Das Künstlerzimmer der Wiener Hofburg ist bei der Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) bis auf den letzten Platz gefüllt. Kein Wunder, dass der Andrang bei dem Vortragsblock am vierten Konferenztag groß ist: Das Thema ist brisant und gleichzeitig für viele Mediziner·innen Neuland. Es geht um Post Covid und Schwierigkeiten bei der Erstellung von Gutachten.
Zwei bis vier Prozent aller Covid-Infizierten entwickeln laut Studien Post Covid. Seine schwerste Verlaufsform ist ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom), eine Erkrankung, die nach Virusinfektionen auftreten kann und bereits vor der Corona-Pandemie bekannt war.
INFO
ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom) ist eine schwere Multisystemerkrankung – das bedeutet, dass die Erkrankung mehrere Organsysteme gleichzeitig betrifft. Betroffene können deshalb an einer Vielzahl von Symptomen leiden – etwa Kopfschmerzen, schwerer Erschöpfung, Schlafproblemen oder Kreislaufregulationsstörungen.
Das Hauptsymptom der Erkrankung ist die Post-Exertional Malaise (PEM). Damit wird eine unverhältnismäßige Zustandsverschlechterung nach Anstrengungen bezeichnet. Die gesundheitliche Verschlechterung kann Stunden, Tage oder Wochen anhalten – und im Extremfall sogar bleibend sein.
Bis heute wurde kein praktikabler Biomarker, also kein messbares biologisches Merkmal, identifiziert, mit dessen Hilfe ME/CFS eindeutig diagnostiziert werden kann. Ebenso gibt es nach wie vor keine kausale Therapie für die Erkrankung. Laut aktuellen Studien leiden in Österreich zwischen 26.000 und 80.000 Menschen an ME/CFS. Expert·innen schätzen, dass sich diese Zahl durch die zahlreichen Covid-Infektionen in den nächsten Jahren verdoppeln könnte.
Betroffene leiden oft unter derart schweren Symptomen, dass sie ihren Alltag nicht mehr bewältigen, nicht mehr arbeiten und mitunter nicht einmal mehr das Bett verlassen können. Was die Lage für sie besonders schwierig macht: In der Medizin und in der Forschung wurde ME/CFS über Jahrzehnte vernachlässigt.
Lange Zeit war die Krankheit auch nicht Teil der ärztlichen Ausbildung. Deshalb sind Fortbildungen für Mediziner·innen zentral: Dabei sollen die Ärzt·innen lernen, Kranke in Praxen und Ambulanzen richtig zu behandeln und ihren Gesundheitszustand zutreffend zu beurteilen. Schließlich müssen sie Post-Covid-Erkrankte mitunter auch für die Anerkennung von Sozialleistungen begutachten. Per Gesetz sind Mediziner·innen sogar dazu verpflichtet, regelmäßig an Fortbildungen teilzunehmen, um auf dem neuesten Stand zu bleiben.
Doch wie DOSSIER-Recherchen zeigen, werden bei Fortbildungen zum Thema Post Covid und ME/CFS mitunter fragwürdige Inhalte vermittelt, die in Fachkreisen kritisiert werden und Patient·innen letztlich sogar schaden können. So auch bei der Jahrestagung der ÖGN in der Hofburg, die sich Ärzt·innen als Fortbildung anrechnen lassen können.
Irreführende Zahlen
Eine klinische Psychologin und gerichtlich zertifizierte Sachverständige referiert dort Mitte März 2024 zum Thema »Beschwerdenvalidierung« – einem heiklen Gebiet: Es geht darum, wie Psycholog·innen und Ärzt·innen Beschwerden hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts beurteilen können – zum Beispiel im Rahmen der Erstellung eines Gutachtens.
Ihren Vortrag beginnt die Psychologin mit einem Vergleich: Während Ärzt·innen Patient·innen behandeln würden, die gesund werden wollen, habe sie es als Gutachterin der neuropsychologischen Diagnostik für Arbeits- und Sozialgerichte »eher mit Patient·innen zu tun, die nicht gesund werden wollen«. Sie nennt auch einen Grund dafür: Diese Personen würden durch die Erkrankung »Zugriff auf Aufmerksamkeit« und »einen sehr großen Krankheitsgewinn« erhalten. Damit werden in der Medizin und in der Psychologie Vorteile bezeichnet, die mit einer Erkrankung einhergehen können – etwa Pensionszahlungen oder Zuwendung durch Angehörige.
Dann stellt die Vortragende eine beachtliche Zahl in den Raum: In ihrem Bereich müsse sie davon ausgehen, dass 70 Prozent der Klient·innen simulieren. Ein extrem hoher Prozentsatz – für den DOSSIER allerdings keinen Beleg finden konnte.
Auf Anfrage teilt die Sachverständige mit, dass sie die Zahlen nicht aus Statistiken entnommen habe, »sondern aus der eigenen Praxis«. Sie führt aus: »In dem Zitat, das Sie von mir genannt haben, fehlt ein wichtiges Detail. Im Rahmen meiner Tätigkeit mache ich die Erfahrung, dass etwa 70 Prozent der Klient·innen aggravieren oder ihre Leistung beschönigen. Ich traf hier ebenso einen Vergleich mit der Verkehrspsychologie, wo ich ein umgekehrtes Phänomen mit dem Bereich der Dissimulation beobachten kann.«
Bei den »70 Prozent« sind also auch Führerscheinkandidat·innen und Verkehrssünder·innen inkludiert, die Einschränkungen ihrer Fahrtüchtigkeit herunterspielen. Mit Post Covid und ME/CFS hat das wenig zu tun.
»Es tut mir sehr leid, wenn Sie den Eindruck hatten, ich wollte mit meinen Aussagen Misstrauen bei Gutachter·innen gegenüber ihren Klient·innen schüren«, schreibt die Sachverständige weiter.
Doch genau diesen Effekt befürchtet Kevin Thonhofer von der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS: »Wenn eine Vortragende solche irreführenden Aussagen auf dem Podium einer wichtigen Fachtagung tätigt, dann bleibt bei anwesenden Ärzt·innen und Gutachter·innen ein falsches Bild hängen: nämlich dass der Großteil der Patient·innen simulieren würde.«
Gerade bei Begutachtungen für die Gewährung von Berufsunfähigkeitspension seien ME/CFS-Patient·innen immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie durch ihre Erkrankung einen Krankheitsgewinn erhielten, so Thonhofer. »Weil bei ME/CFS die Expertise zur Diagnostik fehlt, sind solche Vorurteile besonders schlimm. Sie führen dann dazu, dass Anträge fälschlicherweise abgelehnt werden.«
Alte Thesen
DOSSIER hat an einer weiteren Fortbildung teilgenommen, bei der fragwürdige Inhalte vermittelt wurden: Unter dem Titel »ME/CFS – ein Syndrom ohne objektivierbare Diagnosekriterien?« organisierte der Verein für Psychiatrie und Neurologie Mitte April 2024 einen Onlinevortrag. Als Vortragende geladen war eine Neurologin vom Wiener AKH.
Das Resümee ihres Vortrags vor 42 Zuhörer·innen: Da die Ursache von ME/CFS nicht geklärt ist und es dafür auch keine kausale pharmakologische Therapie, also kein Medikament, gibt, sollte man ME/CFS als psychosomatische Erkrankung begreifen, die mit Verhaltenstherapie behandelbar ist. Das würde bedeuten: Die Psyche spielt bei der Entstehung der Erkrankung oder ihrer Aufrechterhaltung eine wichtige Rolle.
Die Annahme, dass es sich bei ME/CFS um eine psychosomatische Erkrankung handelt, wird in Fachkreisen nicht nur heftig kritisiert. Laut langjährigen ME/CFS-Expert·innen und Patient·innenorganisationen hat sie für Patient·innen auch fatale Folgen: Fehlbehandlungen.
Zwar gibt es Studien, die eine Verbesserung des Gesundheitszustands bei ME/CFS-Patient·innen nach einer Verhaltenstherapie dokumentieren – doch ihre wissenschaftliche Aussagekraft ist zweifelhaft.
Zu diesem Befund kam die britische Gesundheitsbehörde National Institute for Health and Care Excellence (NICE): In einem umfassenden Bericht aus dem Jahr 2021 bewertete sie die Qualität der Ergebnisse von 19 Studien, die die Wirksamkeit von Verhaltenstherapie im Fall von ME/CFS untersuchten, und stufte sie als »niedrig« bis »sehr niedrig« ein – oder sie bezog Studien aufgrund mangelhafter Methodik gar nicht erst in den Review ein.
Laut den aktuellen Leitlinien der britischen Behörde sollte Verhaltenstherapie nur als unterstützende Maßnahme angeboten werden. In Deutschland kam das zuständige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zu ähnlichen Ergebnissen.
Die Vortragende der ME/CFS-Fortbildung des Vereins für Psychiatrie und Neurologie sieht das auf Nachfrage von DOSSIER anders. Sie sagt: »Die größten und erfolgreichsten Therapiestudien zur Reduktion der Fatigue bei ME/CFS sind verhaltenstherapeutische Studien, das zeigen auch mehrere Metaanalysen«. Nur: Dabei stützt sie sich unter anderem auf jene Studien, deren Aussagekraft von der britischen Gesundheitsbehörde NICE in Zweifel gezogen wurde oder die sie aufgrund mangelhafter Methodik erst gar nicht in ihren umfassenden Review einschloss.
Auch die Metaanalysen, die die Vortragende gegenüber DOSSIER als Quellen angab, beziehen sich auf Studien, deren Aussagekraft von NICE infrage gestellt wurde. In einer der Studien geben die Autor·innen sogar selbst zu bedenken, dass die Wirksamkeit von Verhaltenstherapie ungewiss ist.
Trotzdem schließt sich auch der Verein für Psychiatrie und Neurologie, der die Veranstaltung organisiert hat, auf Nachfrage von DOSSIER den Aussagen seiner Vortragenden an.
Falsche Annahmen, fatale Folgen
»Die Behandlungsoptionen, die mit dem Erklärungsmodell einer psychosomatischen Erkrankung einhergehen, sind für ME/CFS-Betroffene nicht nur unpassend, sondern können Patient·innen schaden und bis hin zu bleibender Bettlägerigkeit führen«, sagt Kevin Thonhofer.
Der Grund dafür: Das psychologische Krankheitsverständnis von ME/CFS gründet auf der Annahme, dass Erkrankte aus unberechtigter Angst vor einer gesundheitlichen Verschlechterung Aktivität vermeiden. In der Folge würden sie tatsächlich körperlich abbauen.
Wenn Therapeut·innen ME/CFS-Patient·innen mit kognitiver Verhaltenstherapie behandeln, versuchen sie deshalb, diese vermeintlich problematischen Denkmuster zu verändern und Patient·innen zu Aktivität zu motivieren. Gerade diese Anstrengung kann Betroffenen aber schwer schaden: Die sogenannte Post-Exertional Malaise (PEM) – eine Symptomverschlechterung nach Anstrengung – gilt sogar als Hauptsymptom von ME/CFS.
»Psychotherapie kann bei ME/CFS keinen kurativen Anspruch haben. Dies erzeugt falsche Erwartungen und im ungünstigsten Fall einen Druck, der die Betroffenen überlastet und dadurch Schäden anrichtet«, sagt die deutsche Psychotherapeutin Bettina Grande zu DOSSIER.
Bettina Grande und ihr Ehemann, der Psychotherapieforscher und Psychosomatiker Tilman Grande, begleiten ME/CFS-Patient·innen und publizieren auch zu dem Thema. »Psychotherapie kann lediglich dabei helfen, zu lernen, mit der Krankheit umzugehen. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, dass sie sich auf PEM ausrichtet und anerkennt, dass es sich bei ME/CFS ganz klar um eine körperliche Erkrankung handelt«, so Bettina Grande.
In Studien konnten Wissenschaftler·innen mehrfach körperliche Veränderungen bei ME/CFS-Patient·innen messen, etwa Veränderungen des Immunsystems und des Nervensystems oder Durchblutungsstörungen. »Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass es sich dabei um psychosomatische Veränderungen handelt«, sagt Tilman Grande. Ähnlich formulierte es der Neurowissenschaftler und ME/CFS-Forscher David Putrino kürzlich in einem Interview mit der APA.
Wenig Kontrolle
Wie bei der Jahrestagung der ÖGN handelte es sich auch bei dem Vortrag des Vereins für Psychiatrie und Neurologie – zumindest dem Anschein nach – um eine von der Österreichischen Akademie der Ärzte, einem Tochterunternehmen der Österreichischen Ärztekammer, zugelassene Fortbildung.
Das bedeutet, dass sich Ärzt·innen die Veranstaltungen für die gesetzliche Fortbildungspflicht anrechnen lassen können. Die Fortbildungen müssen demnach auch bestimmte Qualitätskriterien erfüllen – unter anderem müssen sich ihre Inhalte an der »ärztlichen Wissenschaft und Erfahrung« und an der »Verbesserung der medizinischen Versorgung zum Wohle des Patienten« orientieren. Kontrolliert wurde das im Fall der zwei Veranstaltungen allerdings nicht.
Laut Ärztekammer handelt es sich bei der ÖGN um einen akkreditierten Fortbildungsanbieter. Fortbildungen von solchen Anbietern überprüft die Kammer nur stichprobenartig.
»Die inhaltliche Verantwortung für die Fortbildung und damit auch für die Vortragsinhalte«, so die Ärztekammer, tragen einerseits die Vortragenden und andererseits der Fortbildungsanbieter – in diesem Fall also die ÖGN. »Trotz geeigneter Qualitätssicherungsprozesse« könne man aber im Vorhinein nie restlos gesichert bewerten, was Vortragende tatsächlich präsentieren werden.
DOSSIER hat dazu auch mehrfach Anfragen an den Vorstand der ÖGN gestellt, bis Redaktionsschluss aber keine Antwort erhalten.
Ärztekammer kündigt Überprüfung an
Möglicherweise wird die Fachgesellschaft ÖGN aber gegenüber der Ärztekammer Fragen beantworten müssen: »Wir nehmen jeden Vorwurf ernst. Die Akademie der Ärzte wird das überprüfen«, heißt es von der Ärztekammer gegenüber DOSSIER.
Auch im Hinblick auf den Vortrag des Vereins für Psychiatrie und Neurologie stellen sich Fragen: Gegenüber DOSSIER gab der Verein an, dass seine Fortbildung zu ME/CFS von der Akademie der Ärzte approbiert und damit für Ärzt·innen anrechenbar war. Dazu habe man auch eine Bestätigung seitens der Akadmie der Ärzte erhalten. Die Ärztekammer schreibt auf DOSSIER-Anfrage hingegen, dass der Verein zwar als Fortbildungsanbieter zugelassen, die Fortbildung zu ME/CFS »in der Datenbank der Kammer aber nicht bei diesem Anbieter erfasst« sei.
Hat der Verein den Vortrag also fälschlicherweise als anrechenbare Fortbildung ausgewiesen? Auch in diesem Fall will die Akademie der Ärzte eine Überprüfung einleiten und die Sachlage klären.
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