Hätte sie der Frau helfen können? Die Frage beschäftigt Krankenpflegerin Lisa Gruber (Name geändert) noch heute. Die Patientin war jung, gerade einmal Anfang 40. Bei der Essensverabreichung war unbemerkt Nahrung in die Lunge der Frau geraten. »Stille Aspiration« heißt die gefürchtete Komplikation, eine Lungenentzündung kann die Folge sein. Lisa hat solche Fälle im Krankenpflegestudium durchgespielt, sie kennt die subtilen Symptome: Die Patientin räuspert sich und hustet vermehrt, etwa beim Trinken. Hätte Lisa die drohende Gefahr bemerken können? Vielleicht, wenn sie wenigstens ein paar Minuten Zeit für die Patientin gehabt und sie bei der Nahrungsaufnahme beobachtet hätte. Vielleicht würde die Frau heute noch leben, sagt Lisa. Stattdessen kommt es zum Schlimmsten. Die Lunge der Patientin entzündet sich, die Frau wird eilig auf die Intensivstation verlegt und stirbt. All das ist jetzt schon Monate her, aber Lisa lässt die Sache keine Ruhe. Denn es war kein Einzelfall.
Überlastung, Unkonzentriertheit, Versäumnisse – »es gab keinen Dienst mehr, wo man nicht auf Fehler von Kolleg·innen oder eigene Fehler draufgekommen ist«, sagt Lisa. Die Geschichten, die sie erzählt, sind drastisch, bildhaft und besorgniserregend: etwa von dem Patienten, dessen Wunddrainage zu selten kontrolliert wurde. Bis Lisa nach zu langer Zeit das Leintuch hob und sah, dass er bereits in seinen eigenen Körperflüssigkeiten lag, und sofort Notfallmaßnahmen einleiten musste. Von dem Diabetiker, dem den ganzen Tag kein Essen gebracht wurde, weil sich jede·r auf die anderen verlassen hatte. Oder von dem Patienten, dessen Leben noch knapp gerettet werden konnte – woraufhin die Angehörigen Lisa überschwänglich dankten. Was die Familie nie erfuhr: Der Patient war überhaupt erst durch einen vermeidbaren Behandlungsfehler in Lebensgefahr geraten. Die Ereignisse hinterlassen Spuren bei Lisa: »Ich habe alles nur noch durch einen Schleier gesehen«, sagt sie.
All das hat Lisa als Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin innerhalb weniger Monate an einem renommierten Krankenhaus in Österreich erlebt. Mittlerweile arbeitet sie dort nicht mehr. Denn nachdem die Fehler und Versäumnisse immer häufiger werden, trifft Lisa gemeinsam mit Kolleg·innen eine Entscheidung: »Wir haben das bei den Vorgesetzten gemeldet.«
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