Eine unsichtbare Last

Jeder Mensch, der Psychotherapie braucht, soll sie bekommen. Das war der hehre Wunsch hinter dem Psychotherapiegesetz Anfang der 1990er-Jahre, gekommen ist es anders. Wer Hilfe sucht, ist heute noch zu oft auf sich allein gestellt.

Text: Catharina Felke; Illustration: Ilona Schadauer

Gesundheit25.3.2022 

Am häufigsten verwendet sie das Wort »Glück«. Glück, gerade diesen Job zu haben, Glück, einen Platz bekommen zu haben, Glück, dass die Stunden immer wieder genehmigt würden. Glück, Glück, Glück. 14 Mal fällt das Wort in einer Stunde. Dabei ist Manuela Gröhler kein Mensch, der sich auf den Zufall verlässt.

Immer habe sie alles selbst in die Hand genommen. Analysiert, geschaut, wie man weiter vorgehen könne, das sei schon immer so gewesen. In ihrem ersten Job, dann wieder in der Grundausbildung zur Polizistin. »Und dann konnte ich’s auf einmal nicht. Das musste ich mir eingestehen. Und ich musste es mir oft eingestehen, weil ich zu zig Leuten gehen musste, bis ich endlich wo gelandet bin, wo ich dann richtig war, wo ich dann die Hilfe bekommen habe, die ich eigentlich gebraucht habe.« 

Gröhler ist bereits einige Jahre als Polizistin im Dienst, als ihr damaliger Partner sie vergewaltigt. Die Hilfe, von der sie spricht, ist eine psychotherapeutische Behandlung. Dass sie diese seit über drei Jahren erhält, ist vor allem ihrem Durchhaltevermögen zu verdanken.

Manuela Gröhler heißt in Wirklichkeit anders, aber ihre Geschichte zeigt auf, was in der niedergelassenen psychischen Versorgung in Österreich schiefläuft. Gröhler sagt, heute gehe es ihr ganz gut, und man glaubt es ihr. Sie brauche keine Medikamente mehr, sei im aktiven Dienst und könne auch mit schwierigen Situationen gut umgehen. Angemessen, korrigiert sie sich, gut sei relativ. Die Belastung sei nach wie vor sehr hoch. »Aber wenn ich nicht so viel Glück gehabt hätte, ich weiß nicht, wo ich heute stünde.« 

Seit mehr als 30 Jahren ringen Politik, Sozial­versicherung und Berufsvertretungen schon um die kassenfinanzierte Psychotherapie – eine Baustelle ist sie bis heute.

Was Psychotherapie ist, wer sie ausüben darf und welche Ausbildung abgeschlossen werden muss, um als Psychotherapeut·in zu arbeiten, ist seit 1991 im Psychotherapiegesetz geregelt. Ein Jahr später trat die 50. Novelle des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG) in Kraft, die die psychotherapeutische Behandlung der ärztlichen gleichgestellt hat.

»Wir haben damals gekämpft. Jeder Mensch, der Psychotherapie brauchte, sollte sie auch bekommen«, sagt Alfred Pritz, Rektor der Sigmund-Freud-Universität in Wien, der einst maßgeblich an der Entstehung des Psychotherapiegesetzes beteiligt war.

Seit 1992 wird die Psychotherapie als Kassenleistung bezahlt. Voraussetzung dafür ist, dass eine psychische Erkrankung nach dem ICD-10-Katalog der Welt­gesundheitsorganisation (WHO) vorliegt und eine ärztliche Untersuchung erfolgt ist. Das klingt klar definiert und machbar, in Wirklichkeit sehen die Verhältnisse jedoch anders aus.

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