Reden wir sachlich über Cannabis

In Kooperation mit VICE

Cannabis4.10.2017 

Stellen Sie sich Folgendes vor: Bundeskanzler Christian Kern sitzt in einem Raum voller junger Menschen und erklärt, warum die Bundesregierung Cannabis in Österreich legalisieren wird. Jeder soll das bisher verbotene Suchtmittel anbauen und konsumieren dürfen. Wer sich nicht selbst die Mühe machen will, kann sich in einem der staatlich konzessionierten Shops versorgen.

„Unser bisheriges System funktioniert nicht“, sagt der Kanzler entschlossen. Das Verbot schade den Bürgerinnen und Bürgern, schütze Jugendliche nicht ausreichend und finanziere zudem das organisierte Verbrechen. „Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren“, stimmt ihm der frühere Wiener Polizeipräsident zu. „Die Gefahr für unsere Kinder, für unsere Städte und Gemeinden ist zu groß.“

In Österreich ist die Szene schwer vorstellbar, in Kanada hat sie sich im vergangenen April zugetragen: Premierminister Justin Trudeau und Bill Blair, ehemaliger Polizeichef von Toronto, standen in einer Live-Sendung von VICE Canada Rede und Antwort. Sie begründeten ausführlich, warum die kanadische Regierung Cannabis ab 2018 freigeben wird. Mit der Legalisierung löst Trudeau eines der zentralen Versprechen ein, mit denen er 2015 die Wahlen gewonnen hat: Rund 40 Prozent der Stimmberechtigten wählten den Liberalen damals zum Premierminister.

Land der „Haschtrafiken“

Österreich wählt am 15. Oktober einen neuen Nationalrat, das Thema Cannabis spielt hier kaum eine Rolle. Keine der Parteien spricht sich offensiv dafür aus, die Rechtslage grundsätzlich zu überdenken. Vielleicht aus gutem Grund: Gab es in den vergangenen Jahren Diskussionen über eine mögliche Liberalisierung, wurden diese meist emotional geführt. Setzten sich Parteien für eine Freigabe ein, wurden sie vom politischen Gegner als Befürworter von „Haschtrafiken“ abgestempelt. Für eine sachliche Diskussion blieb meist kein Platz.

Dabei gäbe es Diskussionsbedarf, das zeigen schon die Zahlen: Laut Bundeskriminalamt gab es 2016 in Österreich erstmals mehr als 30.000 Anzeigen wegen Cannabis-Delikten – Tendenz stark steigend. Es sind die sogenannten Vergehenstatbestände – kleine Delikte, wie der Besitz von wenigen Gramm Cannabis zum Eigengebrauch –  die immer öfter zur Anzeigen kommen. Die Fälle werden strafrechtlich nicht weiterverfolgt, sondern müssen von der Polizei an die zuständigen Gesundheitsbehörden übergeben werden. Diese eruieren dann, ob eine Therapie nötig ist. Laut Drogenbericht des Gesundheitsministeriums wurde zuletzt nur bei einem von 16 Cannabis-Fällen ein behandlungsrelevanter Konsum festgestellt. Eine pädagogische Maßnahme nennen die einen diese Vorgangsweise, eine „unglaubliche Ressourcenverschwendung“ die anderen.

Redebedarf gibt es aber insbesondere bei einer anderen Seite: Chronisch kranke Patienten klagen über den schwierigen Zugang zu teuren Cannabispräparaten, die laut Befürwortern beispielsweise Schmerzlinderung mit vergleichsweise geringen Nebenwirkungen versprechen. Die Abgabe von natürlichem Cannabis, das günstiger und nach Meinung mancher Mediziner und Patienten wirksamer wäre, ist gänzlich verboten. Wer es sich trotzdem besorgt, wird vom Patienten zum Straftäter.

Themenschwerpunkt: Cannabis

Anlässlich der Nationalratswahl wollen wir deshalb einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten und starten in Kooperation mit VICE eine Artikelserie: Warum können wir nicht sachlich über Cannabis sprechen? – diese Frage stand am Beginn der gemeinsamen Recherche. Wir wollten wissen, warum sich Österreichs Parteien mit dem Thema Cannabis schwertun, weshalb die Diskussion im Wahlkampf kaum Platz hat und welche Rolle die Medien dabei spielen.

Um Klarheit zu schaffen, welche Positionen die wahlwerbenden Parteien in Hinblick auf Cannabis vertreten, haben wir sie standardisiert befragt. Die Antworten reichen von völliger Freigabe bis zu einer Verschärfung der Gesetze. Eine der Großparteien zeigt sich erstmals liberaler als in der Vergangenheit – und tritt nun für die weitgehende Freigabe von Cannabis zu medizinischen Zwecken ein.

Doch was ist in Österreich überhaupt erlaubt und was verboten? Das Suchtmittelgesetz wurde in den vergangenen zwei Jahren zweimal novelliert – VICE-Redakteur Tori Reichel beantwortet die wichtigsten Fragen.

In der gesamten EU ist Cannabis die am häufigsten konsumierte illegale Droge – wie die Länder mit Verstößen umgehen, unterscheidet sich aber deutlich. Wir zeigen Ihnen anhand von interaktiven Grafiken, wie andere Staaten Cannabis handhaben. 

Denn die Frage nach der richtigen Drogenpolitik ist letztlich eine der Wirkung: Ziel ist es, die Volksgesundheit zu schützen und Kriminalität zurückzudrängen. Doch wie gut funktionieren Österreichs Gesetze? Wir haben mit Expertinnen und Experten über diese heikle Frage gesprochen.

Ein häufiger Streitpunkt in der Diskussion über das Suchtmittelgesetz ist, dass mitunter schon der Besitz geringer Mengen an illegalen Substanzen erhebliche Folgen haben kann – wie in einem bemerkenswerten Fall, den VICE in Salzburg recherchiert hat.