Diese Recherche ist in Zusammenarbeit mit der inklusiven Redaktion »andererseits« entstanden
Eine Schule für alle – das italienische Modell
Schon in der Schule werden Menschen mit Behinderungen in Österreich ausgeschlossen. Mehr als ein Drittel der Schüler·innen mit Behinderungen besucht hierzulande Sonderschulen. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Ein Blick nach Italien zeigt: Das müsste nicht so sein.
Dort wurden 1977 fast alle Sonderschulen abgeschafft. So gut wie alle Schüler·innen besuchen in Italien gemeinsame Schulen. Deshalb gilt das Land als internationales Vorbild für inklusive -Bildung. Laut einer Studie von 2009 gehen Menschen mit Behinderungen in Italien heute länger zur Schule als früher.
Außerdem haben 2014 die Ergebnisse einer Umfrage unter mehr als 3.000 Lehrer·innen in Italien gezeigt: In Klassen mit Schüler·innen mit Behinderungen werden vielfältige Lernmethoden eingesetzt. Das hilft auch Schüler·innen ohne Behinderungen.
Raus aus der Werkstätte? Ein deutscher Versuch
Die Trennung von Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen geht nach der Schule weiter. In Österreich und Deutschland arbeiten viele Menschen mit Behinderungen in sogenannten Werkstätten. Sie sind dort nicht angestellt. Deshalb bekommen sie keinen Lohn, sondern nur ein Taschengeld. Und sie schaffen es nur selten, von der Werkstätte in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wechseln. Denn es gibt kaum Programme, die dabei unterstützen.
In Deutschland wird seit einigen Jahren versucht, das zu ändern. Die Regierung hat 2018 das »Budget für Arbeit« eingeführt. Es ist für Menschen da, die Anspruch auf einen Platz in einer Werkstätte haben. Sie sollen dadurch leichter einen Job am allgemeinen Arbeitsmarkt bekommen. Der Staat übernimmt dabei bis zu drei Viertel vom Gehalt. Außerdem gibt es beim »Budget für -Arbeit« Geld für Unterstützung und Begleitung am Arbeitsplatz.
Es gibt auch in Österreich Förderungen für Firmen, die Menschen mit Behinderungen anstellen. Aber: Sie sind geringer und zeitlich begrenzt. Außerdem muss für jede Förderung ein eigener Antrag gestellt werden. Das deutsche »Budget für Arbeit« gibt es ohne zeitliche Begrenzung.
Eine Frage des guten Willens? In Kanada stehen gleiche Chancen im Gesetz
In Österreich sind Firmen nicht gesetzlich verpflichtet, eine Inklusions-Strategie zu haben. Das ist ein Plan, um Hürden für Menschen mit Behinderungen abzubauen. In unserer Recherche zur Inklusion in Unternehmen haben wir 94 Firmen und Organisationen gefragt, ob sie eine solche Strategie haben. Die Mehrheit hat diese Frage nicht beantwortet. Unter jenen, die geantwortet haben, hatte mehr als die Hälfte keine Inklusions-Strategie.
Ganz anders ist es in Kanada: Seit 1986 gibt es dort ein Gesetz für Chancengleichheit in der Arbeit. Es schreibt vor, dass bestimmte Unternehmen Pläne für mehr Inklusion machen müssen. Darin müssen sie etwa festlegen, was sie tun wollen, um mehr Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen. Das Gesetz sieht keine negativen Folgen für Arbeitgeber·innen vor, die ihre Pläne nicht umsetzen.
Aber Studien zeigen: So ein Gesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung. Bei den Unternehmen, für die das Gesetz gilt, werden mehr Menschen mit Behinderungen angestellt.
Selbstbestimmt – der schottische Weg
Damit sie arbeiten können, benötigen viele Menschen mit Behinderungen Unterstützung. Was genau jemand braucht, ist von Person zu Person unterschiedlich. In Österreich wird dabei aber oft nicht auf den einzelnen Menschen und seine Situation geschaut. Unterstützungen und Förderungen werden häufig aufgrund des Grads der Behinderung festgelegt. Er wird nach rein medizinischen Kriterien bestimmt.
Die Frage, die zu selten gestellt wird, ist: Was braucht die einzelne Person, damit sie gut am Leben und am Arbeitsmarkt teilhaben kann?
Schottland ist da weiter: Seit 2013 können Menschen, die einen Anspruch auf Unterstützung haben, um »Self-directed Support« ansuchen. Also um selbstbestimmte Unterstützung. Ein medizinischer Nachweis einer Behinderung ist dafür nicht notwendig. Grundsätzlich können also auch Menschen ohne Behinderungen diese Art von Unterstützung erhalten.
Dabei wird gemeinsam mit der jeweiligen Person festgestellt, was sie für ihr Leben braucht. Dann wird errechnet, wie viel Unterstützung die Person bekommt. Die Betroffenen haben dann ein Mitspracherecht bei der Entscheidung, wie das Geld ausgegeben werden soll.
Franz Wolfmayr ist Inklusions-Experte. Er war für den Europäischen Verband der Leistungs-Erbringer für Menschen mit Behinderungen tätig. Für ihn ist dieses »individuelle Bedürfnis-Konzept« eines der wenigen Modelle, die der UN-Behindertenrechts-Konvention entsprechen.