Pillen mit versteckter Botschaft

Abtreibungsgegner·innen bewerben eine Behandlung, die begonnene medikamentöse Schwangerschaftsabbrüche stoppen soll. Was steckt hinter der sogenannten Abtreibungspillen-Umkehr?

Text: Eja Kapeller;
 Illustration: Amy Lauren

Gesundheit11.12.2024 

Die Nummer aus dem Internet führt zu Natascha. »Es gibt keine Garantie, aber es kann durchaus funktionieren«, sagt sie am Telefon. Innerhalb von drei Stunden wird ­Natascha ein Rezept für ein hochdosiertes Hormon­präparat organisieren. Die Tabletten sind für einen ungewöhnlichen Zweck gedacht: Sie sollen eine bereits begonnene medikamentöse Abtreibung stoppen. 

Weil Natascha nicht weiß, dass sie mit einer ­Journalistin telefoniert, haben wir ihr in dieser Geschichte diesen Namen gegeben. Ihre Nummer steht als »Help­line« auf mehreren Websites der österreichischen Lebensrechtsbewegung.

DOSSIER hat die Nummer verdeckt angerufen, da über sie eine fragwürdige medizinische Behandlung vermittelt werden soll: die sogenannte Abtreibungspillen-Umkehr (»abortion pill reversal«). Unter Abtreibungsgegner·innen wird die Therapie gefeiert, abseits davon ist sie umstritten: Laut dem American College of ­Obstetricians and Gynecologists, dem Fachverband von Geburtshelfer·innen und Gynäkolog·innen in den USA, ist die Wirksamkeit des »abortion pill reversal« nicht belegt, der Einsatz »unethisch«.

Einige Expert·innen bezeichnen die Behandlung sogar als möglicherweise gefährlich.

Das Konzept dahinter ist einfach: Bei einem medikamentösen Abbruch nehmen Schwangere zwei Tabletten ein. Die erste enthält Mifepriston und hemmt die Wirkung des körpereigenen Hormons Progesteron, das essenziell für eine Schwangerschaft ist. Die zweite Tablette mit dem Wirkstoff Prostaglandin wird für gewöhnlich ein bis zwei Tage danach genommen.

Sie leitet einen Prozess ein, der einer Fehlgeburt ähnelt: Der Muttermund öffnet sich, die Gebärmutter zieht sich zusammen, und der Embryo geht mit einer Blutung ab. Bei einer »Umkehrtherapie« versucht man, die Wirkung von Mifepriston mit hohen Dosen Progesteron aufzuheben. 

In den USA ist die Behandlung zu einer zentralen Front im Kampf um Abtreibungsrechte geworden. Mehr als ein Dutzend Bundesstaaten erließ Gesetze, die Kliniken dazu verpflichten, Patient·innen über die Möglichkeit einer »Umkehrtherapie« zu informieren.

In anderen verklagten Generalstaatsanwält·innen ­hingegen Organisationen, die das »abortion pill reversal« bewerben. DOSSIER-Recherchen belegen erstmals, dass Abtreibungsgegner·innen rezeptpflichtige Medikamente für eine »Umkehrtherapie« auch in Österreich vermitteln – ohne ärztliches Gespräch und Aufsicht. Was steckt dahinter?

Aus den USA nach Vorarlberg

Wer Nataschas Nummer wählt, landet bei einem Verein in Vorarlberg. Die Plattform für das Leben Vorarlberg nennt Schwangerschaftsabbrüche »vorgeburtliche Kindstötungen« und ist ein zentraler Teil der Lebensrechtsbewegung in Österreich.

Mehrmals wöchentlich rufen ihre Mitglieder etwa zu Mahnwachen vor dem Landeskrankenhaus Bregenz auf, seit in einer Privatordination innerhalb des Gebäudes Abtreibungen durchgeführt werden. Das Krankenhaus sah sich bereits gezwungen, eine Hecke zum Schutz der Patientinnen zu pflanzen, und fordert sogar eine Bannmeile. 

DOSSIER telefoniert an diesem Nachmittag im Oktober mehrere Male mit Natascha. Beim ersten Telefonat rät sie zu einem Ultraschall, um festzustellen, ob die Schwangerschaft nach der Einnahme von Mifepriston noch besteht.

Als sie erfährt, dass ein Untersuchungstermin erst am nächsten Tag möglich ist, schlägt Natascha vor, »zur Überbrückung« gleich mit der Einnahme von Progesteron zu beginnen. Das Problem: Ob das funktioniert oder für Schwangere sogar gefährlich ist, ist unklar.

Die Behandlung, die Natascha beim Telefonat durchgibt, geht auf einen Arzt aus der US-amerikanischen Pro-Life-Bewegung zurück. 2012 veröffentlichte George Delgado eine kleine Fallstudie mit sechs Patient·innen, die nach der Einnahme von Mifepriston mit Progesteron behandelt wurden. 2018 folgte eine weitere Fallstudie mit 754 Patient·innen.

Die Ergebnisse klingen beeindruckend, die Conclusio weitreichend: Fast die Hälfte der behandelten Schwangeren gebar gesunde Babys, unter jenen, die Progesteron injiziert bekommen hatten, waren es sogar 64 Prozent. Die Therapie, schlussfolgerte Delgado, sei sicher und wirksam. Gerade das ist in medizinischen Fachkreisen aber umstritten.

In der Medizin wird Progesteron schon lange etwa bei Zyklusstörungen oder im Rahmen von künstlichen Befruchtungen eingesetzt. Dafür ist der Wirkstoff auch in Österreich zugelassen. Nicht zugelassen ist das Hormon hingegen zur Prävention von Frühgeburten.

Laut Fachverbänden wie der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe kann sein Einsatz bei Schwangeren, die bereits eine Frühgeburt erlitten haben, aber erwogen werden, da es Studien gibt, die seine Wirksamkeit für diesen Zweck belegen. Anders ist das im Fall der »Umkehrtherapie«. Forschung dazu, vor allem am Menschen, ist rar. 

Studie mit Makel

»Im Moment ist es pure Quacksalberei«, sagt Mitchell Creinin von der University of California, Davis, gegenüber DOSSIER. Er hat die bisher einzige randomisierte klinische Studie zur Wirksamkeit der »Umkehrtherapie« geleitet.

Bei einem solchen Studiendesign werden Teilnehmer·innen nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen eingeteilt. Eine Gruppe erhält das Medikament, dessen Wirkung getestet werden soll. Die andere Gruppe, die sogenannte Kontrollgruppe, hingegen ein Placebo. In der Forschung gelten Studien dieser Art als Goldstandard, denn sie erlauben es, die Wirkung einer Behandlung eindeutig festzustellen. 

Mit Creinins Studie wollte man Delgados Behauptungen erstmals in einem klinischen Setting prüfen. Sie musste jedoch vorzeitig gestoppt werden, da drei Teilnehmerinnen – davon zwei aus der Placebo- und eine aus der Progesteron-Gruppe – starke Blutungen erlitten hatten.

»Mich beunruhigt der Umstand, dass der Abbruch durch das Weglassen der zweiten Pille nicht vollendet wird«, sagt Creinin. »Das könnte die Behandlung gefährlich machen.«

Delgados Studie hat einen großen Makel: Sie entspricht nicht wissenschaftlichen Standards. Die Autor·innen gaben Daten, etwa zur Sicherheit der Therapie, nicht ausreichend bekannt. Die Studie führt zum Beispiel nicht an, wie es Teilnehmerinnen erging, die nach der Behandlung keine Kinder zur Welt brachten.

»Vielleicht haben sie auch starke Blutungen erlitten«, sagt Creinin. Delgado gibt gegenüber DOSSIER an, dass er keine schweren Blutungen infolge der »Umkehrtherapie« wahrgenommen habe. In einer Stellungnahme schreibt er: »Wir bieten die Behandlung an, da alle Belege darauf hinweisen, dass das ›abortion pill reversal‹ sicher und wirksam ist. Darüber hinaus gibt es keine alternative Behandlung für Frauen, die versuchen, ihre chemischen (sic) Abtreibungen rückgängig zu machen.« 

Es ist fraglich, ob eine Therapie überhaupt bessere Ergebnisse liefert
als keine Therapie.

Mitchell Creinin, University of California, Davis

Ob das mit seiner Behandlung überhaupt gelingt, wird von Expert·innen aber angezweifelt. So wurden ursprüngliche Teilnehmerinnen von Delgados Studie ausgeschlossen, wenn etwa eine Ultraschalluntersuchung zeigte, dass die Embryonen bereits vor der Gabe von Progesteron abgestorben waren.

Das könnte die Erfolgsquote verzerrt haben, schlussfolgert ein Artikel der Forschungsgruppe Advancing New Standards in Reproductive Health an der University of California, San Francisco. »Wir wissen, dass Mifepriston allein nicht sehr effektiv ist«, sagt Mitchell Creinin dazu. »Es ist daher fraglich, ob eine Therapie überhaupt bessere Ergebnisse liefert als keine Therapie.«

Rezept ohne Aufklärung

Zurück in Österreich erwähnt Natascha von all dem nichts. Nach mehreren Telefonaten sagt sie, dass sie ein Rezept für ein hochdosiertes Progesteron-Präparat besorgen kann. Verschreiben soll es ein Münchner Arzt.

Dafür nimmt Natascha Name und Geburtsdatum entgegen. Sie fragt kurz nach Vorerkrankungen und erklärt, dass das Medikament Schwindel und Müdigkeit auslösen kann. »Aber schaden tut es nicht.«

Wenn Ärzt·innen Medikamente für Behandlungen verschreiben, für die diese nicht zugelassen sind, ist das nicht verboten, sondern als sogenannter Off-Label-Use erlaubt und üblich. In so einem Fall haben Ärzt·innen jedoch erhöhte Sorgfalts- und Aufklärungspflichten.

Die Ärztekammer schreibt auf DOSSIER-Anfrage, dass »insbesondere über die Tatsache informiert werden muss, dass die geplante Anwendung (noch) nicht von der Zulassung gedeckt ist«. Natascha sagt während des Telefonats dazu kein Wort.

Sie schlägt auch kein Gespräch mit dem Mediziner vor, der das Medikament verschreiben soll. »Wir empfehlen ratsuchenden Schwangeren dringend, mit ihrem Frauenarzt Kontakt aufzunehmen«, schreibt die Plattform für das Leben Vorarlberg dazu später in einer Stellungnahme gegenüber DOSSIER.

Darin heißt es auch: Der Verein vermittle die Behandlung, da es »weltweit Erfahrungen und Studien« gebe, die ihre Sicherheit und Wirksamkeit belegen würden, und da Progesteron in zahlreichen gynäkologischen Anwendungsgebieten zum Einsatz komme.

Tausend kleine Schnitte

Dass Abtreibungsgegner·innen eine medizinische Behandlung bewerben, die nicht ausreichend belegt, schlimmstenfalls sogar gefährlich ist, das ist die eine Sache. Glaubt man Expert·innen, die sich für reproduktive Rechte einsetzen, dann geht es bei der »Umkehrtherapie« aber auch um eine zweite, weitaus subtilere Sache: nämlich um eine Botschaft.

»Die Adressatinnen dieses Angebots sind nur zu einem ganz kleinen Teil Frauen, die bereits die Abtreibungspille genommen haben und vielleicht daran interessiert sind, das irgendwie zu stoppen«, sagt etwa die Psychologin Miriam Gertz, die zu Schwangerschaftsabbrüchen und Stigmatisierung forschte.

Vielmehr richte sich diese Öffentlichkeitsarbeit an eine andere Zielgruppe: an Frauen, die vielleicht in Zukunft abtreiben. »Bei ihnen soll Zweifel und Unsicherheit geschürt werden«, sagt Gertz. »Und das funktioniert unabhängig davon, ob die Behandlung wirkt oder nicht.«

Dass es bei der »Abtreibungspillen-Umkehr« um mehr gehen könnte als um eine medizinische Behandlung, zeigt auch ein Blick in die USA. Dort sind Abtreibungen so umkämpft wie seit fast 50 Jahren nicht mehr. 2022 kippte der konservativ dominierte Oberste Gerichtshof das bundesweite Recht auf Schwangerschaftsabbruch. 

Seither liegt die Entscheidung darüber bei den einzelnen Bundesstaaten. Viele verschärften ihre Abtreibungsgesetze. In 13 Bundesstaaten, vor allem im konservativen Süden, sind Abtreibungen ganz verboten. Im Vergleich dazu scheint die Debatte über die »Umkehrtherapie« wie eine Randnotiz. 

»Für die Antiabtreibungsbewegung steht das ›abortion pill reversal‹ aber nach wie vor weit oben auf der Agenda«, sagt Mary Ziegler. Sie ist Professorin für Recht an der University of California, Davis, School of Law, und beschäftigt sich mit der Abtreibungsdebatte in den USA.

Ihre Erfolge stellen die Pro-Life-Bewegung gleichzeitig vor eine Herausforderung: Innerhalb der Bevölkerung sind Abtreibungsverbote so unbeliebt wie lange nicht mehr. Das zeigte sich auch bei der US-Wahl. Parallel zur Präsidentschaftswahl stimmten Wähler·innen in sieben von zehn Bundesstaaten dafür, das Recht auf Abtreibung in der Landesverfassung zu verankern. 

»Statt sich ausschließlich auf umfassende Abtreibungsverbote zu konzentrieren, versucht die Bewegung deshalb, den Zugang zu Abtreibungen mit tausend kleinen Einschnitten einzuschränken«, sagt Ziegler. Das »abortion pill reversal« ist so ein Einschnitt.

Auch die einflussreiche konservative Heritage Foundation rückte die Behandlung in ihren Fokus. Sie förderte erst kürzlich eine Medienkampagne der American Association of Pro-­Life Obstetricians and Gynecologists, eines Verbands von Pro-Life-Geburtshelfer·innen und Gynäkolog·innen, mit 100.000 Dollar. 

Nischen-Prozedere

Wie viele Schwangere eine »Abtreibungspillen-Umkehr« tatsächlich in Anspruch nehmen, lässt sich nicht sagen. Bei der Pro-Life-Organisation Heartbeat International, die eine weltweite Hotline für das »abortion pill reversal« betreibt, gingen im Jahr 2023 laut eigenen Angaben rund 3.000 Anrufe ein.

Informationen zu Herkunftsland oder demografischen Daten der Anrufer·innen teilt die Organisation nicht. Wie viele Anfragen zur ­»Umkehrtherapie« die Plattform für das Leben erhält, gab der Verein gegenüber DOSSIER nicht bekannt. Abseits davon gibt es keine Zahlen oder eine unabhängige Stelle, die Daten dazu erhebt.

Aus der Forschung weiß man aber zwei wichtige Dinge. Erstens: Nur sehr wenige Frauen bereuen eine Abtreibung. Zwar haben Patient·innen danach eine Vielzahl an Emotionen. Ein Großteil – mehr als 95 Prozent – ist aber auch Jahre später der Meinung, dass der Abbruch richtig war.

Und zweitens: Wenn sich Schwangere für eine Abtreibung entscheiden, sind sie dabei auch nicht unschlüssiger als vor anderen medizinischen Behandlungen. Aus einer Umfrage von Wissenschaftler·innen geht hervor, dass sich Schwangere vor einer Abtreibung sicher sind – sicherer als etwa Patient·innen, die sich für eine Knieoperation entscheiden.