sie kann auf Fragen, die ihr gestellt werden, nicht mehr reagieren. Ihre Ohren dröhnen, sie hat Schmerzen am ganzen Körper. Berger leidet an ME/CFS, seit sieben Jahren sind ihre Symptome so schlimm, dass sie nicht mehr arbeiten kann.

Den Kurs, in dem chronisch Kranken ein geeigneter Job vermittelt werden soll, muss die 46-Jährige nach ihrem Zusammenbruch im Februar 2024 abbrechen. Berger bleibt nur noch ein Schritt: Auf Anraten des AMS sucht sie um Berufsunfähigkeitspension an. Es ist ihr dritter Antrag. Und auch dieser wird von der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) abgelehnt.

Auch Mo Dörrer erhält im November 2024 einen ablehnenden Bescheid der Behörde. Die 34-Jährige hat mehrere Autoimmunerkrankungen. Nach einer Covid-19-Infektion Ende 2023 verschlimmern sich ihre Symptome, starke Gliederschmerzen und Schwindel kommen dazu, kleinste Anstrengungen führen zu Überlastung. Ärzt·innen diagnostizieren bei Dörrer Post Covid und später ME/CFS.

Seit Juni 2024 geht es ihr so schlecht, dass sie die Wohnung nicht mehr verlassen und kaum aus dem Bett aufstehen kann. Die Gutachterin der Pensionsversicherungsanstalt kommt in ihrem Gutachten trotzdem zum Schluss: kein ausreichender Pflegebedarf gegeben.

Michaela Berger und Mo Dörrer heißen in Wirklichkeit anders. Wie ihnen geht es aber zehntausenden Menschen in Österreich. Als größter Sozialversicherungsträger entscheidet die Pensionsversicherungsanstalt jährlich über rund 270.000 Anträge wie jene von Berger und Dörrer. Es geht dabei um Berufsunfähigkeits- bzw. Invaliditätspensionen und Pflegegeld. Und um heikle Fragen: Ist ein Mensch so krank, dass ihn die Solidargemeinschaft unterstützen muss? Ist es jemand, der auf Hilfe angewiesen ist – oder eine Person, die keinen Anspruch auf Unterstützung hat, das System gar ausnutzen will?

Ihre Entscheidung fällt die Behörde auf Grundlage von Gutachten, die sie von Ärzt·innen und Psycholog·innen anfertigen lässt. Glaubt man Patientenvertreter·innen, sind diese Einschätzungen oft falsch. Im Fall von ME/CFS- und Post-Covid-Betroffenen sei die Lage besonders problematisch, heißt es etwa im aktuellen Bericht der Volksanwaltschaft.

Offizielle Zahlen dazu, wie viele Anträge auf Berufsunfähigkeit oder Pflegegeld von ME/CFS- oder Post-Covid-Erkrankten abgelehnt werden, gibt es nicht. Eine Recherche von DOSSIER, ORF und APA gibt erstmals Einblicke in die Begutachtungspraxis der PVA und deutet auf gravierende Missstände hin.

Daten offenbaren Missstände

Gesichtet und systematisch ausgewertet wurden insgesamt 124 Gutachten aus 71 Verfahren der PVA. Die Dokumente stammen von 56 Patient·innen mit ME/CFS wie Michaela Berger und Mo Dörrer, die seit 2021 um Pflegegeld oder Berufsunfähigkeits- bzw. Invaliditätspension angesucht haben, oder Betroffenen, die sich seither im laufenden Leistungsbezug einer Wiederbegutachtung unterziehen mussten. Gesammelt wurden die Gutachten über Monate hinweg durch öffentliche Aufrufe, zum Beispiel in Selbsthilfegruppen. In die Erhebung flossen die Dokumente ein, wenn darüber hinaus auch ein Facharztbefund mit einer der beiden Diagnosen vorlag.

Eine Auswertung der Unterlagen zeigt: Ging es um die Frage der Berufsunfähigkeit, stuften Gutachter·innen Antragsteller·innen in 83 Prozent der Gutachten als arbeitsfähig ein. Bei Pflegegeldbegutachtungen wurde in 87 Prozent der Fälle kein ausreichender Pflegebedarf festgestellt. Das führte dazu, dass in rund 79 Prozent der Verfahren Leistungen abgelehnt oder entzogen wurden. Im Fall von Anträgen auf Berufsunfähigkeitspension wurde auch kein Rehageld gewährt.

Die Daten spiegeln nicht zwangsläufig die gesamte Begutachtungspraxis wider. Es könnte sein, dass vor allem jene Betroffenen den Aufrufen gefolgt sind, die negative Erfahrungen in den Verfahren gemacht haben. Gerade für diesen Fall lassen sich anhand der Auswertung aber Muster in der Begutachtung ablesen: ME/CFS und Post Covid werden oft ignoriert. Stattdessen diagnostizieren die Gutachter·innen psychische Erkrankungen.

In nur knapp 44 Prozent aller Gutachten wurden Befunde über die Erkrankungen bei der Beurteilung berücksichtigt. Als Hauptdiagnose erkannten Gutachter·innen ME/CFS oder Post Covid in 28 von 124 Fällen (22,6 Prozent) an. Das Hauptmerkmal von ME/CFS, die Post-Exertional Malaise (PEM), wurde in nur drei Prozent der Sachverständigenberichte thematisiert. Ebenso blieben medizinisch etablierte Diagnosekriterien für ME/CFS unberücksichtigt – sie kamen in keinem Gutachten vor.

In einem Großteil der Fälle, nämlich 40 Prozent, stellten Gutachter·innen als Hauptdiagnose eine psychische Diagnose, darunter vor allem Neurasthenie, Anpassungs- und Somatisierungsstörung. In knapp 34 Prozent der Fälle attestierten sie den Antragsteller·innen, bei der Schilderung ihrer Symptome zu übertreiben oder zu simulieren – ihre Einschätzungen stützen die Gutachter·innen dabei teilweise auf fragwürdige Schlussfolgerungen und Tests, die im Fall von ME/CFS versagen. 

Die Pensionsversicherungsanstalt schreibt auf Anfrage dazu nur knapp: Ihre Gutachter·innen würden regelmäßig durch die Österreichische Akademie für ärztliche und pflegerische Begutachtung rezertifiziert und seien deshalb auf dem neuesten Stand der Wissenschaft. DOSSIER hat die Ergebnisse der Auswertung auch Spezialist·innen vorgelegt. Ihre Einschätzung fällt eindeutig aus: Die Daten deuten auf Missstände in der Begutachtung hin.

Unbeachtetes Hauptmerkmal

»Wenn PEM nicht miteinbezogen wird, kann die Funktionseinschränkung eines Antragstellers mit vermutetem ME/CFS gar nicht beurteilt werden«, sagt etwa der klinische Psychologe und gerichtliche Sachverständige Markus Gole. »Dann ist die Begutachtung mangelhaft.«

Mit dem Begriff Post-Exertional Malaise (PEM) bezeichnen Fachleute eine Belastungserholungsstörung. Für Betroffene bedeutet das, dass sich ihre Symptome nach Anstrengung verschlimmern oder neue Beschwerden auftreten. In der Diagnostik spielt dieses Merkmal eine besondere Rolle, da sich ME/CFS dadurch von anderen Krankheiten unterscheiden lässt.

INFO
Mit speziellen Untersuchungen, etwa einer Spiroergometrie, lassen sich bei Patient·innen mit PEM organische Auffälligkeiten nachweisen – etwa ein gestörter Energiestoffwechsel auf Zellebene. Da solche Belastungstests aber gerade für schwer Betroffene mit dem Risiko einer dauerhaften Verschlechterung einhergehen, empfehlen Expert·innen für die medizinische Praxis den Einsatz anderer Tests. So gibt es etwa Geräte, die die Handkraft von Patient·innen messen können. Führt man diese Untersuchung zweimal im Abstand von einer Stunde durch, zeigen sich bei Betroffenen mit PEM Anzeichen einer muskulären Erschöpfung. Darüber hinaus kann PEM mit speziellen Fragebögen, wie etwa dem DePaul Symptom Questionnaire, systematisiert erfasst werden.

»Man kann die Diagnose ME/CFS nicht stellen oder überprüfen ohne dieses Hauptmerkmal. Das wäre so, als würde man eine Oberschenkelhalsfraktur begutachten, ohne sich den Oberschenkelhals überhaupt anzuschauen«, sagt der Internist und ME/CFS-Spezialist Christoph Bammer.

Es gibt Untersuchungen, mit denen PEM erhoben werden kann. Ob die PVA mit damit arbeitet, gab die Behörde auf Anfrage nicht bekannt. In den gesichteten Gutachten wurden die betreffenden Tests und Fragebögen nicht erwähnt. Mehr noch: Der Begriff Post-Exertional Malaise kam in den meisten gar nicht vor. Die sogenannten Kanadischen Konsensuskriterien, eine medizinisch etablierte Diagnosefindung für ME/CFS, blieben vollkommen unerwähnt. 

Ignorierte Befunde, überholte Diagnose

Ein zweiter Kritikpunkt an den Gutachten: Vorgelegte Befunde über ME/CFS wurden kaum diskutiert. »Das macht es fraglich, ob die gestellten psychischen Diagnosen auch wirklich vorliegen«, sagt Sachverständiger Markus Gole. Denn um etwa eine Somatisierungsstörung, eine psychosomatische Erkrankung, zu diagnostizieren, müssen zuvor körperliche Erkrankungen, dazu gehört auch ME/CFS, ausgeschlossen werden.

»Natürlich kann ich als Gutachterin oder Gutachter, wenn ich die Vordiagnosen berücksichtige, auch zu einem anderen Ergebnis kommen. Dazu muss ich aber die bisherigen Diagnosen entsprechend würdigen und schlüssig entkräften«, sagt der Psychiater Moritz Mühlbacher, der auch selbst Gutachten für einen Sozialversicherungsträger erstellt.

Auch im Gutachten über Mo Dörrer, jene 35-jährige Post-Covid-Patientin, die um Pflegegeld angesucht hat, passiert das nicht. Eine Neurologin vermerkt dort zwar, dass ein Chronisches Fatigue-Syndrom »postuliert«, also behauptet, wird, sie geht aber nicht weiter darauf ein. Stattdessen stellt sie eine andere Diagnose: Neurasthenie. In vierzehn weiteren Gutachten stellten Ärzt·innen der PVA dieselbe Diagnose.

Mit Neurasthenie hat die Medizin lange Zeit Erschöpfungszustände beschrieben. Das Problem: Im Gegensatz zu ME/CFS handelt es sich dabei um eine psychische Diagnose, die noch dazu als veraltet gilt. »Das ist ein Überbleibsel aus der freudschen Ära. Was die Hysterie im 19. und 20. Jahrhundert bei Frauen war, war die Neurasthenie bei Männern«, sagt Gole.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) listet Neurasthenie auch nicht mehr in ihrer aktuellen Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11), die seit 2022 in Kraft ist. Als medizinisch überholt galt die Diagnose schon zuvor. »Ich kann ehrlich sagen, dass ich in den Jahrzehnten meiner Arbeit die Diagnose nie selbst gestellt oder auch nur gesehen habe. Sie ist seit dem späten 20. Jahrhundert in Europa nicht mehr üblich«, sagt Psychiater Moritz Mühlbacher. 

Diagnose mit Folgen

Grundsätzlich sind Diagnosen, die Gutachter·innen stellen, nicht automatisch ausschlaggebend dafür, ob Anträge genehmigt werden oder nicht. Eine zentrale Rolle spielen sie trotzdem. Im Fall von Anträgen auf Rehageld und Berufsunfähigkeitspension muss, vereinfacht gesagt, beurteilt werden, ob Antragsteller·innen noch einen Beruf im Ausmaß von mindestens 20 Wochenstunden ausüben können. Beim Pflegegeld, ob und wie viel Unterstützung jemand im Alltag braucht.

»Es geht am Ende darum: Was kann diese Person noch?«, sagt Gole. »Für diese Einschätzungen macht es einen wesentlichen Unterschied, ob ME/CFS mit PEM vorliegt oder eine Anpassungsstörung.«  Und es gibt ein weiteres Problem: Einige Tests und Erhebungsmethoden, die die PVA verwendet, sind für Patient·innen mit PEM nicht geeignet. 

Wenn Mo Dörrer an schweren PEM-Symptomen leidet, trinkt sie so wenig wie möglich. Der Grund: Sie schafft es an solchen Tagen nicht, mehrmals auf die Toilette zu gehen. Als Dörrer das bei ihrer Begutachtung schildert, stößt sie auf Unverständnis. Die Ärztin glaubt ihr nicht. Dazu kommt: Die Bürokratie sieht solche Realitäten nicht vor.

Denn um festzustellen, wie viele Stunden Pflege Antragsteller·innen letztlich brauchen, gibt es einen standardisierten Fragebogen. Damit sollen Gutachter·innen etwa erheben, ob Patient·innen beim Zubereiten von Mahlzeiten oder Verrichten ihrer Notdurft Betreuung benötigen. Beantwortet werden können diese Fragen aber bloß mit Ja oder Nein. 

»Das trägt dynamischen Erkrankungen wie ME/CFS überhaupt keine Rechnung«, sagt ME/CFS-Spezialist Christoph Bammer. »Ein solches Tool kann nicht abbilden, dass ein Mensch zum Beispiel in der Lage sein kann, eine kleine Mahlzeit zuzubereiten, danach aber für Tage bettlägerig ist. Was Betroffene an einem guten Tag ausfüllen würden, kann ganz anders sein als das, was sie an einem schlechten Tag oder nach einer Belastung ausfüllen würden.«

Fehlschlüsse durch Unwissen

Ähnlich ist das bei psychologischen Leistungstests, die bei Begutachtungen der Arbeitsfähigkeit zum Einsatz kommen. Manche davon bewerten die Konzentration, andere zielen auf das Gedächtnis. Die Testverfahren gelten in der Praxis als bewährt. Im Fall von Patient·innen mit ME/CFS können sie aber zu falschen Schlüssen führen. Der Grund dafür ist die PEM: Wenn sich Erkrankte einer Belastung aussetzen, zeigen sich die Symptome erst mit einer zeitlichen Verzögerung von zwölf bis 72 Stunden.

»Meiner Erfahrung nach passiert es sehr oft, dass sich Personen vor dem Begutachtungstermin bewusst schonen. Einige wirken dann relativ fit. Wie es ihnen am nächsten Tag geht, fragt niemand mehr«, sagt Sachverständiger Gole. »Es wäre eigentlich eine zweite Befragung und Testung, etwa am darauffolgenden Tag, wichtig. Aber das passiert nicht. Das ist der Haken.« 

So war es auch bei Michaela Berger. »Ich habe mich tagelang geschont, um mit dem Zug überhaupt erst zur Begutachtung kommen zu können«, sagt sie gegenüber DOSSIER.

Ihre letzte psychologische Testung dauert knapp drei Stunden. Im Gutachten vermerkt der Psychologe: »Am Ende des psychodiagnostischen Untersuchungsprozesses hat die Patientin einen psychisch ausgeglichenen, entspannten und einen emotional stabilen Eindruck entstehen lassen.« Was der Gutachter nicht sieht: Während Berger im Empfangsbereich warten muss, legt sie sich auf den Boden und lagert die Füße hoch. Zu Hause fällt sie ins Bett.

Tatsächliche oder Pseudobeschwerden?

Solche Fehlschlüsse betreffen auch einen besonders heiklen Bereich der Begutachtung: die sogenannte Beschwerdenvalidierung. Es geht dabei darum, geschilderte Symptome auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu beurteilen.

Neben ihren eigenen Beobachtungen setzen Gutachter·innen dabei auch auf verschiedene Testverfahren. Eines davon ist das Self-Report Symptom Inventory, kurz SRSI. Vereinfacht gesagt sollen Patient·innen dabei aus einer Liste an Symptomen jene auswählen, die auf sie zutreffen. Ein Teil der Symptome gilt dabei als sehr unwahrscheinlich oder gar unmöglich. Wählt jemand auffällig viele von ihnen aus, kann das als Hinweis dafür gewertet werden, dass diese Person übertreibt oder simuliert. Nur: Einige dieser sogenannten Pseudobeschwerden können bei ME/CFS tatsächlich auftreten. 

Etwa dass Betroffenen an manchen Tagen das Gefühl haben, sich gar nichts merken zu können, oder müde werden, sobald sie zu denken beginnen. »Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ME/CFS-Betroffene oft sehr hohe Werte bei den Pseudosymptomen erzielen und dadurch die Schlussfolgerung vom Gutachter lautet: Die Beschwerdeschilderung ist nicht glaubhaft«, sagt Gole.

Für Antragsteller·innen wie Michaela Berger wird das zum Verhängnis. Bei zwei Begutachtungen musste sie sich dem SRSI-Test stellen. Beide Male werteten Psycholog·innen die Ergebnisse als Beleg dafür, dass Berger bei der Schilderung ihrer Symptome übertreibt. So heißt es in einem der Gutachten etwa: »Das Ergebnis ist aufgrund der Anzahl der bejahten Pseudobeschwerden (...) als praktisch sicherer Nachweis einer ungültigen Beschwerdenangabe zu interpretieren.« 

Fragwürdige Notizen 

Unter Verdacht stehen Antragssteller·innen aber nicht nur, wenn Testergebnisse auffällig ausfallen. In den gesichteten Gutachten vermerkten Sachverständige zum Teil seltsam anmutende Beobachtungen.

Über eine ME/CFS-Erkrankte, die mit dem Rollstuhl zur Begutachtung kam, heißt es: »Der Rollstuhl wurde demonstrativ rechts neben dem Untersuchungssessel abgestellt während der gesamten Untersuchung. Die PW (Pensionswerberin, Anm.) bewegte sich physiologisch uneingeschränkt in der gesamten Ordination und Umkleidekabine. Beim Verlassen dieser wird die Tür schwungvoll in das Schloss fallen gelassen.« 

Ein Psychiater ist wiederum besonders skeptisch, wenn es um die Schilderung von Beschwerden geht: In mehreren Gutachten notiert er »anhaltende und quälende Klagen« und dass Patient·innen »weitschweifig«, »logorrhoisch« oder »dramatisch« über ihre Symptome berichten würden. »Sie gähnt mehrmals und sehr auffällig«, schreibt eine Psychologin im Gutachten zu einer anderen Patientin.

»Gerade im Fall von ME/CFS, wo Symptome schwanken, können sich auf den ersten Blick viele Ungereimtheiten ergeben. Etwa wenn Antragsteller·innen an einem Tag das Haus verlassen können, an anderen aber nicht«, sagt Gole. »In solchen Fällen sollte ich als Gutachter·in aber nachfragen.«

Nach der Begutachtung von Mo Dörrer, die angibt, ihre Wohnung nicht mehr verlassen zu können und die meiste Zeit im Bett zu verbringen, vermerkt die Neurologin: »Auffallend sind ein wenig beschwielte Fußsohlen.« Für diese Beobachtung gibt es eine medizinische Erklärung: Dörrer muss wegen ihrer Autoimmunerkrankungen Medikamente nehmen, die ihr Immunsystem unterdrücken. Ihr Körper schafft es deshalb nicht, bestimmte Viren zu bekämpfen. Sie lassen an ihren Füßen Warzen wachsen, die wie Verhornungen aussehen.

Das könnte die Gutachterin nachvollziehen, denn Dörrers Erkrankungen sind im Gutachten vermerkt. Doch die Ärztin zieht die falschen Schlüsse. Für Dörrer hat das weitreichende Folgen. Sie erfährt davon jedoch erst, nachdem ihr Antrag abgelehnt wird. Denn die Neurologin hatte ihr keine Frage dazu gestellt.